Eine „Reflektorgestalt moderner Zwiespältigkeit“?

Renate Staufs Plädoyer für Heinrich Heines Modernität

Von Thomas BoykenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Boyken

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe „Klassiker Lektüren“ des Erich Schmidt Verlags ist der 13. Band veröffentlicht worden: Renate Stauf widmet sich Heinrich Heines Gedichten und Prosa. Stauf, die sich als ausgewiesene Heine-Expertin schon mehrfach mit dem Werk des „unbequemen Klassikers“ beschäftigt hat, erläutert im Vorwort, dass es sich bei ihrem Buch um eine „systematische Einführung in die Dichtung, Essayistik und Publizistik Heinrich Heines“ handelte. Eine zielgerichtete Vorstellung der genannten Textsorten ist gerade für Studienanfänger hilfreich und somit nicht nur ein ambitioniertes Ziel, sondern auch wünschenswert. So ist die Einführung von Joseph A. Kruse (2005) eher biografisch orientiert, und die von Bernd Kortländer (2003) kann die nach 2003 veröffentlichten Forschungsarbeiten nicht erfassen. Staufs Vorhaben entspricht damit der Zielsetzung der Reihe, die sich als Handbuch für Interessierte und Studierende der germanistischen Literaturwissenschaft versteht und in der bereits Einführungen zu Friedrich Schillers Dramen, Franz Kafkas Romanen oder Wolframs von Eschenbach „Parzival“ erschienen sind. Nun also Heines Gedichte und Prosa.

Dass die Verfasserin „der kaum noch überschaubaren Bibliotheken der Heine-Philologie eine zwar respektvolle, aber doch eher sparsame Referenz [sic!]“ erweisen will, ist bedauerlich. Weiterhin relativiert die Einleitung den Anspruch, den Vorwort und Klappentext erwecken: „Mein Anliegen, insbesondere Erstlesern einen Zugang zu Heines Werk zu eröffnen, versteht sich als Anregung zu einer Lektüre, die den Denkbewegungen des Dichters auf dem Weg durch seine Textlandschaften im Sinne einer Entdeckungsreise und Spurensuche folgt“.

Die Monografie verfolgt jenseits der detektivischen Exkursion durch Heines Texte zudem eine zweite Zielsetzung: Neben Vorstellung von Gedichten und Prosa will Stauf einen inneren Zusammenhang der Schriften Heines aufzeigen. Damit erörtert die Autorin in Abgrenzung zu den bestehenden Heine-Einführungen einen eigenen Ansatz, der die spezifische Modernität von Heines „Schreibbewegungen“ ins Zentrum stellt. Die „Erstleser“, auf die Stauf primär zielt, scheinen aber nicht Studienanfänger zu sein. Um sich in der Studie zurechtzufinden, bedarf es nämlich einer gehörigen Portion methodischen Wissens. Zur Eignung später mehr; zuerst werden Aufbau, Inhalt und Methodik des Buches näher erläutert.

Stauf gliedert ihr Buch in acht Kapitel, die sie mit plakativen Schlagworten versieht. „Poesie des Kampfes“ dient als Charakterisierung des zweiten Gedichtbands und als Überschrift des betreffenden Kapitels, unter „Foyer der Revolution“ werden die „Französischen Zustände“ gefasst und Heines Romanfragmente werden im Kapitel „Roman-Labyrinthe“ verhandelt. Die Orientierung, sofern spezielle Texte interessieren, wird durch ein solches Verfahren erschwert. Die Autorin verzichtet weiterhin auf eine starre Kapitelgliederung, die durch wiederkehrende Überschriften den Text unterteilen würde. Neben der Lyrik setzt sich Stauf sowohl mit den „Reisebildern“, den journalistischen und essayistischen Texten als auch mit den Romanfragmenten und den autobiografischen Schriften auseinander.

Stauf legt mit ihrem Buch einen Forschungsbeitrag vor, der die Modernität des Heine’schen Werks herausstellt und betont. Der vermeintlich strukturierte formale Aufbau erweist sich hingegen als allzu oberflächlich. Der verschachtelte Satzbau erschwert zudem den Verstehensprozess. Ihre Argumentation changiert dabei zwischen sozial-historischer Herleitung und assoziativer Verbindung der Inhalte. Methodisch orientiert sich die Verfasserin an dekonstruktivistischen Theorieansätzen, ohne dies dezidiert zu benennen. Die „poetische Zeitgenossenschaft“, die als Verweigerung der literarischen Zeitlosigkeit verstanden wird, dient Stauf hierfür als Ausgangspunkt ihrer Argumentation, um eine moderne „Zwiespältigkeit“ herauszustellen.

