Erkundungen im postmodernen Universum

Ein Sammelband von Andrea Hübener, Jörg Paulus und Renate Stauf erkundet die „umstrittene Postmoderne“ in unterschiedlichen Disziplinen

Von Christine HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Sammelband trägt den programmatischen Titel „Umstrittene Postmoderne“. Dies ist bereits ein deutlicher Hinweis auf die Dynamik, die diesem schillernden Begriff eigen ist – und wäre eine eindeutig definierte und ,unumstrittene‘ Postmoderne überhaupt denkbar? Ist doch, wie die Herausgeber im Vorwort feststellen, „die Unmöglichkeit einer eindeutigen Definition der Postmoderne zugleich ihre einzig mögliche Definition“.

Das Spektrum der Beiträge dieses Sammelbandes, der die Vorlesungen einer 2005-2006 an der Technischen Universität Braunschweig abgehaltenen Ringvorlesung über „Postmoderne und literarische Gegenwart“ bündelt, reicht von der Literatur über die Architektur, die Musik, das Museum und das Theater bis hin zur Philosophie, Soziologie und Psychoanalyse. Aber nicht nur wissenschaftliche Disziplinen und Denker verschiedenster Provenienz begegnen einander in diesem Band, auch Literatur und Wissenschaft kommen „ins Gespräch“: So erkunden die Schriftsteller Alban Nikolai Herbst und Klaus Modick Spuren der Postmoderne in ihrem eigenen Schreiben.

Eine kurze Einführung der Herausgeber erläutert die Blickrichtungen des Bandes. Mit dem Begriff der Postmoderne ist hier ein Denken gemeint, das „Mehrdeutigkeit zulässt“ und den Verlust der alten Sicherheiten akzeptiert, ohne neue Ordnungen zu etablieren. Wie Carsten Rohde in seinem Beitrag anmerkt, zeigt die Vorsilbe ,post‘ die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ an, bezieht sich doch die Postmoderne einerseits auf die Moderne (Postmoderne) und setzt sich andererseits davon ab (Postmoderne). Eine klare Trennlinie zwischen Moderne und Postmoderne ist nicht zu ziehen, denn die Postmoderne bildet sowohl eine Gegenbewegung zur Tradition der Moderne als auch deren Fortführung „mit weitaus radikaleren Mitteln“. Die Beiträger verzichten dann auch weitgehend darauf, definitorische Abgrenzungen zwischen Moderne und Postmoderne fest zu schreiben, wenn auch die zeitliche Situierung beziehungsweise das (ebenfalls umstrittene) ,Ende‘ der Postmoderne immer wieder angesprochen werden.

Während im ersten Abschnitt verschiedene Disziplinen zu Wort kommen, sind die folgenden beiden Abschnitte und damit der Großteil des Bandes der Literatur gewidmet. Untersucht werden unter anderem Jacques Lacans Poe-Lektüre, Bedeutungsstrukturen der Stadt bei Italo Calvino und Honoré de Balzac sowie postmoderne Strömungen in der britischen Gegenwartsliteratur. Es wird nach der „Genealogie postmodernen Schreibens“, nach dem „historischen Erzähler“, nach „selbstreflexivem Erinnern“ und der Beziehung zwischen „postmoderner Beliebigkeit“ und Engagement gefragt, wobei Werke von George Perec, Vladimir Nabokov, Walter Kempowski, Michel Houellebecq, Gabriel García Márquez, Andrzej Stasiuk, Lázló Márton, Philip Roth, Florian Illies und Uwe Timm unter die Lupe genommen werden.

Der Reigen wird eröffnet mit einem fiktiven Gespräch zwischen Lessing und Schlegel, in dem die Postmoderne aus dem Blickwinkel des 18. Jahrhunderts betrachtet wird. Dieser geistreiche Dialog aus der Feder Renate Staufs entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine gelungene Collage aus mehr oder weniger wörtlichen Zitaten prominenter Vertreter der Postmoderne. Eine umfangreiche Bibliografie listet die Quellen auf. Der erste Beitrag ist also im wahrsten Sinne „ein Mosaik aus anderen Texten“ und führt dem Leser sowohl inhaltlich als auch stilistisch gekonnt und pointiert postmoderne Prinzipien vor Augen. Die beiden Philosophen kommen in ihrem Disput zu keinem Ergebnis und ,verschieben‘ daher ihre Debatte auf einen späteren Zeitpunkt: „Vertagen wir unsere Kontroverse“. In Anlehnung an Jacques Derrida wird hier die ,différance‘ wörtlich genommen und im Dialog ,zur Aufführung gebracht‘.

