Das wird man ja wohl noch ignorieren dürfen

Thilo Sarrazin und kein Ende: Warum diese Ausgabe keine Rezension des neuesten Skandal-Bestsellers enthält

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Alle reden und schreiben nun schon seit Wochen über Thilo Sarrazins angebliche Tabubrüche, die doch nichts weiter als den handelsüblichen Rassismus darstellen. Juden hätten ein spezielles Gen, erklärt uns der Mann aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ allen Ernstes – und auch, dass die muslimischen Migranten in Deutschland im Schnitt alle so doof seien, könne nur biologische Gründe haben.

Die „Bild“-Zeitung oder auch übliche Verdächtige wie Klaus von Dohnanyi oder Wolfgang Clement laufen als ungebetene Verteidiger dieser ollen Kamellen aus der Rumpelkiste des Biologismus und ihres Multiplikators Sarrazin zu ganz neuer Form auf – und sie sind keineswegs allein. Die abgedroschene rhetorische Figur der Rechten, dieses und jenes werde man in unserem Lande doch heute wohl noch sagen dürfen, hat wieder Hochkonjunktur: Allenthalben wird plötzlich wieder so getan, als stelle die an sich selbstverständliche Verurteilung eines sozialdarwinistischen Populismus, wie er mittlerweile auch von anderen „Elite“-Vertretern à la Norbert Bolz in Zeitschriften wie dem „Merkur“, der sogenannten „Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“, immer frecher salonfähig gemacht wird, eine meinungsbestimmende Zensur von „unbequemen“ Wahrheiten dar. „Linke Ideologen“ indoktrinierten unser Bewusstsein, wird von solchen Flegeln mit Professorengehalt gerne behauptet: Abgehalfterte ‘68er-„Gutmenschen“ hätten im Lande das Sagen, die dem „gesunden Menschenverstand“ – der früher übrigens auch schon einmal „Volksempfinden“ hieß und heute gerne mit den „berechtigten Sorgen der Bürger“ identifiziert wird – mit einem verlogenen „anti-autoritären“ Habitus machtvoll Einhalt geböten.

Selbst eine mit Preisen überhäufte Schriftstellerin wie Monika Maron, offenbar auf der Suche nach einem neuen eigenen Opfer-Rollenmodell nach 20 Jahren ,berufsmäßigen’ Ex-DDR-Dissidentinnentums, stimmt in der „Welt“ in die allgemeine Paranoia mit ein und sieht bereits Deutschlands baldigen kulturellen Exitus voraus: „Ich weiß nicht, wie lange Europa auf diesen Untergang warten kann und ob der Islam seinen religiösen und politischen Anspruch aufgibt, bevor die Muslime in Deutschland die Bevölkerungsmehrheit bilden. Es ist wohl vor allem ein demografisches, aber auch ein ökonomisches Problem. Ich bin Schriftstellerin und hoffe natürlich, dass die deutsche Literatur im Gedächtnis der deutschen Bevölkerung bleibt, wie immer sie sich zusammensetzt. Sehr optimistisch bin ich nicht.“

Angesichts derartiger Hysterien ist es wohl kein Verlust, dass die Oktober-Ausgabe von literaturkritik.de zur Abwechslung einmal keine Rezension von Sarrazins Skandal-Buch enthält – immerhin aber eine ausführliche Glosse zum Thema. Abgesehen davon haben wir uns aber zuletzt lieber wieder der Literatur zugewandt, uns auf die Frankfurter Buchmesse vorbereitet und für die betreffende Rubrik bereits einen Gutteil der für den Deutschen Buchpreis nominierten Bücher besprechen lassen. Doch dieser üblich gewordene Mainstream- und Bestseller-Rummel sollte den Blick auf die Fülle der Herbst-Publikationen nicht verengen. Manchmal sind zum Beispiel auch Neuauflagen älterer literarischer Meilensteine ein veritables Ereignis: Ein regelrechter Betonklotz von einem Buch, das in unserer neuen Ausgabe ebenfalls noch nicht besprochen werden konnte, aber in unserer kommenden November-Nummer berücksichtigt werden wird, dürfte für einige Aufmerksamkeit sorgen: Arno Schmidts „Zettel’s Traum“. Die gesetzte Fassung des berühmten, aber bisher immer noch nur von Wenigen gelesenen Riesenromans, erscheint am ersten Oktober 2010 nach langjährigen Bemühungen Friedrich Forssmanns und der Arno Schmidt Stiftung in einer typografisch generalüberholten Form. Für’s Erste seien Interessenten unter unseren Lesern auf zwei Blogs verwiesen, die sich dem Thema in den kommenden Wochen ausführlicher widmen werden: schauerfeld.de und zettels-traum-lesen.de.

Einen schönen Herbst und viele gute Lektüren jenseits des unsäglichen Geschwätzes auf allen Kanälen kollektiver Verdummung wünscht Ihnen
Ihr
Jan Süselbeck