Wenn die Wörter versagen

Birthe Klementowskis Multimedia-Band über die Euthanasie in Hadamar

Von Irina GradinariRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irina Gradinari

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ehemalige Landesheilanstalt in Hadamar (Hessen) könnte auch heute noch als Krankenhaus dienen, wenn nicht der Schrecken der Euthanasie wäre, die während des Krieges zu ihrer Geschichte wurde und bis heute noch als Beispiel von präzedenzlosen Gräueln gilt. Die grausame Ironie besteht darin, dass eben jener Ort medizinischer Versorgung, der eigentlich der Humanität verpflichtet ist, zu einer von sechs Gasmordanstalten wurde. Das Multimedia-Buchprojekt „Stille / Silence“ der jungen, ambitionierten Künstlerin Birthe Klementowski, herausgegeben 2009 vom Film- und Kulturwissenschaftler Marcus Stiglegger, widmet sich diesem auch heute noch kaum öffentlich diskutierten Thema Euthanasie. Es erzählt, ja registriert fast wie in einem Protokoll den Tötungsablauf in Hadamar. Die im Buch enthaltenen Schwarzweißfotografien folgen dem Todesweg der Opfer. Von der friedlich aussehenden Gebäudefassade, hinter der sich die Mordmaschinerie versteckte, führt das Buch über die Busgaragen, in denen die Kranken „angeliefert“ wurden, in die Duschen ähnlichen Gaskammern und schließlich zum Krematorium. Frappierend ist es zu sehen, dass trotz der demonstrativen Überzeugung der Täter von der nationalsozialistischen Ideologie die perfide Tötungsprozedur selbst sorgfältig verheimlicht wurde – was darauf hindeutet, dass auch ihnen bewusst war, dass sie ein Verbrechen begingen.

Das Programm der Menschenvernichtung richtete sich gegen alle diejenigen, die angeblich „Minderwertigkeitsmerkmale“ aufwiesen. Das allein auf den Holocaust zentrierte kollektive Gedächtnis Deutschlands verdrängt die Erinnerungen an diese Opfer des Nationalsozialismus bis heute. In Hadamar wurden rund 15.000 Menschen ermordet, bei denen physische oder geistige Behinderung diagnostiziert oder zumindest behauptet wurde – in beiden Fällen eine grauenerregende Vorstellung. Wie können diese Opfer in Erinnerung behalten werden, wo es doch keine Zeugen, keine Überlebenden gibt? Wie lässt sich an sie erinnern, ohne in vulgäre oder triviale Ausdrucksformen abzugleiten? Auf welche Weise können solche Verbrechen, die sich jeglichem Verstehen entziehen, dargestellt und aufgearbeitet werden? Welche Ästhetik ist angemessen?

Das Projekt „Stille / Silence“ widmet sich daher nicht nur dem Thema Euthanasie, sondern problematisiert auch die Form der traumatischen Erinnerungen selbst. Klementowski löst das Problem des Unrepräsentierbaren über eine multimediale Ausdrucksweise, als Interaktion zwischen verschiedenen Medien, die Sprachlücken mit Bild und Klang ausfüllt, um diese Unrepräsentierbarkeit geradezu auszustellen. Die Fotos versetzen die Betrachter nicht in die Vergangenheit. Die Bilder zeigen keine Opfer- oder Täterfotos, keine Dokumente. Sie manifestieren die danach verbreitete Leere als Vergegenwärtigung des Todes. Leere Räume repräsentieren das Nichts selbst, das im Kontrast zu den durch die Fenster dringenden Sonnenstrahlen nur noch stärker hervorgehoben wird. Die Menschen sind tot. Geht das Leben trotzdem weiter? Es gibt keine Antwort – Stille breitet sich in den ehemaligen Mordräumen aus. Sie manifestiert das Versagen der Wörter. Denn es gibt keine Sprache, die imstande wäre, den Tötungsablauf zu beschreiben und an alle Opfer zu erinnern.

Der Klang wird zum Ausdruck der menschlichen Verzweiflung, Angst, Demütigung und des Gefühls ausgeliefert zu sein. Das Projekt beinhaltet eine CD mit einem 40-minütigen Track, dem es gelingt, das Schrecken über das Vorsymbolische beziehungsweise Außersprachliche zu artikulieren, wenn man plötzlich zwischen Pausen und Dissonanzen einen menschlichen Atemzug hört. Diese unerwartete Intimität des Klangs hebt im Kontrast mit den entleerten Räumen die Unerträglichkeit der Stille hervor. Vielleicht sind das die Stimmen der verstummten Opfer?

Das Multimedia-Projekt von Birthe Klementowski ist sicher ein wichtiges künstlerisches Projekt unserer Zeit, das nicht nur zur Vergangenheitsreflexion bewegt, sondern auch neue Ausdrucksformen findet, die traumatischen Nachkriegserinnerungen zu gestalten und sie aufzuarbeiten – ein Beispiel für die Möglichkeit der Repräsentation des Unrepräsentierbaren. Für Interessierte hält das Buch darüber hinaus weitere Informationen zu Hadamar und ein Interview mit der Künstlerin bereit.

Titelbild

Marcus Stiglegger (Hg.) / Birthe Klementowski: Stille / Silence. Euthanasie in Hadamar 1941-1945.
Mit einem Vorwort von Georg Lilienthal.
Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2010.
52 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783865051950

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