Ein doppelter deutscher Shakespeare in didaktischer Betreuung

Zu Markus Martis neuer kommentierter Übersetzung der Sonette

Von Jürgen GutschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Gutsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Reigen der geradezu Schlag auf Schlag ins literarische Leben tretenden deutschen Übersetzungen der Shakespeare-Sonette ist abermals ein Neuzugang, ein zweifacher sogar, zu bestaunen: Markus Martis Doppelübersetzung der Shakespeare-Sonette einerseits ins Standarddeutsche und andererseits ins Hochalemannische seines Schweizer Heimatorts Visp im Kanton Wallis. („Schlächttitsch“ nennt man dort das Wallissertitsch, also ‚schlichtes‘, nicht etwa ‚schlechtes Deutsch‘). Heute ist Marti Anglist an der Universität zu Basel, und darum fehlt auch ein ausführlicher Kommentar zu jedem Gedicht nicht. Marti ist nach Klaus Reichert der zweite Anglist unserer Gegenwart, der die Aufgabe schultert. 2005 erschien Reicherts Prosaübersetzung. Äußerlich schmückt sich das schöne fadengeheftete Hardcover-Buch mit dem in Feuer und Gold getauchten Matterhorn (nach dem berühmten Plakat des „Hooru“ von Emil Cardinaux aus dem Jahr 1908) sowie mit der Eingangsstrophe von Sonett 33 in drei Sprachen, worin Shakespeare geradezu dieses Plakat besungen zu haben scheint. Auf solche Weise werden der Berg der Berge und der Sonett-Zyklus aller Sonett-Zyklen (Petrarca möge für diesmal verzeihen!) einander verschwistert. Beide sind in ihrer Klasse die schönsten der Schönen.

Seit Christa Schuenke 1996 ihre später vom Wieland-Preis gekrönte Übersetzung vorlegte, ist dies die zehnte und elfte Gesamtübersetzung, die publiziert wird, Teilübersetzungen (wie die von Wolf Biermann) nicht mitgerechnet. Wenigstens fünf weitere Komplettübersetzungen (vermutlich aber weitaus mehr) warten noch in Schubladen und Archiven auf ihre Verleger. Sowohl im deutschen Shakespeare-Handbuch als auch in einer neueren internationalen Publikation zu den Sonetten gibt es zu diesem seltsamen Massenphänomen pointierte, ja belustigte Kommentare. Auch die Übersetzer selbst treten nicht immer mit feierlichem Ernst wie einst Stefan George den heiligen Dienst der ,Nachdichtung‘ an, und so ist auch die schweizerdeutsche Arbeit Martis eher ein Produkt des homo ludens (sive ridens) als eine notwendige translatorische Intervention in der internationalen Vermittlung der Sonette. Jedenfalls fügt sich das Schweizerdeutsche dem Original doch geschmeidiger als das Maori Neuseelands oder das Romani russischer Roma. Und doch haben wir die Sonette auch in diesen beiden Sprachen (und in mehr als 80 weiteren). Martis Buch liegt eine CD bei, auf der uns der Übersetzer alle seine 154 Texte wallissertitsch vorliest.

Zu loben ist ohne alle Einschränkung der erneute Nachweis, dass auch eine Sprache, die nicht über eine jahrhundertealte weltliterarische Schrift-Tradition verfügt, sich zu einer solchen Übertragung eignet. Der Rezensent erkühnt sich mutig zu diesem Urteil, obwohl er das Objekt seiner Besprechung nur so weit versteht, dass er diese grundsätzliche Behauptung gerade so eben wagen darf. Trost und Entschuldigung spendet der Umstand, dass es auch den meisten autochthonen nicht-walliser Schweizern ähnlich gehen wird, wenn sie sich diesem mit allen Wassern gewaschenen Höchstalemannisch gegenüber sehen.

