So bitte nicht!

Slavko Kacunko verfasst eine kaum lesbare Kunst- und Kulturgeschichte des Spiegels

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer ein Buch im Gegenwert von einem Dutzend Flaschen anständigen Weißweins in der Hand hält, darf wohl etwas Solides erwarten, und diese Erwartung wird vom vorliegenden dicken Band aus dem Wilhelm Fink Verlag bedauerlicherweise nicht erfüllt. Die knapp 700, zum Teil winzig kleinen Schwarzweißabbildungen sind zwar zum Zweck der Illustration des Textes tauglich, bereiten aber dem Auge kaum einmal tröstendes Wohlgefallen.

Das eigentliche Ärgernis jedoch ist, dass das Werk des 1964 in Kroatien geborenen Kunsthistorikers und Medienwissenschaftlers Slavko Kacunko offenbar völlig unlektoriert geblieben ist. Man kennt das: Verlage verlangen vom Autor die Beteiligung an den Druckkosten sowie eine „reprofähige Vorlage“ und scheren sich dann kaum darum, ob das, was in den wissenschaftlichen Diskurs mündet, überhaupt diskursfähig ist.

Hinter dieser Sorglosigkeit mag die Zuversicht stecken, der große Magen der Wissenschaftsgemeinde werde auch diese Zufuhr noch irgendwie verdauen. Doch unentschuldbar ist es, in Kauf zu nehmen, dass leibhaftige Menschen durch dieses Gebaren geschädigt werden: erstens der Kunde, der eine vom Produzenten ungeprüfte Ware geliefert bekommt; und zweitens der Autor, den man schutzlos der Wissenschaftsöffentlichkeit ausliefert.

Schon eine erste, nicht einmal sonderlich tiefgehende Lektüre lässt den Verdacht aufkommen, dass Kacunko, der seine Doktorarbeit über den Videokünstler Marcel Odenbach geschrieben hatte und auf dem Gebiet der Closed-Circuit-Videoinstallationen als herausragender Fachmann gilt, mit dem Vorhaben, im Kontext „einer Kulturgeschichte des Abendlandes“ eine „Kunst- und Kulturgeschichte des Spiegels“ zu entwerfen, überfordert gewesen ist.

Jedenfalls gibt es in seinem Band eine Reihe von Passagen, die dem Rezensenten völlig unverständlich waren und ihm auf die Dauer die Lektüre derart verleidet haben, dass er sich außerstande sah, eine konventionelle Buchbesprechung zu erarbeiten. Er verpflichtet sich aber hiermit, eine solche anlässlich einer zweiten Auflage, in der dann die gröbsten Unstimmigkeiten und die schlimmsten Katastrophen eliminiert sind, gegebenenfalls nachzureichen. Vielleicht entschließt sich der Verlag ja auch, die vorliegende erste Auflage einzustampfen.

Im folgenden sei eine – erweiterbare – Kollektion von problematischen Stellen in der Reihenfolge ihres Auftretens im Buch geliefert. Dem Leser sei das Urteil darüber selbst überlassen, ob Resignation gerechtfertigt war:

„Die wissenschaftliche Fokussierung auf die Paradigmenwechsel und ihre Personifikationen brachte aber nicht immer medialen, kunst- oder kulturhistorischen Erkenntnisgewinn mit sich. Außerdem ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass für die beschleunigenden Paradigmenwechsel auch ‚das Auflösungsvermögen unserer Apparaturen für historische Wahrnehmung daran beteiligt‘ ist.“

„Aus dieser Überzeugung heraus ergab sich auch das Unverwünschte, das dem Thema scheinbar anhaftet.“

„P. Oberländer zufolge gäbe es keine Nachweise für Metallspiegel in der predinastischen Periode.“

„Die Dialektik der Großen Muttergottheit und des sterblich-wiederauferstehenden Vegetationsgottes ist bis heute in den hunderten von Tropfsteinhöhlen mit ihren schlanken tropfsteineevozierenden Figuren auf Kreta nachvollziehbar.“

„Hier sei schon einmal auf die lebensspendende Rolle des Spiegels für den Dionysos-Zagreus hingewiesen werden, auf die noch eingegangen werden soll […]“.

„Die Quellen hierzu sind in den einschlägigen mythologischen Lexika zu finden.“

„Im Unterschied zum minoischen Architekten Daidalos gingen Diodor und Palaiphatos von einem Daidalos aus, der seinen Menschenbildern einleuchtenden Blick gegeben haben sollte […]“.