Exemplarisch seien zwei weitere Beiträge herausgegriffen: Sonja Neef untersucht in ihrem Beitrag ein „Textmonument der Erinnerungskultur“: das Tagebuch der Anne Frank, gespiegelt in Jessica Durlachers Erinnerungsroman „Die Tochter“. Sie thematisiert nicht nur die intertextuelle Beziehung der Texte, sondern nimmt den Leser mit ins Anne-Frank-Haus in Amsterdam, einem Ort der Erinnerungskultur par excellence. Das Hinterhaus ist zugleich der Ort, an dem Anne Franks Tagebuch geschrieben wurde, Schauplatz von Durlachers Roman, als auch real bestehende Gedenkstätte. Annes Tagebuch wird hier in einer Vitrine aufgeschlagen und gut beleuchtet zur Schau gestellt, und doch zugleich auch dem Blick entzogen, denn nur die eine aufgeschlagene Seite ist lesbar. Der Abschiedsbrief eines Mitbewohners hingegen steht im Dunkeln und wird von einem erklärenden Text überdeckt; dieser unlesbare Text wirkt somit als Bild. An der Unterseite der Vitrine ist ein Spiegel angebracht ist, so dass der Betrachter auch die Außenseite des Buches sehen kann – und darin zugleich auch sich selbst reflektiert sieht. Auch hier geht es also um Performanz: „Postmoderne Texte sind, namentlich als Erinnerungstexte, Texte, die sagen, was sie tun“, so die Herausgeber in ihrer Einleitung. Sonja Neef verdeutlicht in ihrem Beitrag, auf welche Weise Zeigen und Verbergen in diesem Gedenkraum ineinander greifen und sich ergänzen, um das Nichtsagbare spürbar werden zu lassen. Bild und Text, Sichtbares und Unsichtbares oszillieren an ein und derselben Stelle und beunruhigen den Betrachter, der ins ,Erzählte‘ hineingezogen, daran beteiligt wird. Vielleicht ist dies die einzig mögliche Art, um der Opfer des Holocaust zu gedenken.

In einem weiteren Beitrag illustriert Carsten Rohde Kriterien der Postmoderne an Hand von Patrick Süskinds „Parfüm“ und Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“. Er zeigt, dass es in der Postmoderne nicht „um ein – modernistisches – Entweder-Oder“, sondern „um ein – echt postmodernes – Sowohl-als-Auch“ geht. In diesem Spiel mit Worten, Bedeutungen, Genres und Leseerwartungen darf sogar auch wieder erzählt werden.

Der Band bietet erhellende Einblicke in das Phänomen der Postmoderne aus verschiedenen disziplinären Perspektiven, wobei der überwiegende Teil der Beiträge aus literaturwissenschaftlichen Analysen besteht, während die Perspektiven der Musik, Architektur, bildenden Kunst et cetera auf jeweils einen Beitrag beschränkt bleiben. Es ist ein wenig schade, dass nicht mehr Beiträge mit konkreten Fallbeispielen aus diesen Disziplinen vertreten sind. Dies hätte den Band sicher noch mehr bereichert. Dennoch ist das Ergebnis eine uneingeschränkt zu empfehlende Lektüre für Literaturwissenschaftler. Die patchworkartige Vielstimmigkeit der Beiträge ergibt kein abgeschlossenes Ganzes, sondern umkreist den Begriff der Postmoderne. Der Sammelband ,tut‘ damit, was er im Titel ankündigt: er macht die Umstrittenheit und den Facettenreichtum des Begriffs ,Postmoderne‘ deutlich.

Titelbild

Andrea Hübener / Jörg Paulus / Renate Stauf (Hg.): Umstrittene Postmoderne. Lektüren.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2009.
396 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783825356590

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