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Rainald Goetz wechselt in seinem Buch „elfter september 2010“ zum Fotobuch und bleibt dem erlebten Moment so fern wie je

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Kernthema Rainald Goetz’ ist von Anfang an im Verhältnis von Literatur und erlebtem Leben, wie man etwas altertümlich sagen kann, zu finden gewesen. „subito“ handelt davon und noch in seinen letzten, als Internettagebüchern geschriebenen Publikationen (etwa. „klage“ aus dem Jahr 2008) bleibt die Frage, ob Texte das Erlebte einholen können, unbeantwortet. Die Mühe bleibt und ist in allen Schreibformen Goetz’ sichtbar, sein Ziel erreicht der Autor also nicht, was eben weitere Bemühungen erlaubt.

Öffentlich begonnen hat Goetz mit jener berühmten, seinerzeit aber soweit wie möglich unterdrückten Performance beim Bachmann-Preis, bei der er nicht nur las, dass er (der Erzähler) sich die Stirn aufschlitze, sondern der Autor und Vorleser machte das Geschriebene wahr, was als einigermaßen unappetitlich nicht das Wohlwollen der Veranstalter fand, irgendwann aber wohl als skandalöse Provokation und berühmter Akt in die Literaturgeschichte eingehen wird.

Im Grund hat Goetz das Interesse an der Materialität des literarischen Lebens bis heute nicht verloren. Seine großen, als Romane vermarkteten Texte „Irre“ (1983) und „Kontrolliert“ (1988) hasteten der verlorenen Einheit von schlichtweg Allem, der verlorenen Unschuld des Menschen ebenso hinterher, wie es der Blog- und Internet-Tagebuchschreiber der späten Jahre tun würde. Dass das ein zutiefst romantischer Gedanke ist, der damit an Wirkungskraft nichts verliert, ist wohl auch Goetz bekannt. Aber es wird ihn ebenso wenig scheren wie die Lobreden, mit denen ihn das Feuilleton überschüttet. Wen interessiert der Betrieb, wenn es um Alles geht. Dass Goetz allerdings von diesem Unbedingtheitsgestus nicht lassen will, trotz seiner vergeblichen Anläufe, zeigt immerhin seine Konsequenz, oder – wahlweise – wie sehr er sich mittlerweile lächerlich macht.

Denn die Attitude des jugendlichen Ravers steht – konventionell gesprochen – dem mittlerweile 56-Jährigen nicht mehr, es sei denn, wir hätten auch in dieser Kohorte (wie man das wohl nennt) ein ähnliches Phänomen wie im nicht minder jugendversessenen Rock-Genre. In Würde als Rockstar altern mag einen Versuch wert sein, aber wem ist das gelungen? Ebenso im Fall des Ravers und unbedingten Schreibers Goetz? Man darf skeptisch sein, was aber wohlfeil ist. Denn einen Versuch ist es allemal wert.

Mit „elfter september 2010“ wechselt Goetz nun aus dem schriftlichen ins fotografische Fach. Er präsentiert Fotos aus dem letzten Jahrzehnt, aufgenommen vom ungeduldigen Autor selbst. Momentaufnahmen eines Jahrzehnts, die jedoch unentschieden nebeneinander stehen, und das, obwohl Goetz sie in drei Kapitel und nach Jahren abfolgend anordnet.

Zu sehen sind Aufnahmen von Personen des öffentlichen Lebens, Aufnahmen von der jüngsten Bundesversammlung, Schnappschüsse aus dem Clubleben, Feiernde und sich Präsentierende, feixende Semiprominenz und abgehetzte Nachtschwärmer. Dazwischen Detailaufnahmen, Porträts und Stillleben aus dem Alltag Goetz’, der sich in der kulturellen Schickeria Berlins bewegt, im Weichbild der politischen Szene, zu der er aber immer auf Distanz bleibt. Goetz beobachtet sie. Mehr nicht.

Unter seinen Aufnahmen findet sich so manch gelungene Fotografie, die aber ebenso beliebig ist wie die benachbarten Fotos, die so oder ähnlich auch von Fotografen ohne literarische Ambitionen stammen könnten. So wenig Wirkung die Fotografien einzeln oder im Ensemble entfalten, so wenig hilfreich sind auch die knappen Textzeilen, mit denen Goetz den Band versieht. Diese Texte kommentieren nicht das jeweilige Bild oder die Bildfolgen, sie sind ihnen assoziativ zugeordnet, auch wenn sie wie Bildunterschriften aussehen.

Sinn (der Sausinn, wie der junge Goetz schrieb?) – wird wohl in seiner Bedeutung überschätzt. Erzählung – ist ein fraktales Genre, zumindest in den Fassungen, in denen Goetz Erzählungen in den letzten Jahren vorlegt.

Naheliegend ist der Vergleich mit den großen Textbild-Montagen Rolf Dieter Brinkmanns – sowieso eine der Hauptreferenzen des Autors Goetz, der Brinkmanns automatische, direkte Schreibexperimente noch radikalisierte, noch weiter ins Extrem trieb. (Im Titel des dritten Kapitels „Werkwärts 3 & 4“ ist Brinkmann sogar als Memorialstück präsent.)

Aber wo Brinkmann (zumindest im Spätwerk) eigene Fotos, Fundstücke und Texte kombinierte, behauptet Goetz das Foto, das seine Handschrift trägt. Die ordnende Hand des Autors zieht sich noch mehr zurück und ist letztlich nur noch im Bildausschnitt und in der Bildabfolge zu finden. Beides ist jedoch nicht stark genug, um so etwas wie Kohärenz zu erzeugen, es sei denn in der kontemplativen Rezeption, die über das Blättern zur Trance zur Bedeutung findet.

Und dennoch, auch wenn Beliebigkeit als ästhetische Kategorie allzu schwach sein mag, der Band ist in sich schlüssig und arrondiert das Werk Goetz, in das es sich durch die Werkzählung nicht minder beliebig einordnet.

Bleibt nur noch die Ausgangsfrage: Aber auch hier das Immergleiche. Denn Goetz kommt auch in der Fotografie dem gelebten Augenblick keinen Schritt näher, sondern bewegt sich auf ihn nur von einer anderen Seite zu. Dabei findet er eine Handschrift, die in ihrer Radikalität in der Literatur selten ist, und knüpft damit immer noch an den Text und den Auftrag von „subito“ an, jenen Text, den er beim Bachmann-Preis las. In der Fotografie ist das möglicherweise anders, aber in seiner Präsentation behauptet Goetz auch gegenüber den Spezialisten des fotografischen Genres seine Eigenständigkeit, und dazu ist ihm zu gratulieren.

Titelbild

Rainald Goetz: elfter september 2010. Bilder eines Jahrzehnts.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
224 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422076

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