„Das Reflektieren des Verhältnisses zwischen Philosophie und Mythologie ist ohne einen starken Bezug auf das Denken Platons nicht denkbar. Seine Ideenlehre, die eine zentrale Bedeutung in seiner Philosophie darstellt […]“.

„Mit seinen Metamorphosen schuf Ovid (43 v. Chr. bis 18 n. Chr.) die nach der Bibel und dem Homer-Epos zweitwichtigste Hauptquelle der abendländischen Bildkunst.“

„Dankbarerweise zeugt an der Stelle die allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, wie der Ausdruck imago hier die Bedeutungen von eikon übernimmt und weitere hinzugewinnt.“

„Der neoplatonische Philosoph referierte über die Teleskopen in seinem Leben des Pitagoras.“

„Schon bei der von Platon vollzogenen Spaltung zwischen Dichtern, Rhetorikern und Philosophen fußte der Normativismus auf den ästhetischen Fragen.“

„Prester John, der christliche Potentat von Indien beschreibt einen magischen Spiegel in einem Brief an den byzantinischen Kaiser Manual 1162, der in der Lage sein sollte […]“.

„Bei der Produktion von farbigen Glasfenstern wurde die Farbe mit Hilfe durch Addition von Metalloxiden an die Basismixtur des Glases (Sand, Soda/Natriumkarbonat und Kalk) erreicht.“

„Die maßgebenden Philosophen des 17. Jahrhunderts wie Hobbes, Descartes und Spinosa erklärten gleichzeitig […]“.

„Jan van Eyck gilt mit gemalten Wirklichkeitsbeschreibungen seiner Altare und mit seinen virtuosen ‚katoptrischen‘ Kabinettstücken zu Recht als Wegbereiter der modernen Landschafts-, Interieur- und Stilllebenmalerei.“

„Die Zusammenhänge der holländischen Einflüsse auf die deutschen Spiegelkabinette sind in der zitierten Studie von H. D. Lohneis so weit ausreichend dargelegt worden, dass an dieser Stelle der Hinweis auf die dort vorgestellten Veröffentlichungen von Paul Decker ausreichen sollte.“

„Die Interpenetration der Forschung und Vision, aber auch die Forschung zu der Vision mit unterschiedlichen Forschungskonzepten setzte jedenfalls eine ‚gesunde‘ Distanz von ‚ikonomanischen‘ Positionen, die von Kepler bis Locke eine wichtige Rolle gespielt haben.“

„Goethes Tod (1832) fällt zusammen mit dem Anfang der Regierung von Königin Victoria (1819-1901), die aus dem Hause Hannover stammt und fünf Jahre später auch den englischen Thron bestieg.“

„Seine künstlerische Position hat wohl am besten Burne-Jones selbst geschildert mit dem Satz: ‚Je mehr materialistischer die Wissenschaft wird, desto mehr Engel werde ich malen!‘“

„Seiner [Lewis Carrolls] Novelle Alice’s Adventures in Wonderland […]“.

„Ein deutscher Philologe namens Friedrich Nietzsche (1844-1900) legte zur gleichen Zeit mit seinem ersten Hauptwerk Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872) ebenfalls eine bis dahin verborgene Schicht der abendländischen Kultur frei […]“.

„Die zunehmende Spezialisierung führte auch zur Ausbildung verschiedener Zweige des Handwerkes, die voneinander getrennt werden mussten. Die neuartigen Schulen, Vereine und Museen sollten der neuen Situation entgegenwirken.“

„Zu den ‚Kränkungen‘ des physikalischen, künstlerischen und philologisch-philosophischen Weltbildes kam zu Anfang des 20. Jahrhunderts die These der psychoanalytischen Kulturtheorie von Siegmund Freund (1856-1939) hinzu […]“.

„Hierzu wäre mit J. Schickel zu beantworten: […]“.

„Die Gleichzeitigkeit der ‚gleichen‘ Objekte an ‚unterschiedlichen‘ Orten, wie sie aus der Live-Fernsehübertragung bekannt ist, bedeute den Abschied von der principia individuationis.“

„In diesem Abschnitt konnten nur die basischen Beispiele angeführt werden, die in den darauffolgenden fünf Kategorien […]“.

„Wenn ich als Wissenschaftler behaupten würde, jede Suche erfolgreich abschließen zu können, dann leidete ich nicht an Größenwahn, sondern ich bestätigte gelegentlich die Intentionalität meiner Suche inklusive meiner eigenen, auch utilitaristischen Parteinahme und stellte fest, dass die Lösung bereits im Problem enthalten ist.“

„Genauso wie damals Kurt Badt bei der vermerschen Allegorie der Malerei vom Objekt zum Objekt beinahe stolperte […]“.

