Emotionale Selbstversorger

Irene Disches Erzählband „Fromme Lügen“ in einer Neuauflage

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur die Kreter lügen, sondern „Die Menschen lügen. Alle“ lautet Arnold Stadlers Übertragung von Psalm 116 aus dem Alten Testament. Das Thema der menschlichen Lüge in all ihren Facetten ist für den Büchnerpreisträger von 1999 derart kennzeichnend für die alttestamentlichen Klagepsalmen, dass er seine Neuübertragung im Jahr der Büchner-Preisverleihung unter den gleichnamigen Titel stellte.

Diese allzumenschliche Eigenschaft führen auch Roger Willemsen und Traudl Bünger in ihrem Dialog unter dem Titel „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Die Weltgeschichte der Lüge“ ebenso unterhaltsam vor Augen, wie Peter von Matt in der ihm eigenen Klarheit eindrucksvoll belegt, dass die Themen Lüge und Verrat gleichermaßen Grundkonstanten von Literatur sind.

So etwa rehabilitierte Joachim Zelter, der gerade mit seinem gelungenen Roman „Der Ministerpräsident“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis vertreten ist, vor zehn Jahren in der ihm eigenen satirisch-witzigen Art und mit ungeheuerer sprachlicher Rafinesse diese menschliche Eigenschaft in seinem „Bildungslügenbericht“, wie der Untertitel seines Romans „Die Würde des Lügens“ lautete.

In ihren bereits 1989 erstmals auf Deutsch erschienenen Erzählungen greift auch die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Irene Dische, Jahrgang 1952, mittlerweile als „ZEIT“-Publizistin und Autorin von Büchern wie „Ein Job“, „Großmama packt aus“ und „Lieben“ einem breiten Publikum bekannt, das Thema der Lüge im Titel auf. Die 2007 wieder neu vorgelegten sieben Erzählungen um große und kleine Unwahrheiten im Alltag gibt es nun auch seit geraumer Zeit in der Taschenbuchausgabe.

„Eine Jüdin für Charles Allen“, „Mr. Lustgarten verliebt sich“, „Ein kleiner Selbstmordversuch“, „Der geschmuggelte Ehering“, „Hintergedanken eines Überläufers“, „Nanny Jackies Passion“ und die Titelerzählung „Fromme Lügen“ verbindet eine mindestens doppelte Lüge. Die einzelnen Protagonisten belügen nicht nur jeweils andere, meist sogar mehrere andere, sondern als „emotionale Selbstversorger“, wie Dr. Hake in „Fromme Lügen,“ in erster Linie sich selbst. Am eindrucksvollsten sind dabei die erste und letzte Geschichte dieses Bandes.

In „Eine Jüdin für Charles Allen“ lügen alle Protagonisten, obwohl Charles Allen zu Beginn der Erzählung bei seiner Ankunft in Berlin als einer vorgestellt wird, der „Mühe hatte, zu lügen,“ als er auf sein gutes Deutsch angesprochen wird. Zufällig ist, als er vom Tod seines früh nach Deutschland übersiedelten Vaters Johannes Allerhand erfährt, sein Jahresurlaub fällig und der Junggeselle und Buchhalter einer Klosterverwaltung gehorcht der Mutter Oberin, die ihn zum Ausspannen auffordert. „Er ging“, heißt es im lakonischen Dische-Ton, der allen Erzählungen zu eigen ist, „in ein Reisebüro, und da ihm kein anderes Reiseziel einfiel, buchte er dreißig Tage Berlin. Am achtundzwanzigsten Tag seines ersten Urlaubs fühlte Charles Allen sich mit Berlin schon ganz vertraut. Er hatte alle Sehenswürdigkeiten abgeklappert und fast alle süßen Sachen probiert, die in den besseren Cafés angeboten wurden.“

Nun erinnert er sich plötzlich seiner Erbschaft. Er sucht den Laden seines Vaters John auf. Es ist ein Antiquitätenladen namens „Schöne Heimat“. Dort lernt er Esther kennen, die angeblich einst vom jüdischen Antiquitätenhändler Allerhand, einem „sentimentalen Tyrannen“, unter der Berliner Mauer hindurch in den westlichen Stadtteil gezogen wurde. Esther dehnte im Laufe der Jahre ihre Macht immer weiter aus – wie sie auch Charles spüren lässt – und ist die eigentliche Chefin des Ladens: „Das beste Geschäft sind die christlichen Artikel, brillantenbesetzte Rosenkränze, antike Kruzifixe, Weihrauchfässer, Pyxiden und Reliquien.“ Und vor allem auch jede Menge Kerzen.

Im Laufe der Jahre perfektioniert das „Finanzgenie“ Esther ihre vermeintliche jüdische Identität. Am Schluss hilft ihr – in Anwesenheit ihrer Mutter – vor Charles, der ihr sein Erbe überlassen will, nicht einmal mehr die perfide Lüge, wonach die Mutter eigentlich eine haßerfüllte Stiefmutter sei. Sein eigenes Versagen kaschiert Charles nun mit Gewalt: „Trotz seiner Größe war er leicht gebaut, aber er war nicht aufzuhalten, die Energie in ihm verzehrte den Brennstoff von sechsundreißig Jahren: er riß sie auseinander, ihre Kleider, ihre zusammengepreßten Arme und Beine, seine Bewegungen liefen auf dem Plastikrasen ab wie bei einem simplen Motor: Er vergewaltigte sie.“

Wie in „Ein kleiner Selbstmordversuch“ Frau Dank ihr Dienstmädchen Olga B. belügt und diese wiederum ihre Arbeitgeberin, so belügt auch der alte Mr. Lustgarten seine beiden Söhne und diese ihren alten Vater. Sie sind genauso betrogene Betrüger wie die Pathologin Dr. Conny Bauer in „Fromme Lügen“, die in ihrem erzkonservativen katholischen Großvater Carl Bauer den in den USA untergetauchten Adolf Hitler verborgen glaubt. „Dank“ der „frommen Lüge“ ihres Kollegen Dr. Ronald Hake bringt diese Lüge dem alten Großvater, der in Wahrheit vor den Nazis nach Amerika geflohen ist, darüber aber nie gesprochen hat, den Tod. Denn als das Anwesen Carl Bauers, alias Hitler, von Reportern vom „National Inquirer“, die wiederum einen Tipp von der Polizei und die wiederum von Dr. Hake, dem vermeintlichen Geliebten von Conny Bauer, erhalten hatte, belagert wird, stirbt er: Gewohnt lakonisch-ironisch heißt es bei Dische: „Die Vorsehung ließ Carl Bauer unter den Händen seines Dienstmädchens sterben, während Happy [der Hund; A.K.] versuchte, seine Ehre zu verteidigen.“

Nicht alle Geschichten werden derart überspitzt und mit sprechender Symbolik manchmal eine Spur zu stark ins Groteske übersteigert. Sie alle eint aber ein gleichermaßen tragisch-komischer Zugriff auf eine menschlich-allzumenschliche Schwäche. Auch mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen gilt das „ZEIT“-Urteil, mit dem der Einband wirbt: „Die frommen Lügen, von denen Irene Dische erzählt, gehen grotesk schief und tragisch bis komisch aus. Sie sind uneingeschränkt zu empfehlen.“

Titelbild

Irene Dische: Fromme Lügen. 7 Erzählungen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Otto Bayer und Monika Elwenspoek.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
304 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783455400298

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