So hibschi Gschepfi wellti wiär no mee,
än hibschi Blüäma taarf nit soo verschwinnu

beginnt Marti seinen Text für das Original des folgenden Wortlauts

From fairest creatures we desire increase,
That thereby Beauty’s rose might never die

in der bis heute fähigsten Dichter-Sprache der Weltliteratur. Behauptet man immerhin diese Art von Vorherrschaft des Englischen (die ganz gewiss mitursächlich dafür war, dass Shakespeare zum bekanntesten und verehrtesten Dichter der Weltliteraturgeschichte geworden ist), ist damit nur gesagt, dass kein Sprecher des Walliserdeutschen im 17. Jahrhundert oder zu anderer Zeit auf die Idee gekommen wäre, diesen (anti-)petrarkistischen Höhenflug in seiner eignen Sprache zu veranstalten. Weitaus schöner als in der Übersetzung der einen ‚Kultur‘-Sprache Englisch in die andere, worin ja immer das Versprechen gemacht wird, dass ein ‚adäquater‘ Text entstehe, wird hier deutlich, was einem Text geschieht, der ins Unerwartete hinein ‚medial transponiert‘ wird, nicht nur platt ‚übersetzt‘. Auch derjenige, der diese Zielsprache nicht aktiv beherrscht und passiv nur bedingt, spürt hier doch die heimelig-unheimliche Kraft ihrer Poesie schon in formalen Eigenheiten wie Infinitiv-Morphemen auf ‚-u‘, die von der Blässe standarddeutscher Auslaut-Reduktion – im Englischen sind die meisten Endungen gleich ganz verschwunden – verschont geblieben sind. Es sei gleich hinzugefügt, dass sich manche ‚optische‘ Härte wie diese u-s der Infinitive doch etwas sanfter gestaltet, hört man die phonetische Realisierung des Autors. Marti richtet sich nach den Schreibempfehlungen Alois Grichtings („Wallissertitsche Weerter“, Visp 1999), der graphematisch einen Schritt weitergeht, als es unbedingt notwendig gewesen wäre und dadurch eine gewisse Exotik der Lautschrift erzeugt. Es sei darum jedem Leser geraten, neben der reinen Lektüre auch immer dem Vortrag des Übersetzers zu lauschen.

Den Text aus dem völlig anderen Horizont der Zielsprache zu verstehen, ihn darin neu abzubilden, macht eine Vermittlungsebene deutlich, die in jenen Übersetzungen ‚auf Augenhöhe‘ nicht notwendig sichtbar wird: dies ist die Relevanz der menschlichen Mitteilung, die über das „Fachsimpeln“ des Sonettierens hinausgeht. Hatte dies schon Shakespeare selbst gegenüber der Tradition des petrarkistischen Sonetts durch sein eigenes ‚Übersetzen‘ 400 Jahre nach ‚Erfindung‘ des Sonetts am staufischen Kaiserhof in Süditalien geleistet, so ist es nun gerade der Mundartübersetzer, der in ebensolcher Intention in seine Fußstapfen tritt. Von Anfang an ist klar: Der wallisserdeutsche Shakespeare spricht nicht nur in einer anderen Sprache, sondern auch auf einer anderen Ebene. Die Texte werden zweifach übersetzt: Nicht nur in eine andere Variante des Westgermanischen, sondern auch in eine andere Rhetorik und Metaphorik. Betrachten wir – pars pro toto – das zweite Quartett des ersten Sonetts:

But thou, contracted to thine own bright eyes,
Feedst thy light’s flame with self-substantial fuel,
Making a famine where abundance lies,
Thyself thy foe, to thy sweet self too cruel.

