Blumenspiele

Zu Arne Rautenbergs Lyrikband „gebrochene naturen“

Von Kai SinaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sina

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verhältnis der modernen Literatur zur Natur ist ein problematisches, insbesondere im Bereich der Lyrik. Im 20. Jahrhundert erfuhr das Genre der Naturlyrik seine letzte Renaissance bei ‚Naturmagikern‘ wie Wilhelm Lehmann oder Oskar Loerke, die eine mythisch überhöhte Natur als Gegensatz zur modernen Welt der Entfremdung und Zerstörung entwarfen. Eine Hinwendung ins unverfängliche, weil unpolitische Terrain, die mit einer Abwendung von brisanten historischen Wirklichkeiten einher geht: Diesen Vorwurf des Eskapismus, der mittlerweile als ziemlich verkürzt nachgewiesen wurde, hat man in späteren Jahren vielfach erhoben. Die Natur im Gedicht findet sich dann in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht selten in Form einer politisch akzentuierten ,Ökolyrik’, die kaum noch romantische Mythisierung, sondern eher die Angst vor einer drohenden Umweltkatastrophe kennzeichnet.

Seit einiger Zeit schon lassen sich Tendenzen zurück zur Natur feststellen, die nicht – oder zumindest nicht mehr oder nicht mehr ausdrücklich – die Sorge vor ihrer Zerstörung kennzeichnen. Dabei sind es vor allem jüngere Künstler, die sich dem lange Zeit so problematischen Feld wieder zuwenden. Seien dies, um nur einige Beispiele zu nennen, Andreas Maier und Christine Büchner, die in „Bullau. Versuch über die Natur“ (2006) den „Transzendenzschub“ schildern, den der Anblick von Ehrenpreis und Kleiber verursachen kann, und im gleichen Atemzug der Naturdichtung eines Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) ihre Reverenz erweisen. Sei dies der Songwriter Jochen Distelmeyer, der auf dem letzten Blumfeld-Album „Verbotene Früchte“ (2006) den „Schnee“, den „Apfelmann“ und die „Tiere um uns“ bedichtet. Oder seien dies junge Lyriker wie etwa Nico Bleutge, Marion Poschmann oder Ron Winkler, die wieder Interesse am Urwüchsigen zeigen, was wiederum die Organisatoren der Frankfurter Lyriktage dazu bewog, sich 2009 schwerpunktmäßig der „Natur, lyrisch“ zu widmen.

Auch Arne Rautenberg aus Kiel legte im letzten Jahr einen Gedichtband vor, der sich der Natur nähert, wenn auch aus vorsichtiger Distanz – darauf deutet schon der Titel „gebrochene naturen“ hin. Der Titel macht von vornherein klar, dass es keinen naiven Zugang des Gedichts zur Natur geben kann, dass sich ‚die Natur‘ aufspaltet in unterschiedliche Imaginationen, in ‚Naturen‘ eben, die immer schon gestaltet sind. Diesen Aspekt betont deutlich auch die Abbildung auf dem Buchumschlag: eine aus Papierfetzen und Verpackungsmüll arrangierte Form, ein grob zusammengetackertes Ding, in dem man eine Blume erkennen kann (und das als lockerer Verweis auf Rautenbergs Roman „Der Sperrmüllkönig“ von 2002 lesbar ist). Die Natur zeigt sich in dieser vom Autor selbst angefertigten Collage als ein Gebilde, das sich aus unzähligen Versatzstücken des alltäglichen Lebens zusammensetzt.

Diese Distanzbewegung setzt sich in den Texten selbst fort, besonders prägnant in einer literaturgeschichtlichen Abwendung: „von einem alten deutschen baum / fiel ab ein altes deutsches blatt / flog aus nem alten deutschen traum / auf eine alte deutsche stadt“. Vier Verse, viermal das Wort alt: Klarer kann man die Mythisierung des deutschen Waldes in und seit der Romantik nicht von sich weisen. Die Kehrseite dieser negativen Arbeit am Mythischen besteht im Rückgewinn eines abgenutzten Terrains, einer literarischen Bewegungsfreiheit in Sachen Natur, die Rautenberg zu nutzen weiß. Man erkennt dies bereits, ohne mehr als Überschriften gelesen zu haben, an den verspielten Figurengedichten, die sich in die Tradition des barocken Manierismus wie auch der Konkreten Poesie einschreiben: Die „schwindende nacht auf der gänseblümchenwiese“ wird durch einzelne Buchstaben verbildlicht, die, wie Blumen auf der Wiese, wild über das weiße Papier getupft sind. Wer sich darum bemüht, kann die Buchstaben zu Worten, die Worte zu einem Satz verknüpfen, der die „schwindende nacht“ mit einem weiteren Bild verbindet: „mit dem morgen licht tragen metallisch glänzende stare die sterne“. In anderen Gedichten des Bandes bildet der Textkörper einen Blütenkopf oder einen Rosenstiel.

