Wiedergänger auf der Suche nach Glück

Adolf Muschgs neuer Roman „Sax“

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der mittlerweile 76-jährige Schweizer Autor Muschg hat erneut einen umfangreichen Roman vorgelegt, in dessen Zentrum das Haus „Zum eisernen Zeit“ in Münsterburg steht. Der Ortsname Münsterburg ruft Gottfried Kellers Spätwerk auf den Plan, namentlich „Martin Salander“. Dessen Titelheld kehrt nach vielen Jahren als Kaufmann in Südamerika an eben jenen Ort zurück und verfolgt hier die Entwicklung der jungen Schweizer Demokratie, die mit dem Erstarken des Kapitalismus einhergeht. Mit Keller hat Muschg das detaillierte Beschreiben und die epische Breite gemein, aber auch der Kapitalismus wird wiederholt Thema des Romans, der in insgesamt drei Teilen den Zeitraum von April 1970 bis September 2013 abdeckt.

Der Roman wartet mit einer Fülle skurriler Figuren und einigen Geistern auf, denn in der „Eisernen Zeit“ spukt es. Die umtriebigen Geister haben bereits die Familie des Besitzers Peter Leu ins Unglück getrieben. Die Mutter wurde ob der Erscheinungen und vor allen Dingen der Geräusche der Untoten wahnsinnig und stürzte sich vom Kirchturm. Der Vater verbringt seinen Lebensabend vereinsamt in einem kleinen Stadtappartement, und der Sohn, der das Geschäft und damit das Spukhaus übernommen hat, adaptiert die gespenstischen Geräusche als psychische Ticks in Form von Zungenschnalzen und einem „Klingeln der Ohren“ – dem Tinnitus aurium. Weder der beauftragte Exorzist noch die Geisterforscherin Dr. Fanny Moser konnten die Gespenster bisher vertreiben. Nun sollen drei junge Rechtsanwälte als „Trockenwohner“ das Gespensterhaus beziehen und „das Gemäuer ordentlich ausnüchtern“. Moritz Asser, Sohn des jüdischen Textilhändlers im Ort, der Bäckersohn und ehemalige Priesteranwärter Hubert Achermann sowie der Frauenheld und Sohn eines Privatbankiers Jacques Schinz bilden ein Anwaltskollektiv und verfolgen idealistische Vorstellungen einer anderen, humaneren Gesellschaft. Das Trio scheint die Gespenster jedoch eher anzuziehen als zu vertreiben. Die Hauptfiguren treibt um, was auch jene nicht hat zur Ruhe kommen lassen: Die Suche nach Glück.

Wirtschaftlich machen die drei mit einigen spektakulären Rechtsfällen und einer horrenden Erbschaft ihr Glück. Im Privaten will sich dieses allerdings nicht so recht einstellen. Hubert Achermann beispielsweise fehlt die Liebe, die er, der wie seine beiden Freunde in einer zerrütteten Familie aufgewachsen ist, sich noch nicht einmal zu vermissen getraut. Und doch scheint sein ganzes Sehnen danach ausgerichtet. Die Ehe, die er eingeht, wird ihm jedoch von der ehemaligen Geliebten pragmatisch als „Mandat“ angetragen, um von ihrer politisch ungünstigen Affäre mit einem Parteigenossen abzulenken. Einst verband ihn mit Sidonie eine amour fou, aus der ein Kind hervorgegangen ist. Doch die Frau brach den Kontakt in der Meinung ab, sie seien beide unfähig zum Lieben. Wie viele der Romane und Erzählungen von Muschg variiert auch dieser den Topos vom gescheiterten Leben, in dem die Menschen sich durch die Unfähigkeit zur Verständigung oder verspäteten Kommunikation erfolgreich gegenseitig am Leben hindern.

Der Roman erzählt die Pläne, Karrieren, Sehnsüchte und Liebesgeschichten der drei Hauptfiguren nebst einer Fülle an Nebenfiguren und überdies die Geschichte zweier prominenter Personen der Zeitgeschichte: Der Schweizer Adelsmann Johann Philipp von Hohensax (1550-1596) und der Mathematikprofessor und ehemalige Astronom Johann Kaspar Horner (1774-1834) treten als Gespenster auf den Plan. Die Lebensgeschichten der beiden Wiedergänger spiegeln die auch von den Romanfiguren empfundene „Seltenheit von Glück und seine Empfindlichkeit“.