Dies ist lyrischer Diskurs auf einem Niveau, das es auf den ersten Blick ausgeschlossen erscheinen lässt, es könnte dafür überhaupt eine andere, geschweige denn eine mundartsprachliche Entsprechung geben: „Du aber, verlobt mit deinen eignen strahlenden Augen und auf sie allein beschränkt, nährst die Flamme, die dir leuchtet und dich wärmt, mit aus dir selbst entstehendem Brennstoff und erschaffst damit dort eine Hungersnot, wo eigentlich Überfluss herrscht. Du wirst dir selbst zum Feind, bist allzu grausam zu deinem süßen Selbst.“ Diese Schilderung narzisstischer Selbstbezogenheit, die sich selbst verbraucht, anstatt die liebende Zuwendung anderer zuzulassen, ließe sich so in ihrer Bewertung, ihren Doppeldeutigkeiten und Konnotationen, ja sogar in der Menge ihrer sprachlichen Lexeme nur in einer andern hoch entwickelten Dichtersprache nach-formulieren – aber auch dort nie vollständig in jener lakonischen Prägnanz, die das Englische fast allen andern Sprachen voraus hat – und schon gar nicht mit gleicher poetischer Durchschlagskraft. Mehr als der hochsprachliche Übersetzer hat der Mundart-Übersetzer daher das poetologische Grundproblem zu lösen, wie er seine Zielsprache der doppelt andersartigen Quellsprache anverwandeln kann. Wie Marti im konkreten Fall diese Metamorphose meistert, zeigt seine Übersetzung:

Doch düü lüägscht nur di eignu Öügu a,
verschwänduscht all diis eigut Fiir drbii,
bis s niggs me het, wa s mee wa gnüäg het gha.
Bischt diinä eigunt Find, wenn t soo willt sii.

„Aluege“ (angucken) ersetzt den komplizierten und durch „contracted“ doppeldeutigen Verlobungsgedanken, „verschwenden“ tritt an die Stelle des Bildes von der leuchtenden und wärmenden Flamme, die il-y-a-Alltagswendung „es gibt“ (Schweizerdeutsch „es hat“) „nichts mehr, wo es vorher genug gab“ (beziehungsweise „het gha“) vertritt die Metapher der Hungersnot im Gegensatz zum Überfluss, die rhetorische Doppelung „dir selbst Feind / zu grausam gegen dich“ wird durch ein Hauptsatz/Nebensatzgefüge ersetzt: „du bist dein Feind, wenn du dich so verhältst“. Was also geschieht, ist Rücknahme der elisabethanischen Dichtersprache um 1600 in ein Alltagsdeutsch der klaren Mitteilung, – gewiss ein „Verlust“, aber zugleich eben genau das Mittel, und zwar das einzige, das auch im „Schlächttitsch“, das sich in der Tat als das schlichtere erweist, Poesie ermöglicht. Gleichartige Beobachtungen ließen sich an Dutzenden von Stellen wiederholen. Es kann nur jedem empfohlen werden, in Martis Buch auf Entdeckungsreise zu gehen. Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: Schweizerdeutsch ist dort, wo man es spricht, nicht etwa als Dialekt wie in aller Regel sonst im deutschen Sprachraum gering geschätzte Sprache, die ein Sprecher augenblicklich verlässt, wenn er über ‚kulturell Anspruchsvolles‘ zu reden hat, sondern allgemein benutzte Sprache. In der Schweiz sprechen spätestens seit 1933 der Dichter und der Gelehrte, der Pfarrer auf der Kanzel und der Anwalt vor Gericht, der Leichen- und der Festredner Schweizerdeutsch mit der größten Selbstverständlichkeit. Neues Vokabular, Fachtermini, Bildungsgut, Subkulturelles und so weiter sind darum im Schweizerdeutschen stets so gegenwärtig wie in den Standardsprachen und müssen nicht substituiert werden.

Was dem Sprachfremden zu beurteilen nicht recht vergönnt ist, ob nämlich in dieser Reduktion auf eine natürliche, gesprochene Sprache gelegentlich idiomatische Pannen, Künstlichkeiten oder wohl gar stilistische Fehlgriffe auftreten, lässt sich für die normdeutsche Übersetzung besser einschätzen. Grundsätzlich gilt: Martis normdeutsche Übersetzung zählt zu den allerbesten, ist grundsätzlich äußerst kompetent und originell, darum ganz sicher eine wesentliche Bereichung der über 70 Gesamtübersetzungen ins Deutsche, die wir haben. Allerdings befleißigt er sich bisweilen auch eines derben Tons, der unter der Flagge ‚Natürlichkeit’ segelt, aber durchaus da und dort schon die Grenzen zu Parodie und Kontrafaktur streift. Nehmen wir eins der besonders markierten Sonette, das berühmte Sonett Nr. 20, das ‚Was-Shakespeare-Gay?-Sonett‘, einmal in näheren Augenschein. Die erste Strophe:

A woman’s face with Nature’s own hand painted
Hast thou the master mistress of my passion,
A woman’s gentle heart, but not acquainted
With shifting change as is false women’s fashion.