Das Textkorpus umfasst die bedeutenden essayistischen und epischen Texte Heines; der Lyrik wird hingegen lediglich ein Kapitel eingeräumt und angesichts dieser Proportionierung stellt sich die Frage, ob der Inhalt des Buches hält, was der Untertitel verspricht: Denn die Gedichte werden nur auf 28 Seiten behandelt (wenn die Versepen hinzugezählt werden, sind es immerhin 40 von 261 Seiten). Einzelne Gedichte können folglich nur kursorisch besprochen werden. Ohnehin versteht Stauf Heines lyrische Produktion recht kategorisch als Auseinandersetzung mit und Destruierung der Romantik. Dabei zeichnet sie eine Entwicklung vom Dichter der unglücklichen Liebe („Das Buch der Lieder“) über den Propheten der „Emanzipation der Leiber und der Köpfe“ („Neue Gedichte“) zum Geschichtspessimisten („Romanzero“) – womit Stauf bei ihrem eigentlichen Thema ist, der „Weltgeschichte als Text“ und der Emanzipation des Subjekts von der Geschichte. Diese These wird anhand der „Reisebilder“ weiterverfolgt und mit den Schriften über Frankreich und Deutschland vertieft, die Stauf als didaktische Texte begreift. Der Emanzipationsgedanke sei dabei die Leitidee in Heines Schreiben, die die einzelnen Texte und Textsorten miteinander verknüpft. Leider geht Stauf nicht auf die unterschiedlichen Textsorten und auf daraus resultierende Unterschiede ein.

Heine sei Vermittler dieses Emanzipationsgedankens, der sich aus den unlösbaren Problemen der prinzipiell offenen Lebenserfahrungen des modernen Subjekts ergebe. Die Zwiespältigkeit des Dichters zeigt sich dann auch in Staufs Analyse der Versepen: Heine als „europäischer Visionär“ und „deutscher Patriot“, der die Autonomie der Kunst propagiere und sich gleichzeitig politisch positioniere. Dieses moderne Verfahren werde zudem an den Romanfragmenten sichtbar, die „avantgardistische Erzählverfahren des 20. Jahrhunderts“ antizipieren. Als Fixierung der Modernität dient die Herausarbeitung von Heines „Mythopoetik“: „An seinem ironisch funkelnden Mythentravestien lässt sich seismographisch die Befindlichkeit des Künstlers in der beginnenden Moderne ablesen. Das individuell und kollektiv Verdrängte kehrt wieder in den halb vergessenen Träumen und in der zerrissenen Identität“ Heines. Hiermit korrespondiert das „Enthüllen und Verhüllen“ der autobiografischen Texte, die eine „Polyphonie des Ich“ evozieren. In der Erkenntnis der Auflösung des Subjekts wird der genuin moderne Charakter von Heines Texten identifiziert. Heines Schreiben sei dabei eine „assoziative Bewegung“, die „radikal Weltgeschichte mit Individualgeschichte amalgamiert und sie der Herrschaft der Kontingenz“ unterwerfe.

Stauf plädiert dafür, Heines Texte vor allem unter dem Blickwinkel einer „Figur der Übertragung“ zu lesen. Die innere Einheit von Heines Leben und Werk werde von diesem selbst inszeniert, um die inkohärenten Lebensstationen eines zwiespältigen Menschen als gleichwertige Etappen des Lebens darzustellen. Für Stauf offenbart Heines Gesamtwerk einen „ausgeprägt autobiographischen Charakter“. Das memorierte Erlebnis wird in die Konstitution des Autor-Ich implementiert und tritt als historisches Faktum zurück. Heines Schriften seien somit ein Zeichen der Kontingenzerfahrung und spiegelten auf literarischer Ebene die Versuche, gleichzeitig subjektive und soziale Kohärenz zu erzeugen. Dies sind allesamt anregende Erkenntnisse, die Stauf nahe an den Texten herausarbeitet.

