„Kein zivilisierter Mann bricht zweimal am selben Tag zusammen“

Über Richard Yates zweiten Erzählband „Verliebte Lügner“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Keiner der Towers ging zum Fenster, um zum Abschied zu winken, aber das war auch bedeutungslos, weil keine der Bakers zurückblickte.“ So endet – vermeintlich illusionslos – der „Probelauf“ des gemeinsamen Zusammenlebens der Wirtschaftsjournalistin Elizabeth Hogan Baker, ihrer Tochter Nancy und Lucy Towers mit deren Sohn Russel und Tochter Alice. Doch Yates wäre nicht der Chronist der Kehrseite des american way of life einer US-amerikanischen Mittelschicht der 1930er- bis 1960er-Jahre im vergangenen Jahrhundert, als den ihn das deutschsprachige Publikum nach der Wiederentdeckung seines ersten Erzählbandes „Elf Arten der Einsamkeit“, den Romanen „Easter Parade“, „Zeiten des Aufruhrs“ und dessen Verfilmung mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio seit einigen Jahren wahrgenommen hat, wenn dieser zerplatzte Traum eines gemeinsames Lebens tatsächlich das Ende der Geschichte markieren würde. Vielmehr jagt Elizabeth einer neuen Illusion hinterher. So beendet ihr (selbst)beschwörender Ausruf „Hör mal, es wird alles gut werden, Liebes. Alles wird gut werden“ nicht nur den „Probelauf“, sondern unterstreicht einmal mehr ironisch, dass nichts gut werden kann, solange sie sich selbst belügt.

Damit entpuppt sich der „Probelauf“ letztlich als Kreislauf, der mit Elizabeths beruflicher Selbstüberschätzung als Journalistin beginnt: „,Versteht ihr das?‘ fragte sie, normalerweise abends und nach ein paar Drinks. ‚Ich komme aus einer Bauernfamilie, schaffe es durchs College, nehme einen lausigen kleinen Job bei einer Kleinstadtzeitung an, weil er gut genug scheint, um ein, zwei Jahre die Zeit totzuschlagen, und dann das. Dann das. Versteht ihr das?‘ Niemand verstand es. Ihre Freunde – und sie hatte immer Freunde, die sie bewunderten – waren einhellig der Meinung, daß sie Pech gehabt hatte. Elizabeth war viel zu gut für die Arbeit, die sie machte, und für das Umfeld, das sie ihr aufzwang.“

Das Gefangensein in den eigenen Illusionen, die Jagd nach Glück, nach Erfolg und Anerkennung entpuppt sich auch in den sechs weiteren Kurzgeschichten in Yates‘ zweitem Erzählband „Verliebte Lügner“ als Hauptkennzeichen aller Protagonisten. Yates’ Helden sind wie auch Irene Disches Helden im Erzählband „Fromme Lügen“ „emotionale Selbstversorger“, die sich permanent selbst belügen.

So wie Helen in der Eingangserzählung „Ach, Joseph, ich bin so müde“ als nicht einmal mittelmäßige Bildhauerin davon träumt, dass ihre „charmanten Werke eines Tages den schönsten Gärten Amerikas zur Zierde gereichen werden“ und ihr „Atelier der beliebteste Treffpunkt“ für Künstler sein würde. Helen, selbst in den Augen des erzählenden Sohnes „keine wirklich gute Künstlerin“ und bislang auf „Gartenstatuen“ spezialisiert, sieht sich in ihrer Fantasie und ihren vermeintlich guten Beziehungen bereits eine Büste des gerade gewählten neuen Präsidenten „Franklin D. Roosevelt“ anfertigen: „Einer ihrer besten Freunde und ein Nachbar in dem Hof in Greenwich Village, in dem wir wohnten, war ein liebenswürdiger Mann namens Howard Whitmann, der vor kurzem seine Stelle als Reporter bei der New York Post verloren hatte. Und einer von Howards früheren Kollegen bei der Post arbeitete jetzt im Pressebüro von Roosevelts New Yorker Hauptquartier. Dadurch hätte sie leichten Zugang – oder, wie sie sich ausdrückte, ein Entree –, und sie war zuversichtlich, daß sie von dort allein weiterkäme. In jenen Tagen war sie bei allem, was sie tat, zuversichtlich, doch konnte sie das schreckliche Bedürfnis nach Beistand und allseitiger Anerkennung nicht ganz überspielen.“

Solche Fantasien werden jedoch alsbald im Weißen Haus ziemlich demütigend für Helen beendet. Ihre Alkoholsucht und ihren Antisemitismus konstatiert der Sohn ebenso lakonisch wie ihre gescheiterten Affären. „Sie war einundvierzig, ein Alter, in dem sogar Romantiker zugeben müssen, daß die Jugend vorbei ist, und sie hatte nichts vorzuweisen als ein Atelier, vollgestopft mit grünen Gipsstauen, die niemand kaufen wollte. Sie glaubte an die Aristokratie, aber es gab keinen Grund zu der Annahme, daß die Aristokratie jemals an sie glauben würde.“

Auch Warren Mathews, amerikanischer Fullbright-Stipendiat in London, jagt wie seine Frau Carol, die sich von ihm trennt und mit den Kindern nach Amerika zurückehrt, in der Titelerzählung einer Lüge hinterher. Desgleich auch seine neue Geliebte Christine Phillips, eine 21-jährige Prostituierte, von der sich Warren ob seiner vermeintlichen Qualitäten als Liebhaber geliebt glauben möchte. Letztlich eine Illusion, der auch Susan Andrews Vater in der Erzählung „Ein natürliches Mädchen“ anhing, bis ihm eines Tages seine Lieblingstochter Susan seelenruhig erklärt, „daß sie ihn nicht mehr liebe“. Für den angesehenen Hämatologen Eward Andrews ein Schock: „Er saß ein paar Augenblicke da wie vor den Kopf gestoßen und begann zu weinen, tief nach vorn gebeugt, um sein Gesicht vor ihr zu verbergen, mit einer unsicheren Hand versuchte er, ein Taschentuch aus seinem dunklen Anzug zu ziehen.“ Der Schock wirkt noch während der Heimfahrt vom Studentenheim zu seiner Frau und den sechs jüngeren Töchtern nach, „aber er bekämpfte die Tränen, weil er auf den Verkehr achten mußte und weil seine Frau und seine jüngeren Mädchen zu Hause auf ihn warteten, und weil alles andere, was seinem Leben Sinn verlieh, ebenfalls auf ihn wartete; und außerdem brach ein zivilisierter Mann nicht zweimal am selben Tag zusammen.“

Yates, 1926 in Yonkers, New York, geboren und – nach jahrelanger Alkoholkrankheit – 1992 in Kalifornien im Alter von 66 Jahren vereinsamt und verarmt gestorben, zählt nach seiner Wiederentdeckung, nicht zuletzt befördert durch Autoren wie Richard Ford und Joyce Carol Oates, zu den wichtigsten Stimmen der amerikanischen Erzählliteratur im 20. Jahrhundert. Und das mit Recht, wie auch der vorliegende Erzählband „Verliebte Lügner“ eindrucksvoll bestätigt.

Titelbild

Richard Yates: Verliebte Lügner.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anette Grube.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
320 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421058607

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