Bestechend in ihrer sprachlichen Klarheit und Verständlichkeit ist Martis Übersetzung. Zwar ist das Enjambement von Zeile 3 auf 4 un-shakespearisch, aber es gibt dem „nicht“ einen sinngemäßen Ton und entzieht sich darum vernünftiger Kritik:

Natürlich feminin ist dein Gesicht,
du Herr und Herrin meiner Leidenschaft,
dein edles Frauenherz ist aber nicht
– wie das der falschen Frauen – wechselhaft.

Das Sonett gehört zu jenen, die massive sexuelle Anspielungen machen. In Strophe drei wird das deutlich, wenn Shakespeare das Pygmalion-Motiv zitiert:

And for a woman wert thou first created,
Till Nature, as she wrought thee, fell a-doting,
And by addition me of thee defeated,
By adding one thing to my purpose nothing.

Marti kann nun der Versuchung nicht widerstehen und übersetzt:

Als Frau hätt’st du geschaffen werden müssen,
als die Natur gleich für dich Feuer fing.
Sie fügte, um Rivalen auszuschließen,
in das für mich bestimmte Loch ein Ding.

Es hätte ohne weiteres auch „an den bestimmten Ort für mich ein Ding“ gepasst. Das „Loch“ kommt Marti aber darum unverzichtbar vor, weil „nothing“ nichts anderes bedeute als „vagina“; denn wo der Mann einen Penis habe, fehle er der Frau, es gebe dort nur „nothing“. Dass über An- und Abwesenheit eines deutlich sichtbaren Geschlechtsteils, des Phallus, in der Renaissance (und nicht nur dort) räsonniert wurde, sei nicht bezweifelt, doch bleibt uns Marti jeden Nachweis dieser auch in seinem Kommentar vorgeschlagenen Deutung für „nothing“ schuldig. Und selbst wenn es eine Bedeutungsgleichung dieser Art gäbe, widerspräche ihr die Syntax der Zeile; es müsste ja dann so etwas stehen wie „And added one thing to your needy nothing“ (die Kollokation „needy nothing“ einmal spaßeshalber aus Sonett Nr. 66 ausgeliehen). Dieser Fehler, ausgelöst durch den in der Tat beziehungsreichen und häufig sexuellen Subtext der Sonette, wiederholt sich in platten Eindeutigkeiten auch an anderen Stellen, wo Shakespeare nur zwischen den Zeilen redet, in mancherlei, durchaus auch nicht-sexuellen Eindeutigkeiten, die schöne übersetzerische Kontexte (wie hier die erstklassig getroffenen Zeilen 9-11) dann gewissermaßen zerstören. (Hinzukäme noch ein sachliches Argument, denn ‚in‘ ein Loch kann das Ding nicht gefügt werden, weil man in einem Loch nichts befestigen kann.) – Wieder müssen wir uns darauf beschränken, diesen auffälligen Umstand an Martis normdeutscher Übersetzung (hier allerdings auch in der wallissertitschen Übersetzung), nämlich den bisweilen allzu kühnen Griff in Slang und Zotensprache, an nur einem Beispiel zu belegen. Dass Marti an anderer Stelle aber durchaus auch in der von Shakespeare vorformulierten reizvollen Unentschiedenheit verharren kann, zeigt die Übersetzung von Nr. 151, und in den äußerst schwierigen Nrn. 135 und 136, den Will-Sonetten, läuft Marti gar zu virtuosen Übersetzungskünsten auf (von dem „Wollding“ in 135/5 einmal abgesehen, da die Sache mit „Wolle“ nun wirklich nichts zu tun hat; der Neologismus ist krass missverständlich.)