Wie ist es aber um das zuerst genannte Ziel, „Erstlesern den Zugang zu Heines Textwelten“ zu ermöglichen, bestellt? Ist das Buch als Einführungsbuch in Gedichte und Prosa Heines geeignet? Der Aufbau der Kapitel scheint auf den ersten Blick systematisch und einem solchen Vorhaben angemessen. Zu Beginn jedes Kapitels steht in der Regel ein Überblick zur Editionsgeschichte der behandelten Texte. Innerhalb des Fließtexts werden zentrale Begriffe und Wendungen im Fettdruck angeführt, die dem Leser eine Orientierung bieten sollen. Allerdings wirkt die Auswahl recht willkürlich und erschwert eher das Lesen (das Vorgehen wird fragwürdig, wenn folgende Passage herausgehoben wird: „Verfahren eines rückblickend aus der Selbstbeobachtung heraus interpretierenden Erinnerns“. Was sollen sich „Erstleser“ denn hier merken?).

Am Ende jedes Kapitels steht jeweils eine Zusammenfassung der zentralen Aspekte. Daran anschließend folgt eine Liste der weiterführenden Literatur. Diese Sammlung scheint lediglich die Zusammenstellung der in dem jeweiligen Kapitel verwendeten Texte zu sein; anders lässt sich die Nennung von Roland Barthes‘ „Die helle Kammer“, in der sich der französische Theoretiker zwar auf Marcel Proust, aber nicht auf Heinrich Heine bezieht, nicht erklären. Ohnehin ist der Umgang mit der Forschungsliteratur wenig konsequent. Einerseits thematisiert Stauf relativ ausführlich unterschiedliche Forschungspositionen (wobei sie immerfort von der Heine-Forschung spricht, ohne zu differenzieren). Andererseits räumt sie in der Besprechung von Heines „Börne“-Schrift zwar ein, dass „zahlreiche Studien“ das „Verwickelte und konfliktreiche Verhältnis“ von Ludwig Börne und Heine behandeln, unterlässt es aber, diese Studien anzuführen. Wie soll der neugierige „Erstleser“, der sich womöglich für dieses einflussreiche Verhältnis interessiert, einen „zielgeleiteten Einstieg“ in diese Thematik finden?

Die durchaus aufschlussreichen historischen Kontextualisierungen eröffnen ein lebendiges Tableau von Heines Lebenszeit. Allerdings erläutert die Verfasserin einige prominent angeführte Ereignisse und Begriffe nicht. Eine chronologische Übersicht, die die ausführlichen Verweise auf Heines Leben zusammenfasst, wie es in der Einführung von Ralf Schnell (1996) zu finden ist, wäre für ein einführendes Werk sicherlich hilfreich gewesen.

Während das Werk- und Namenregister den Zugriff sehr wohl erleichtert, irritiert das Sachregister durch eine Überfülle an Begriffen. Unter dem Eintrag „Liebe“ stehen 30 Komposita oder Differenzierungen. Zwar ist „Liebe“ für Heine sicherlich ein zentrales Thema, trotzdem ist die im Sachregister eröffnete Unterscheidung zwischen „Liebeskonzept“ und „Liebeskonzeption“ nicht plausibel. Ebenso erstaunlich sind die stilistischen und formalen Nachlässigkeiten. Die Autorin verwendet Begriffe, die in einer Einführung erklärt werden müssten („Emeute“ oder „ästhetisches Simulacrum“), stellt unterschiedliche Schreibweisen nebeneinander („Alter Ego“, „alter ego“ und „Alter ego“) und spricht von den „Zeilen dieser Strophe“, meint jedoch die Verse. Irritierend sind auch einige Versäumnisse in der Korrektur („Literaturschichte“, gemeint ist Literaturgeschichte) und Fehler in den Heine-Zitaten; hier schleichen sich Tippfehler ein („dennFoch“).

Studienanfänger, die sich eine Orientierung in der Heine-Forschung erhoffen, mögen prüfen, ob ihre Informationsbedürfnisse mit diesem Buch erfüllt werden. Als Beitrag zur Heine-Forschung, die sich in die bisherigen Studien der Autorin einreiht, ist die Monografie zweifellos lesenswert. Ein strukturierter Zugang in die „sehr umfangreiche Heine-Forschung“, wie es im Klappentext angekündigt wird, ist das Buch jedoch nicht. Warum es in der Reihe „Klassiker Lektüren“ veröffentlicht wurde, bleibt somit offen.

Titelbild

Renate Stauf: Heinrich Heine. Gedichte und Prosa.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2010.
261 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783503122202

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