Hüter der Enigmatik

Ralf Michael Fischer spielt „Raum und Zeit im filmischen Œuvre von Stanley Kubrick“ gegen das Erzählen aus

Von Jean-Pierre PalmierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jean-Pierre Palmier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stanley Kubricks Filme zeichnen sich aus durch einen emotional indifferenten Erzählstil, symmetrische Handlungsmuster und eine forcierte Künstlichkeit der audiovisuellen Präsentation. Diese Ästhetik der Kälte dominiert seine Filme ab „2001: A Space Odyssey“ und trennt das Haupt- vom Frühwerk. Fischer charakterisiert, wie viele Kubrick-Interpreten vor ihm, das Hauptwerk als hermetisch, ästhetizistisch und narrativ inkohärent und führt dies auf die kontinuierliche Diskontinuität der räumlichen und zeitlichen Darstellung zurück. Die kunstgeschichtliche Fundierung seines Buchs ist dabei Fluch und Segen zugleich: Gründlich wird insbesondere die räumlich-architektonische Gestaltung von Kubricks Filmen untersucht. Während die Analyse der Raumdarstellung hilft, das eigenwillige Kameraverhalten und die typische szenische Ordnung der Filme zu erfassen, fällt die Untersuchung der Zeit in Kubricks Werk unsystematisch und heterogen aus.

Zum einen unterscheidet Fischer methodisch nicht Erzählzeit, erzählte Zeit und – bei Kubrick-Filmen der Beachtung wert – empfundene Zeit, was zu beliebigen Ergebnissen führt. Wer eine konzise Beschreibung der Darstellung oder Wirkung von Zeit bei Kubrick erwartet, wird in diesem Buch nicht fündig. Da Fischer sich konsequent weigert, die erzählten Geschichten handlungslogisch nachzuvollziehen, indem er zeitliche und örtliche Unbestimmtheiten gegen die narrative Logik ausspielt, bleibt die Bedeutung der Zeit für die Geschichten unklar – und wo die Geschichten wiederum eindeutige Hinweise auf die Bedeutung der Zeit liefern, wie am Ende von „2001: A Space Odyssey“ oder in „The Shining“, gerät dies dem Verfasser aus dem Blick.

Fischer versteht Kubrick zu programmatisch, wenn er dessen in Interviews geäußerte Vorliebe für ambige Kunstwerke, die ihre Rezipienten ratlos zurücklassen, ins Zentrum seiner Filmästhetik rückt. Kubricks Verfremdungstechniken erschweren oder modifizieren das Verständnis, aber verhindern es nicht notwendig und produzieren nicht notwendig Ambiguität. Das Spätwerk enthält viele selbstbezügliche Elemente, die den Filmstatus als Kunstwerk ständig ins Bewusstsein rufen. Aber erstens ist es nicht möglich, dass ein Film von Totschlag, Vergewaltigung, gesellschaftlicher Konditionierung oder von Krieg handelt, ohne moralische Diskurse zu kommunizieren; zweitens geht die narrative Logik keinesfalls verloren, wenn narrative Äußerungen auf die audiovisuelle Ebene übertragen werden.

Fischer möchte die Visualität – die Musik untersucht er nur am Rande, obwohl sie die Raumwirkung oft beeinflusst – gegen den narrativen Zusammenhalt ausspielen. Er erkennt richtig, dass Kubricks späte Filme konventionelles Filmerzählen und Sehgewohnheiten unterlaufen, aber er verkennt, dass verstärkt audiovisuell erzählt wird. Audiovisuelles Erzählen bedeutet nun nicht, dass nicht erzählt wird, sondern dass eben medienspezifisch, also spezifisch filmisch erzählt wird, indem inhaltliche Informationen durch die Bildsprache, die Montage oder die Musik vermittelt werden. Fischer sieht den Zusammenhalt jeder Geschichte stattdessen in einer motivischen und formalen Kohärenz; so handle etwa „The Shining“ von einer labyrinthischen Kopräsenz der Zeiten. In „The Shining“ ist nun aber die Bedeutung der Zeit gerade aus der Geschichte ableitbar, die audiovisuell erzählt wird: Zum Beispiel wird szenisch verdeutlicht, wie das Hotel die Hauptfigur Jack allmählich einverleibt. Die Zeit ist nicht einfach labyrinthisch, sondern hat eine konkrete fantastische Bedeutung. Die Handlung ist in „The Shining“ so eindeutig wie in den übrigen Filmen.