Stellvertretend für Martis in aller Regel sehr gewandten und zugleich höchst originellen Übersetzungsstil noch einmal zwei motivverwandte Sonette – eins für Walliser-, eins für Standarddeutsch:

Sonnet 29

When in disgrace with Fortune and men’s eyes,
I all alone beweep my outcast state,
And trouble deaf heaven with my bootless cries,
And look upon my self and curse my fate,

Wishing me like to one more rich in hope,
Featured like him, like him with friends possessed,
Desiring this man’s art, and that man’s scope,
With what I most enjoy contented least,

Yet in these thoughts my self almost despising,
Haply I think on thee, and then my state,
Like to the lark at break of day arising
From sullen earth sings hymns at heaven’s gate,

For thy sweet love remembered such wealth brings,
That then I scorn to change my state with kings.

Sonett 29

Wenn z Gglikk miär fäält und niämer lüägt mer güät,
de flänni, wenn i soo alleinigs bi;
zem töübu Himmel höüri voller Wüät,
und gsee mich sälbscht im schlimmschtu Ugglikk dri.

Wiä äs da, sovil Hoffnig hätti gääru,
va dem der Buww, s Biliääbtsii bi du Lit,
was annri hent, isch was ich öü bigääru,
nur was i sälber hä, das gfallt mer nit.

Wenn ich mich scho als Ermschtä gsee, grad de,
de chusch zum Gglikk miär düü de wider z Si,
de git s fer mich va Gglikk keis Haaltu me,
wiä d Läärcha fleig i innu Himmel i.

An diini Liäbi z deichu, macht mich riich,
ich tiischtis nit maal gägs es Chinigriich.

Sonnet 91

Some glory in their births, some in their skill,
Some in their wealth, some in their body’s force,
Some in their garments though new-fangled ill:
Some in their hawks and hounds, some in their horse.

And every humour hath his adjunct pleasure,
Wherein it finds a joy above the rest,
But these particulars are not my measure,
All these I better in one general best.

Thy love is better than high birth to me,
Richer than wealth, prouder than garments’ costs,
Of more delight than hawks and horses be:
And having thee, of all men’s pride I boast.

Wretched in this alone, that thou mayst take,
All this away, and me most wretched make.

Sonett 91

Mit Herkunft prahlen die, mit Können die,
die schätzen Geld, die ihren Körper wert,
die zeigen Kleider, modisch wie noch nie,
die haben Hund und Habicht, die ein Pferd.

Für jeden Menschentypus gibt’s etwas,
das er das höchste der Gefühle nennt,
doch solcher Kleinkram ist für mich kein Maß:
Mein Bestes ist das Beste, das man kennt.

Der Herkunft setz ich deine Lieb entgegen,
die mehr als Kleider wert ist oder Geld,
auch Habicht oder Hund sind nichts dagegen,
dich haben ist das höchste Gut der Welt.

Mein Unglück wäre nur, nähmst du zurück
dies alles, dann verlör ich all mein Glück.

Verzichten wollen wir auf Beckmessereien bei diesen wie bei den übrigen Übersetzungen (etwa unmöglichen Reimen wie „riechen/liegen“ in Nr. 69,13-14, die man sogar einem Sachsen wie Gottlob Regis übelnehmen müsste, oder äußerst seltenes „gebärt“ statt richtiges „gebiert“ in Nr. 103,1). Auch Shakespeare erlaubt sich prosodische Freiheiten, – wenn die seinen auch in der Regel eine absichtliche rhythmische Irritation zur Lenkung der Aufmerksamkeit sind, der Anfang von Sonett 66 etwa.

Wovon allerdings noch die Rede sein muss, sind gewisse andere Merkmale des Buches, die mit den Übersetzungen selbst nichts unmittelbar zu tun haben.