„D. Mersch stimme ich vorläufig zu, wenn er der Kunst programmatisch ihre Daseinsberechtigung einräumt.“

„Der Spiegel und nicht sein Gegenüber, das metaphorisierte und hypertrophierte Subjekt (tot oder lebendig) schiebt sich zwischen ‚Bild’ und ‚Wirklichkeit’. Das Subjekt ist nur ‚dabei’ und dieses Dabeisein bedarf keiner Zuschreibung von übersinnlichen ‚Einbildungskräften‘, sondern gelegentlich seiner materiellen oder medialen Präsenz.“

Soweit die Dokumentation. Sicherlich, jede einzelne dieser Misslungenheiten ließe sich eventuell entschuldigen, doch in ihrer Fülle beschädigen sie den Text und lassen ihn unbrauchbar werden; vor allem deshalb, weil der Leser auf die Dauer das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Mitgeteilten verliert. Am Ende weiß man nicht mehr, ob der Autor das Schreiben nicht gelernt oder ob man selbst das Lesen verlernt hat.

„Diese Arbeit konnte auch von denjenigen Studien zur Kulturgeschichte des Spiegels profitieren, die vor allem den Spiegel als Metapher und Modell, als Symbol und Allegorie behandelten“, schreibt Kacunko, und das ist in gewisser Weise sehr wahr. Die folgende Stelle ist von außergewöhnlich klarer Lesbarkeit, weil sie aus Gustav Friedrich Hartlaubs „Zauber des Spiegels“ (1951), ohne als Zitat kenntlich gemacht zu sein, wörtlich, wenngleich ein wenig nachlässig, abgeschrieben ist; lediglich das Wörtchen „dort“ ist von Kacunko selbst: „Als früheste eigentliche Vanitasdarstelung [!] des Mittelalters in weiblicher Gestalt gilt heute eine kleine Gruppe über einer Wange des Kölner Domgestühls von etwa 1330. Zwei nackte Frauen hocken dort wie zusammengewachsen Rücken an Rücken: die eine beschaut sich im Spiegel, der anderen kommt ein Blutstrom aus einer Leibeswunde. Solche und ähnliche Darstellungen bilden wohl den Übergang von der streng mittelalterlichen ‚Frau Welt‘ zu den Personifikationen der ‚Eitelkeit‘.“

Vanitas! Vanitas vanitatum! Kacunkos Umgang mit den Quellen ist wirklich alles andere als vorbildlich und gelegentlich von einer solch kenntnislosen, eitlen Schludrigkeit, dass ein verzweifelter Griff an den Kopf als einzige Rezipientenreaktion bleibt. Der Apostel Paulus – er „soll der erste und wichtigste Theologe in der Geschichte des Christentums gewesen sein“ – wird aus dem Internet in englischer Übersetzung, leider aber mit falschem Beleg zitiert („1 Cor 13:12“ statt 2 Kor 3,18), während die beigegebene Stelle aus dem griechischen Neuen Testament zum Beleg passt, nicht aber zur englischen Übersetzung. Verwirrung über Verwirrung in einer Sache, die, so ich Kacunko korrekt verstehe, doch höchst wichtig ist: „Es sind gerade die für die jeglichen Interpretationen besonders ertragsreiche ovidsche Narziss-Sage einerseits und das angebliche Bilderverbot Moses’ sowie die Korinterbriefe Paulus’ andererseits diejenigen Stellen gewesen, auf die sich die Bilderexegese stützte und nach wie vor stützt.“

Zur Klarstellung: 1 Kor 13,12 lautet (gemäß der „Einheitsübersetzung“): „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ Und 2 Kor 3,18: „Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.“

Wahrlich, Kacunkos Leitgedanke, der Spiegel sei ein kulturstiftendes Medium sui generis und medientheoretisch nicht ohne weiteres der ohnehin problematischen Kategorie „Bild“ zuzuschlagen, hätte es verdient gehabt, in eine würdigere Form gegossen zu werden. So aber ist die Absicht, die zeitgenössische Spiegel-ähnliche Closed-Circuit-Videokunst kultur- und medientheoretisch zu nobilitieren, indem man ihr den Status der Medialität beziehungsweise Metamedialität („neben Bild, Schrift und Zahl“) attestiert, nicht an den Mann/an die Frau zu bringen. Schade.

Titelbild

Slavko Kacunko: Spiegel - Medium - Kunst. Zur Geschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes.
Wilhelm Fink Verlag, München 2010.
820 Seiten, 119,00 EUR.
ISBN-13: 9783770550074

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