Rautenberg entwirft verwirrende Bild- und Sprachwelten, die sich dem Unterfangen einer naturgetreuen Darstellung der Naturphänomene entschieden entziehen. Es wäre ja ohnehin vergeblich: Was wir die Natur nennen, bildet sich aus „millionen zerbilder(n)“, die den „sand“, die „sonne“, die „muscheln“ niemals treffen. Auf diese Weise – frei von abgestandenen Traditionen, frei vom Zwang vorgestanzter Semantiken – entstehen nicht selten erstaunlich treffende Schilderungen jenseits aller Klischees, wie etwa in dem Gedicht „milden“, ein klanglich anspruchvolles Spiel mit Assonanzen, das dem Leser einen letzten warmen Nachmittag im Spätsommer vors innere Auge führen mag: „wirklich die letzten weich heizenden / vergilbten sand bleichenden strahlen // wirklich die letzten weich beizenden / kamilleblut tragenden schwaden“.

Die Umgehung eindeutiger Sinnzuweisung ist verbunden mit dem Verzicht auf eine Verbindung der einzelnen Bilder zu einer Ganzheit, die man dann ‚die Natur‘ nennen könnte. Zwar sind die knapp 80 Gedichte nach dem Zyklus der Jahreszeiten geordnet – das ist dann aber auch das einzige allgemeine Ordnungsprinzip, dem dieser Band folgt. Die Gedichte selbst ergehen sich in Einzelbelichtungen, in Momentaufnahmen, die keinerlei Rückbindung an eine im Hintergrund wirkende, möglicherweise theologisch oder biologisch zu erklärende Organisation des Ganzen zulassen. „der fall eines schweren tulpenblütenblatts“, „das runde weiße kirschblütenblatt“, „drei goldene wespen“, „der erste frost“: Alles ist, was es ist – warum es ist, bleibt offen. Keine Erklärungen liefert uns das Ich, das die Gedichte, aber immer wieder auch in diesen Gedichten spricht, sondern Beobachtungen und Wahrnehmungen aus einer betont subjektiven Perspektive, dann und wann hinüberspielend in Reflexionen über das Dichter-Ich und die Dichtung, eingängige Verse, die wiederum mehr Fragen als Antworten zu bieten haben – und dabei zeigt sich nicht zuletzt der Dichter selbst als eine gebrochene Natur: „was hocken die krähen auf der straße / was hacken sie an einer nuss / was drückt mich über die maße / was denke was schreibe ich bloß / was bin ich jenseits vom rampenlicht / was sind die krähen was ist ein gedicht“.

Was ist ein Gedicht? Zumindest für die hier vorliegenden Naturgedichte lassen sich einige Antworten ableiten – das Bewusstsein, dass es keine Natur hinter der Sprache und hinter den Bildern gibt; der ehrgeizige Anspruch, Sprachbewegungen und Bildwelten jenseits abgenutzter Traditionen und sprachlicher Konventionen zu finden; die sich aus diesem Ehrgeiz ableitende Tendenz zur figuralen Variation, semantischen Verwirrung und dominant klanglichen und rhythmischen Vermittlung; die Verweigerung einer Weltdeutung, die über den Horizont des beobachtenden, erlebenden und sprechenden Ichs hinausgeht; die Schilderung eines ganz und gar irdischen Vergnügens, das ebenso wenig durch Gott wie durch die Evolution erklärt werden kann und muss.

Zugegeben, das vermittelt für sich genommen noch keinen angemessenen Eindruck von Rautenbergs Gedichten. Die Tatsache, dass diese Lyrik trotz der anspruchsvollen Freilegung neuer naturlyrischer Spielräume leicht und verspielt, streckenweise sogar eingängig wie ein Popsong daherkommt, dass diese Gedichte in der Tat „niemals langweilig“ werden, wie der Autor selbst in einem Essay zur Poetik fordert, bereitet ein ganz und gar ungebrochenes Lesevergnügen.

Titelbild

Arne Rautenberg: Gebrochene Naturen.
luxbooks, Wiesbaden 2009.
81 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783939557920

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