Jeder Übersetzer benötigt einen verlässlichen Text, nach dem er übersetzt. Nach dem Urtext, das heißt nach der Erstausgabe durch den Verleger Thomas Thorpe 1609, wird er sich hier nicht richten dürfen, denn dieser Text wimmelt geradezu von ‚Druckfehlern‘ und von allerlei anderen Versäumnissen, die man mit dem uns vertrauten harmlosen Begriff des ‚Druckfehlers‘ eigentlich kaum erfassen kann; komplette Textsubstitutionen wie in 96,13-14 oder in 146,2 sind ja wahrhaftig keine solchen ,Druckfehler‘ mehr. Zu fragen ist deshalb, was Marti, der doch anglistischer Fachmann ist, dazu bewogen haben mag, diesen Text, den bislang jeder der über drei Dutzend historisch-kritischen Herausgeber als fehlerhaft und darum verbesserungsbedürftig beschrieben hat, einen Text zu nennen, der „ganz wenige offensichtliche Druckfehler“ aufweise; und solche Fehler seien bei ihm, Marti, nun stillschweigend verbessert worden. (Gewiss, es mag ja noch schlechtere Texte geben.) Einmal von dem Umstand abgesehen, dass es in einem Text vor jeder orthografischen Regulierung gar keine „offensichtlichen“ Druckfehler geben kann, ist auch eine seltsame Inkonsequenz bei der Bewertung dessen, was fehlerhaft ist und was nicht, zu beobachten. Ein Beispiel macht das klar: In Sonett 69 finden sich nach Auffassung sämtlicher Herausgeber seit 1881 wenigstens drei massive Textfehler. Alle sind sich darin einig, dass „end“ in Zeile 3 in „due“, „their“ in Zeile 5 in „thy“ und „solye“ in Zeile 14 in „soil“ zu ändern sind. Marti übernimmt nun zwar „soil“ und „thy“, lässt aber „end“ unverändert, – und keine der drei Entscheidungen kommentiert er mit einem Wort. Wieso aber ist „solye“ and „their“ „offensichtlicher Druckfehler“, „end“ jedoch nicht? „End“ ergibt so wenig Sinn wie das nicht-existente Wort „solye“ und das existente „their“. Auch ist „end“ für „due“ schnell erklärt: der Setzer liest das Wort versehentlich von hinten (es wird ja ohnehin in Spiegelschrift gesetzt), verführt durch die Reimwörter in 2 und 4, und greift ein „n“ für ein „u“ aus dem Setzkasten. Ist dies nur darum kein „offensichtlicher“ Druckfehler, weil auch „end“ ein englisches Wort ist? Aber auch „their“ ist ein englisches Wort! Weshalb also wird es dennoch in „thy“ geändert? Und schließlich könnte „solye“ sogar für „solve“ stehen (was von Herausgebern bisweilen erwogen wird, so zum Beispiel von Stephen Booth, der sich aber für „soil“ entscheidet). Zusätzlich verwirrend ist, dass Marti an anderer Stelle durchaus kommentiert, was er emendiert. Warum also hier nicht? Im Ganzen betrachtet ist diese Textrealisierung deshalb kaum einleuchtend; es ist Sonett 69 auch nicht das einzige Beispiel für das unverständliche Verfahren. Die gewissermaßen achselzuckende Einstellung gegenüber dem Original entschuldigt Marti mit dem Umstand, es handle sich hier ja nicht um eine wissenschaftliche Edition. Warum um Himmelswillen aber hat er sich nicht einfach einen historisch-kritischen Text – es gibt deren ja mehrere – zur Vorlage genommen?

Kein Zweifel, Martis Kommentierung der einzelnen Sonette ist von großem erläuterndem und didaktischem Wert, auch die zahlreichen nützlichen Querverweise erleichtern den Umgang mit diesen Texten sehr und fördern den Überblick. (Die Kommentare sind aus der Lehrpraxis entstanden, sie befinden sich seit langem im Internet, werden hier nur redigiert abgeschrieben.) Dennoch gibt es ein paar kleinere Einwände.

So sind gelegentlich (nicht häufig) Martis kulturhistorische Erläuterungen sehr mit Vorsicht zu genießen. Wenn er bei Sonett 68 etwa anmerkt, Perücken seien aus dem Haar von Toten hergestellt worden, so nennt er damit zwar eine tatsächliche Quelle für Perückenhaar, zumal wenn es sich um Jungverstorbene handelte, aber die Hauptmenge des benötigten Haars kam stets, auch im alten Rom, von Lebenden; es gab einen förmlichen Handel damit (es sei denn, die blonden germanischen Sklaven wurden gewaltsam geschoren).

Manchmal geht Marti auch einfach zu weit in allzu schnell formulierten Hinweisen, wie etwa denen zu den Prokreationssonetten (Nummern 1 bis 18), wenn er mutmaßt, sie könnten von verschiedenen Verfassern stammen, weil in ihnen unterschiedliche lyrische Sprecherpositionen eingenommen werden. Wäre dies ein Argument für unterschiedliche Autoren, müsste die Balkonszene in „Romeo und Julia“ auch von zwei Autoren stammen. Mit solchen gerade um einen Schritt zu weit gehenden missverständlichen Hinweisen beeinträchtigt Marti seine wertvollen Hinweise auf unterschiedliche Sprecherwelten, die je eigene Grundierung und Bilderwelt aufweisen.

Manchmal ist auch ein zu unbedacht gesetzter Begriff ein wenig störend. Ist das lyrische Du in Sonett 20 wirklich ein „Hermaphrodit“? Ist er nicht eher androgyn? Das ist nicht dasselbe. Marti übersetzt ja selbst mit „feminin“. Er hat ein sanftes Frauenantlitz, aber auch eindeutig einen Penis, von dem ja auch die Rede ist. Das reicht noch nicht zu einem Hermaphroditen.

Die elf Anklagen in Sonett 66 das Anprangern „soziale[r] Ungerechtigkeiten“ zu nennen, ist ein noch etwas krasserer begrifflicher Fehlgriff. Was hier angeprangert wird, sind grundsätzliche Übelstände, keine sozialen Ungerechtigkeiten, die ganze prinzipielle Verwerflichkeit einer schlechten Welt ist im Blick, brutale Ausbeutung, Unterdrückung, lächerliche Anmaßung, grassierende Unzucht et cetera. Zugleich ist es ein wenig albern, anzumerken, es handle sich bei diesem Gedicht wohl „einfach nur um eine virtuose, weitere Version, Liebe zu beteuern“. Es handelt sich natürlich auch darum.

Und es ist nur einer gewissen verwirrenden Übertreibungssucht Martis geschuldet, wenn er Sonett 71 ein „Sonett aus dem Jenseits“ nennt. Selbstverständlich handelt es sich hier nicht um Okkultismus, auch nicht um fingierten. Ein Mensch gibt Anweisung, wie man mit dem Gedenken an ihn verfahren solle, wenn er einmal das Zeitliche werde gesegnet haben – und dies durchaus im Diesseits. Ebenso wenig kommt die Stimme des Sprechers in Sonett 73 vom Totenbett.

Neben solchen Übertreibungen finden sich manchmal auch förmliche Fehlschlüsse: Für Sonett 93 wird behauptet, der Vergleich des Sprechers mit einem betrogenen Ehemann beweise, dass er, der Sprecher, männlich sei. Hingegen mache der Vergleich der Schönheit des Angeredeten mit Evas Apfel aus diesem keine Frau. Richtig. Aber auch der Vergleich des Sprechers mit einem Ehemann macht aus dem lyrischen Ich keinen Mann. Hier wird, noch dazu unlogisch, auf einer Ebene argumentiert (‚Ist der Sprecher überhaupt ein Mann?‘), auf der sich bei aller Geschlechtsunentschlossenheit dieser Gedichte ein Disput nun wahrhaft nicht mehr lohnt.

Redundantes Problematisieren findet sich auch im Kommentar zu 126. Dass dies überhaupt kein Sonett ist, muss nicht umständlich vermutet, fehlenden Schlusszeilen muss nicht gleichsam wiegenden Hauptes hinterhersinniert werden. Dies ist ein dreistrophiges paargereimtes Gedicht, und die vom Thorpe’schen Setzer eingefügten Klammern für angeblich Fehlendes sind ein albernes Missverständnis. Während hier ein Gedicht in Martis Augen noch nicht zum Sonett gereift ist, leistet sein gelegentlich recht unkonventioneller Umgang mit dem Text auch das Umgekehrte: Das vorangehende Sonett 125 wird durch vorgeschlagenes Ignorieren des Couplets, das „fehl am Platz“ sei, vom Sonett zu einem dreistrophigen kreuzgereimten Gedicht herabgestuft.

Hin und wieder befremdet der Umgang mit der handwerklichen Begrifflichkeit ein wenig, etwa dann, wenn für die Sonette 62 und 66 gesagt wird, der Beginn sei „metrisch“ unregelmäßig. Was hier richtig hervorgehoben wird, ist – wie oben schon angedeutet – kein metrisches Phänomen, sondern ein rhythmisches. Es entsteht, wenn die vom Sinn oder vom Wortakzent her zu betonenden Silben nicht die im Metrum beschwerten Silben sind. Die entstehende schwebende Betonung lenkt dann besondere Aufmerksamkeit auf die Stelle. (Ein metrisches Problem entsteht, wenn zum Beispiel statt einer Senkung zwei Senkungen vorkommen, der Jambus in einen Anapäst verwandelt wird. Ein klein wenig stören auch gewisse Wiederholungen (wohl für das studentische Lesepublikum dennoch nötig) etwa zum Begriff der „conceits“ oder zur immer wieder aufgegriffenen Frage, ob das betreffende Sonett an einen Mann oder eine Frau adressiert ist (oder sein könnte). Dasselbe gilt für die immer wieder gestellte, aber unentschieden gelassene Frage, ob die Sonette als „fortlaufende Liebesgeschichte psychologisierend“ gelesen werden können oder eben gerade nicht. Marti scheint nicht dieser Ansicht zu sein, mag sich aber auch nicht dazu durchringen, reinen Tisch zu machen. Das ist ebenso verwirrend, wie die dutzendfache Wiederholung des Adressaten-Problems bei nahezu jedem Sonett ermüdend ist; das Englische hat nun einmal eine gewisse grammatische Gender-Ambiguität. Über Grundsätzlichkeiten sollte grundsätzlich und nicht immer wieder mit neuen Zweifeln neu befunden werden.

Formale Fehler finden sich hingegen relativ wenige. Es fehlen ein paar Kommata, dann und wann gibt es kleine Buchstabenfehler, mal ist eine Leerzeile falsch platziert; auch wirkt ein wenig seltsam, dass zu Sonett 97 und zu Sonett 98 exakt der gleiche Einleitungsabsatz im Kommentar steht. Dies aber sind Kleinigkeiten, die nicht weiter ins Gewicht fallen.

Alles in allem gesehen ist Martis Buch ein wichtiger Akt der Auseinandersetzung mit den Shakespeare-Sonetten, auch wenn die deutsche Beschäftigung mit ihnen derzeit etwas ausufert. Aber gerade das didaktische Konzept seiner Edition eröffnet Neues und überzeugt deshalb sehr. Ausgaben wie diese sind ganz hervorragend geeignet, die Sonette an Schule und Universität bekannt zu machen. Martis beide Übersetzungstexte, vor allem der schweizerdeutsche, der im Unterschied zum standarddeutschen bisher nicht im Internet einsehbar war, sind schöne Bereicherungen. Das Buch wird daher wärmstens empfohlen.

Titelbild

William Shakespeare / Markus Marti: Sonnets - Sonette englisch, deutsch und wallissertitsch. In der Übertragung von Markus Marti.
Edition Signathur, Dozwil 2010.
328 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783908141648

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