Mit der Figur des Freiherrn greift Muschg den Schweizer Mythos des „Wunders von Sennwald“ auf: Bei Grabungsarbeiten fand man 1730 den unverwesten Leichnam, woraufhin der bei einer Erbstreitigkeit ermordete Adlige fortan als Märtyrer, sein Leichnam als Reliquie verehrt und in einem Glassarg ausgestellt wurde. Neben der Gespenstergeschichte eröffnet die Lebensgeschichte des ermordeten Grafen jedoch noch eine weitere Erzähldimension, wurde in seinem Besitz doch der immer wieder im Roman leitmotivisch auftauchende Codex Manesse gefunden. Die Figuren aus der Heidelberger Liederhandschrift dringen in die fiktive Erzählwelt des Romans ein und lassen dabei die Erzählebenen ebenso verschwimmen, wie dies zwischen den Ebenen der Romanwelt und der übersinnlichen Welt der Fall ist.

Der zweite Wiedergänger entstammt dem 19. Jahrhundert, war Astronom und innerhalb der Romanwelt ein ehemaliger Bewohner des Hauses „Zum eisernen Zeit“. Dort errichtete er eine geheime Sternwarte, um dem Himmel und damit seinen Träumen näher zu sein. Horners Kuppel entdeckt Achermann als anderen Ort für sich, an dem er wiederum seinen Träumen näher kommen und die profane Realität vergessen kann. Er entdeckt Aufzeichnungen Horners, die dieser auf seiner Weltumsegelung Anfang des 19. Jahrhunderts niederschrieb und die wiederum eher dessen Wünschen als der Reiserealität zu entsprechen scheinen. Sie bieten eine neue, durch Kursivschrift markierte Erzähldimension, die gleichwohl Parallelen mit dem Leben der Romanfiguren aufweist: „Auch in Horners Weltreise hatte sich ein Glück versteckt und versagt. Ihm, der ebenfalls Bäckersohn, ebenfalls abgebrochener Geistlicher war, begegnete es in der Südsee, in Gestalt grenzenlos williger Frauen. Aber begegnete es ihm auch nur ein einziges Mal? Anderen ja, den gröbsten Matrosen – er aber hatte immer nur, wie durch ein Teleskop, aus der Ferne zugesehen. Was er sehen mußte, zu sehen nicht aufhören konnte, war verworfen. Und doch blieb er am Guckloch, um sich zu weiden und zu schämen. Die Moral, hinter der er Schutz suchte, verriet sich selbst. Damit mußte er leben; damit sterben konnte er nicht. Am verworfenen Glück blieb ein Elend hängen, das ihn noch im Tode nicht ruhen ließ.“ So treibt die Lebenden letztlich das um, was auch die im Haus spukenden Toten nicht fanden und die Geister erscheinen als Projektionsfläche der Wünsche des Romanpersonals.

Der Roman folgt einem verschachtelten Erzählprinzip, bei dem der Leser in Rückblenden die Lebensgeschichten der Lebenden und der Verstorbenen erfährt, durchmischt mit dem mittelalterlichen Liedschriftgut der Heidelberger Handschrift sowie den Aufzeichnungen des Astronomen. Adolf Muschgs „Sax“ ist fantasievoll erzählt, eröffnet ein Feuerwerk an Ideen, die mal ironisch, mal lapidar und immer sprachlich präzise ‚gezündet‘ werden. Ab und an bleibt der Text in sprachlichen Manierismen, die Handlung in ermüdenden Volten und die Figuren in einer schwülen Erotik stecken. Der Roman ist facettenreich und erfordert einen aufmerksamen und geduldigen Leser, der bereit ist, den Figuren in immer neuen Wendungen in das Jenseits zu folgen, wo sich die drei Freunde zum Abschluss des Romans wiedertreffen und – so mag man spekulieren – den späteren Generationen ebenfalls als ruhelose Geister gegenübertreten.

Titelbild

Adolf Muschg: Sax. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
459 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406605178

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