Die Aura der Fotografie

Roland Barthes‘ „Bemerkung zur Photographie“ in neuem Licht

Von Daniel AmmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Ammann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die helle Kammer“ erscheint erstmals 1980, in Roland Barthes‘ Todesjahr. Der subjektive Essay zur Fotografie gilt heute als Standardwerk. Gleichzeitig ist dieses Vermächtnis des großen Semiologen auch ein Zeugnis und Relikt aus einer vordigitalen Zeit. Instant-Fotografie per Handy und Digitalkamera, virtuelle und hyperreale Bilder aus dem Computer sowie die digitale Pixelflut des Internets liegen noch in der Zukunft. Die Fotografie ist zwar bereits ein massenkulturelles Phänomen, aber Barthes hält gleich eingangs fest, dass sein Zugang ausschließlich der des Betrachters (spectator) und nicht des Machers (operator) sei: „ich bin kein Photograph, nicht einmal Amateurphotograph; dafür habe ich zu wenig Geduld: ich muß auf der Stelle sehen können, was ich gemacht habe (Polaroid? Amüsant, doch enttäuschend, außer wenn ein großer Photograph sich damit abgibt).“

Barthes nähert sich seinem Gegenstand mit philosophischer Gründlichkeit, teils systematisch, teils intuitiv und assoziativ. Anders als in seinen semiotischen Betrachtungen zur Literatur, über Film, Werbung oder die Mode scheint sich die Fotografie jedoch der methodischen Analyse zu versagen. Barthes hält sie letztlich für nicht klassifizierbar und spricht ihr gar den Status des Zeichens ab. Zu eng sei das Bild an sein Bezugsobjekt gekoppelt: „Was immer auch ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht.“ Bedingt durch ihren technisch-registrativen Charakter kommt die Fotografie beinahe ohne Zutun des Operators zustande und hebt sich als Medium gleichsam auf. In der nahtlosen Verbindung zwischen Lichtstrahlen und chemischer Substanz scheint sich der Augenblick unmittelbar, fast wie ein Abdruck, ins Trägermaterial einzuschreiben. Im Gegensatz zur Malerei weist das fotografische Abbild überdies eine unwillkürliche Informationsfülle auf, die hundertfünfzig Jahre früher schon Pioniere wie William Henry Fox Talbot fasziniert hat.

Auch für Barthes sind es zumeist nebensächliche Details, die ihn anrühren, ihm einen Stich versetzen und zu Reflexionen anregen. Dieses affektive und zufällige Moment bezeichnet er fortan als punctum und grenzt den Begriff vom studium ab, dem „Feld des kulturellen Interesses“. Über ein Dutzend ausgewählter Schwarzweißfotografien nimmt Barthes im ersten Teil zum Anlass, um der magischen Sofortwirkung der Fotografie, dem „Es-ist-so-gewesen“ auf den Grund zu gehen und in jedem Bild ein persönliches punctum aufzuspüren. Mal sind es die Spangenschuhe einer Afroamerikanerin, mal ist es der Verband am Finger eines Mädchens.

Ausgangspunkt für die Überlegungen im zweiten und privateren Teil des Essays bildet eine – im Band nicht gezeigte – Fotografie, auf der Barthes‘ Mutter als fünfjähriges Mädchen zu sehen ist. Mehr als in allen ihren Bildern glaubt der Verfasser in dieser einen Fotografie aus dem Jahr 1898 das Wesen seiner verstorbenen Mutter wiederzuerkennen. Die körperliche Anwesenheit im Foto macht die Abwesenheit und den Verlust umso schmerzlicher bewusst. Fotografie ist eine „Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin.“ In dieser Stilllegung der Zeit sind auch immer Tod und Vergänglichkeit mit eingeschrieben, denn was wir sehen, wird unweigerlich sterben. Was den Autor jedoch berührt und fasziniert, was er in seinen meditativen Überlegungen gleich einem Mantra immer wieder heraufbeschwört, ist weder die Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Bild noch das Momentum der Ähnlichkeit. Für ihn zählt einzig die Zeugenschaft, die „Beglaubigung, daß das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist“. So haftet für Barthes jeder Fotografie eine Aura des Leibhaftigen an. Diese alchimistische Verbindung zwischen Gegenstand und Bild büßt allerdings schon zu seinen Lebzeiten an Bedeutung ein und scheint sich mit der digitalen und virtuellen Wende vollends zu verflüchtigen. In neueren Ansätzen der Fototheorie spielt das fotografische Bild denn auch weniger als authentische Spur oder Kontaktabzug der Wirklichkeit eine Rolle, sondern wird vermehrt als Wirklichkeit (re-)konstruierendes Zeichen und kulturelles Kommunikat gedeutet.

Aus heutiger Sicht ist es Barthes‘ beharrliche und poetische Annäherung, die seinen Essay noch immer lesenswert und erhellend macht. „Ich kann zwar der PHOTOGRAPHIE nicht auf den Grund kommen, sie nicht durchdringen“, gesteht er am Ende ein. „Ich vermag nur meinen Blick über ihre stille Oberfläche schweifen zu lassen.“ Aber indem wir seinen verweilenden Betrachtungen folgen und zahlreiche Fotografien mit seinen Augen sehen, gewinnen wir grundlegende Einsichten in das Wesen der Fotografie und die Beteiligung des Betrachters.

Titelbild

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie.
Übersetzt aus dem Französischen von Dietrich Leube.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
138 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783518224489

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