Das Buch überzeugt dort, wo Fischer scharfsichtig die kunstgeschichtliche Methodik in die Filmanalyse integriert: bei der Untersuchung des filmischen Raums. Beeindruckend ist das Kapitel zu „Barry Lyndon“, in dem der Verfasser zusätzlich sein kunstgeschichtliches Wissen ausspielt und aufzeigt, welche Gemälde und Stile die statischen Bilder des Films beeinflusst haben, wobei die Erklärungen durch Abbildungen der Originale veranschaulicht werden. Auch die Ausführungen zur Raumdarstellung in den übrigen Filmen überzeugen. Allerdings orientiert sich Fischer zu wenig an den Geschichten und der Erzählstruktur. Wenn sich mangelnde Sympathie auch im befremdlichen Setdesign ausdrückt oder symmetrische und iterative Handlungseinheiten sich in szenischen Symmetrien spiegeln, bleibt dies beispielsweise unerwähnt.

Da die narrative Logik und der Musikeinsatz ausgeblendet werden, führen die detaillierten Raumanalysen nicht zu überzeugenden Filminterpretationen. Dies gilt allerdings nur für Kubricks späte Filme. Die Analysen der frühen Filme, die noch nicht von Kubricks typischer Ästhetik bestimmt sind, sind die gründlichsten, die bisher vorliegen, und führen zu überzeugenden Interpretationen. Fischer deutet Kubricks Frühwerk inhaltlich erschöpfend aus, da er hier noch nicht von einem Widerspruch zwischen audiovisueller Gestaltung und narrativer Logik ausgeht, sondern konsequent die inhaltliche Bedeutung der Inszenierung offenlegt, indem er etwa zeigt, inwiefern der Raum in „Paths of Glory“ oder „Dr. Strangelove“ oder die Zeit in „The Killing“ für die Geschichte konstitutiv ist. Erfreulich ist auch, dass Fischer mit einer Analyse von Kubricks Fotografien beginnt und an ihnen Stilmerkmale herausarbeitet, die in den frühen Filmen wiederkehren. Außerdem kennzeichnet er die Selbstreflexivität und -referentialität der frühen Filme, die im Spätwerk radikalisiert und konstitutiver Bestandteil von Kubricks Ästhetik wird.

Fischer untersucht die frühen Filme auf etwas mehr als 100 Seiten nach ausführlichen methodischen Erläuterungen. „2001: A Space Odyssey“ wird ähnlich umfangreich analysiert, während die Untersuchungen der übrigen späten Filme je halb so lang ausfallen. Am Ende findet sich als Exkurs eine Analyse von Kubricks an Steven Spielberg abgetretenem Projekt „Artificial Intelligence: A.I.“. Sequenzprotokolle und Filmstills runden das Buch ab. Die Bilder sind DVD-Screenshots, daher klein und außerdem schwarz-weiß; sie sind aber völlig ausreichend, um die Argumentation zu veranschaulichen, und betonen darüber hinaus den wissenschaftlichen Charakter des Buches – der stolze Preis lässt nämlich eher einen prächtigen Bildband erwarten.

Das Buch sei insbesondere jenen ans Herz gelegt, die sich für fundierte Analysen der frühen Kubrick-Filme interessieren, aber auch solchen Lesern, die sich für die Untersuchung des Raums im Spätwerk Kubricks interessieren und gewillt sind, dem hermetisierenden Vorgehen des Verfassers mit einem kritischen Bewusstsein für Medienspezifik zu begegnen.

Titelbild

Ralf M. Fischer: Raum und Zeit im filmischen Oeuvre von Stanley Kubrick.
Gebr. Mann Verlag, Berlin 2009.
627 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783786125983

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch