„ … but it adds“

In Martin Mosebachs Frankfurter Gesellschaftsroman „Was davor geschah“ wird in 33 nahezu makellosen Stillleben vom Abenteuer Leben erzählt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, es ist weiß Gott keine societas perfecta, die dem Leser in Martin Mosebachs neuem Roman „Was davor geschah“ begegnet. Im Gegenteil: Was sich da allsonntäglich im Hause der Hopstens herumtreibt, einer begüterten Frankfurter Familie, in die die Dame des Hauses das Vermögen und ihr Gatte das Geschick, es zu vermehren, eingebracht haben, sollte einen eigentlich nicht weiter interessieren. Schmetterlinge sind es, die da um das Licht von Reichtum und Bürgerlichkeit flattern, leichtgewichtige Wesen ohne größere geistige Tiefe, Schwadroneure und Besserwisser, beschwipste Salonfräuleins und Matronen, so steif, als hätten sie den sprichwörtlichen Besen verschluckt. Selbst die bedeutungsschwersten Worte in dieser Gesellschaft – ein Ex-Minister namens Schmidt-Flex darf sie stoisch äußern – würden auf einer Goldwaage keine Gewichtsanzeige erzielen. Das alles wirkt ein wenig, als hätte man sich in einen Film von Luchino Visconti verlaufen und würde nun den Ausgang nicht mehr finden, auch wenn ein paar Signale darauf hindeuten, dass wir uns in einem durchaus zeitgemäßen Rahmen bewegen. Denn zur Patina jener Klasse, die im 19. Jahrhundert ihre dominierende gesellschaftliche Stellung errang, wollen die ausgelassenen Poolszenen mit der Hausherrin im knappen Einteiler als Badebekleidung nicht so recht passen. Und dass das Schwimmbassin, schwarzgefliest, ein bisschen was von einem Sarg hat, in den sich die Anwesenden lustvoll hineinstürzen, gibt zusätzlich zu denken.

Die Hopstens also: Rosemarie und Bernward, die Eltern, Phoebe und Titus, die bereits erwachsenen Kinder. Dazu das eingangs schon erwähnte politische Schwergewicht Schmidt-Flex – Intimus von „zwei Päpsten, drei amerikanischen Präsidenten und dem Kreis der deutschen Nobelpreisträger“, dessen Lieblingsbeschäftigung die verbale „Herabstufung“ vorzüglich seines blassen Erbfolgers ist –, samt Frau und Sohn und Schwiegertochter Silvi. Darum herum eine Handvoll weiterer Personen wie etwa die Einrichtungsberaterin Helga Stolzier, der dubiose österreichisch-libanesische Geschäftsmann Joseph Salam und der geheimnisvolle Banker Sláwina, der so selten auftaucht, dass man ihn zunächst für nichts als einen running gag hält.

Allein wir sind in einem Roman von Martin Mosebach. Und da ist kein Ingredienz um seiner Selbst willen da, geschweige denn zum puren Amüsement des Lesers. Wer hier auftaucht, der agiert durchaus im Auftrag eines Höheren, sei dessen Name nun Zufall oder Schicksal oder schlicht Poetologie. Und so hat die weizenblonde Heroine Stolzier – die Wert darauf legt, nicht französisch „Stolzjé“ ausgesprochen zu werden, sondern gut-berlinerisch „Stol-zier“ – auch keineswegs aus einer puren Laune heraus zum Erwerb eines Kakadus für das Heim der Hopstens ermutigt. Dem Tier kommt nämlich neben seiner Funktion, ein befiedertes „Objet d’art“ zu sein, auch etwas Emblematisches zu.

Diese Eigenschaft teilt es mit allen anderen Tieren, die in „Was davor geschah“ auftauchen. Womit wir schon bei dessen Erzähler wären. Der ist nicht ganz unwichtig, hat er doch die Begründung dafür zu liefern, warum die Leser ihn auf die verschlungenen Pfade eines Romans, dessen Personal mehr Altmodisch-Penetrantes anhaftet, als man eigentlich heutzutage noch hinzunehmen bereit ist, begleiten sollen. Und das macht er sehr geschickt. Von Anfang an sehen wir den im gesamten Buch namenlos Bleibenden nämlich einem Gegenüber konfrontiert, mit dem er hin und wieder sogar sich auf den Fortgang der Handlung beziehende Sätze wechselt. Und weil sich hinter dem angesprochenen „Du“ eine soeben erworbene neue Liebe verbirgt, möchte die natürlich wissen, was geschah, als sie sich noch nicht im Fokus dessen befand, der ihr nun plötzlich sämtliche Aufmerksamkeit zuteil werden lässt. Mit dem ersten Satz des Romans – „Wie war das …?“ –, der eigentlich nur ein Halbsatz ist, ein Startschuss des Erzählens sozusagen, dispensiert ihn sein Erzählauftrag somit von dem etwas heiklen Unterfangen, über die gesellschaftlichen Rituale eines Milieus Bericht zu erstatten, dem er selbst noch gar nicht richtig zugehört.

Aber zurück zu den Tieren. Außer dem Kakadu im Hause Hopsten sind es noch zwei weitere. Zum einen eine widerspenstige Tigerkatze, die Silvi Schmidt-Flex zuläuft, während sich die etwas unbedarft wirkende, aber durchaus reizvolle Gattin des ganz und gar humorlosen Ex-Minister-Sohns Hans-Jörg – stellenweise lässt der den Leser an einen etwas älter gewordenen Hanno Buddenbrook denken, wie überhaupt die Thomas-Mann-Referenzen des Romans unübersehbar sind – gerade in eine neue Liaison mit dem 18 Jahre älteren Bernward flüchtet. Und schließlich eine Nachtigall, die dem Ich-Erzähler aus einer gigantischen Kastanie vor seinem Balkon entgegenflötet, als der sein erstes Frankfurter Domizil bezieht und dabei just in einem Appartement neben der Wohnung jenes Freiherrn von Sláwina landet. Durch diese „ersten Töne hinter der Kulisse“ wird nicht nur ihm, sondern auch dem Leser klargemacht: „Jetzt geht’ s los.“

Bereits in diesem romantisch aufgeladenen Romananfang steckt schon der Kern des Niedergangs. Es dauert nämlich gar nicht lange, bis die Kastanie samt der in ihrem Laubmeer hausenden Nachtigall aus dem Straßenbild verschwunden ist. Und wer in der nicht zu bändigenden Katze gar das wilde Ausbruchsgebaren ihrer zeitweiligen Herrin ins Bild gebannt sehen will, muss miterleben, wie des Tieres Leben unter den Rädern eines Autos endet, gerade als Bernward und Silvi frisch verliebt das Trottoir hinunterspazieren. Was nutzt es da noch, dass er in einem Anfall altmodischer Ritterlichkeit seiner jungen Eroberung die Augen zuhält – alles Weitere scheint längst beschlossen. Und der Kakadu, der im Hause Hopsten einst so gravitätisch auf seiner Stange thronte und ebenso imposant wie selbstverliebt den „Königsschmuck“ seines Kopfes zur Schau stellte? Er endet da, wo heutzutage vieles strandet: als Sonderangebot im Hause ebay.

Doch unterm Strich geht es in Mosebachs Roman gerade nicht um das Wechselspiel der Paare und Pärchen und die erotische Kombinatorik der Verhältnisse, in die man vom Autor leichthändig eingeführt wird. Wen interessiert auch schon dieses ewig sich fortsetzende „Wer mit wem?“. Am Schluss von „Was davor geschah“ sind es jedenfalls Bernward Hopsten und Silvi Schmidt-Flex, die sich neu gefunden haben. Eine kurze Liaison zwischen Bernwards Ex Rosemarie und dem ebenso schmierigen wie draufgängerischen Joseph Salam hat die durch die Trennung tief getroffene Salonlöwin kurzerhand wieder beendet und Hans-Jörg Schmidt-Flex und Helga Stolzier scheinen sich zumindest auf geschäftlicher Ebene näherzukommen. Dass der Erzähler selbst, ermutigt durch einen Kuss von der Tochter des Hauses in einer kalten Winternacht am Feldberg, bei seiner Angebeteten nicht landen kann, macht nichts angesichts der Tatsache, dass ihm der Zufall eine andere junge Frau über den Weg schickt. Ihr erzählt er jenes halbe Jahr der Verwicklungen, das nun glücklicherweise hinter ihm liegt. Das letzte Wort im Buch freilich gehört ihm nicht. Das hat der Betrüger Salam und es lässt nichts Gutes ahnen für all die neu entstandenen Paare.

Wo also, wenn nicht in den sich lösenden und wieder neu findenden menschlichen Verbindungen, dieser Chemie der kleinen Welt, wie sie jeder Leser wohl auch aus eigenem Erleben nachvollziehen kann, liegt der Schlüssel zum Verständnis dieses nicht nur wunderbar geschriebenen, sondern auch wunderbar reifen, erfahrungsgesättigten und abgeklärten Buches? Der Rezensent glaubt, ihn in einem „Dennoch“ gefunden zu haben. Einem – manchmal tapferen, manchmal aber auch irrwitzig erscheinenden – Beharren auf dem wirklich Wichtigen. Letzterem begegnet eine Figur dieses Romans, die dem Leser nicht von Anfang an sympathisch ist, aber dann doch mehr ans Herz wächst als all die anderen, in ihren jeweiligen Rollen versteinerten Helden – Hans-Jörg Schmidt-Flex nämlich, der mal tapsige, mal sich gehörig danebenbenehmende, aber immer von Seiten des Vaters gemaßregelte Geschäftsmann ohne jeglichen Hang zu Romantik und Überschwang – auf einem nächtlichen Spaziergang. Da nämlich steht er plötzlich sich selbst gegenüber, in verwandelter Getalt, angetan mit sämtlichen Insignien des Alters. Und begreift blitzartig, dass ihm dieser Greis aus der Zukunft gesandt ist mit der Botschaft, dass „alles Unerträgliche und Schmerzliche, alle Demütigung und Peinlichkeit, auch die Einsamkeit und die Verachtung so vieler Menschen“ nichts daran zu ändern vermögen, dass er dennoch weiterlebt. Für Momente vielleicht verletzt, aber kurz darauf schon in ein heilendes Vergessen gehüllt. Es ist das Leben jenseits all der kleinen wie kleinlichen Aufgeregtheiten, die „Was davor geschah“ so humorvoll-souverän zu schildern versteht, was wirklich zählt. Und wenn Rosemarie Hopsten am Anfang des Romans einmal betont, Geld sei nicht so wichtig für das Ansehen eines Menschen, „but it adds“, so darf man das von seiner Fähigkeit, allen Fährnissen zum Trotz seinen Weg zu gehen durch das Abenteuer des Daseins, erst recht behaupten. It adds, indeed!

Titelbild

Martin Mosebach: Was davor geschah. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
336 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235625

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