Am Schluss bleibt nichts

Jürgen Brokoff schreibt eine Geschichte der reinen Poesie von Anfang bis Ende

Von Alexandra CampanaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Campana

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner umfangreichen Studie präsentiert Jürgen Brokoff eine „Geschichte der reinen Poesie“, die da ansetzt, wo sie gemeinhin noch nicht angenommen wurde – und aufhören muss, wo sich die reine Poesie aufgrund einer ihrem Reinheitsideal geschuldeten Abschaffung der Sprache an sich selbst ad absurdum führt.

Von Martin Opitz bis Christoph Martin Wieland

Es sind antike Rhetoriktexte (wie etwa diejenigen von Cicero und Quintilian), die Brokoff zum Ausgangspunkt seiner Geschichte der reinen Poesie nimmt, wobei Reinheit (puritas) vor 1780 kein Spezifikum der Poesie, sondern eben der Sprache an sich gewesen sei. Auch die Kultivierung der deutschen Sprache war später sehr eng an eine Vorstellung von Sprachreinheit gebunden. So ging es Martin Opitz in seinem „Buch von der Deutschen Poeterey“ (1624) in erster Linie um „reine und deutliche Wörter“.

In den anschließenden Diskussionen um die Schwierigkeiten einer von allen Fehlern gereinigten Poesiesprache – Brokoff verweist unter anderem auf entsprechende Stellungnahmen von Johann Christoph Gottsched, Gottfried Wilhelm Leibniz, Albrecht von Haller und Friedrich Gottlieb Klopstock – wurde vor allem die Gefahr betont, dass eine solcherart fehlerfreie Poesiesprache „an Nachdruck, Kraft und Stärke“ verlieren könnte. Dementsprechend verteidige Christoph Martin Wieland die „Freiheitsrechte“ poetischer Sprache, womit er sich einerseits gegen die übertriebenen Reinheitsforderungen Gottscheds, andererseits aber auch gegen sprachliche Ausschweifungen stellen wollte. In seinen „Briefen an einen jungen Dichter“ (1782/1784) vertrete er demnach einen „mittelhohen Stil“, der den hohen Stil durch die Einführung von gewissen Regeln mäßigen sollte.

Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller

Indem er sichtbare Spuren von Arbeit und Mühe im Kunstwerk ablehnt, übernehme Johann Wolfgang Goethe das in Wielands Briefen entwickelte poetologische Programm. In seiner aufmerksamen Lektüre der „Iphigenie auf Tauris“ (1787) legt Brokoff schließlich die Iphigenie-Figur nicht wie meist üblich als eine Figur der Humanisierung, sondern aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit und ihres Nichthandelns, in dessen Folge sie Thoas die Entscheidung über den Ausgang der Geschichte überlässt, als ein „Sinnbild der Kunst“ aus. Aufgrund des „ethischen Reinheitsanspruchs“ der Iphigenie – in dessen Folge sie sich dazu entschließt, nicht zu lügen und so die „Reinheit des Herzens“ zu erhalten, obwohl dies eine „Verunreinigung der Hand“ nach sich ziehen könnte – basiere das Stück somit auf einer „Ästhetik der Reinheit“.

Auch bei Friedrich Schiller spielt Reinheit eine grundlegende Rolle, und zwar geschehe bei ihm „die Reinigung der Poesie um der Poesie willen, zugleich aber um des (lebendigen) Menschen willen“. Zentral sei hierbei Schillers Theorie des Spiels, die er in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) etabliert, da sich die im Spiel ermöglichte ästhetische Freiheit nicht von einer grundlegenden Reinheitsforderung trennen lasse: erst wenn der Schein von der Wirklichkeit gereinigt sei, womit zugleich die Unabhängigkeit der schönen Kunst und Poesie sichergestellt werde, könne der Mensch tatsächlich ästhetisch frei sein. Folgerichtig müsse der Pädagoge Schiller letztlich verstummen, da jegliche pädagogische Absicht in der Kunst gegen dieses Reinheitsgebot verstoßen würde; womit sich also erklärt, warum sich Schiller nach Abschluss der theoretischen Briefe wieder ausschließlich seinem poetischen Werk zuwandte.

August von Platen und Conrad Ferdinand Meyer

Stand bei Schiller noch der lebendige Mensch im Mittelpunkt, so sei es in August von Platens Gedichten vornehmlich eine Fokussierung auf die Form, die da eine ästhetische Sinngebung schaffen sollte, wo der Sinnlosigkeit des tatsächlichen Lebens nicht mehr beizukommen war. Der Schlusspassus aus Schillers „Die Götter Griechenlands“ (1788) werde damit auf das künstlerische Individuum übertragen: „Das Individuum muss im Leben untergehen, um unsterblich im Lied weiterexistieren zu können“. Die reine Poesie sei nun nicht mehr als eine Reinheit des Poeten zu verstehen, sondern vielmehr als eine „Reinigung der Poesie vom Poeten“.

Ebenso habe Conrad Ferdinand Meyer mit der ständigen Überarbeitung seiner Gedichte einer Reinheitsidee zu entsprechen versucht, die auf eine „Unsichtbarmachung des Dichters“ zielte – zumindest auf „eine Reinigung des Kunstwerks von den bewegenden Leidenschaften des schaffenden Künstlers“. Die ethisch-moralische Neutralität des Meyer’schen Künstlerauges lasse sich etwa am Gedicht „Il Pensieroso“ zeigen, in welchem der Künstler (Michelangelo) zwar Zeuge des schwermütigen Selbstgesprächs des Medici werde, diesen aber nicht vom Suizid abzubringen versuche.

Stefan George und Hugo Ball

Auch bei Stefan George könne man eine Objektivierung, eine Transformation des persönlichen Gefühls in ein Gefühl des Kunstwerks feststellen. Zugleich vollziehe sich bei Stefan George – dessen Erfinden zahlreicher Geheimsprachen eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber deutscher Literatursprache ausdrücke – eine vermehrte Fokussierung auf die Sprachmaterialität, wenn nämlich einer Aufwertung sprachlicher Laute eine Abwertung von Sinn gegenüberstehe. Brokoff merkt hier an, dass der George-Kult um den reinen Dichter eine der Gefährdungen gewesen sei, „denen das Konzept der reinen Poesie im Verlauf seiner Geschichte ausgesetzt gewesen ist“, wobei diese Gefährdung nicht mit dem Konzept an sich gleichgesetzt werden dürfe.

Mit der historischen Avantgarde und der Dada-Bewegung um Hugo Ball erreicht Brokoffs Geschichte der reinen Poesie schließlich ihren Höhe- und Endpunkt: Im Rahmen des dadaistischen, auf Ideologiekritik abzielenden Reinigungsprozesses münde die exzessive Aussparung von Sinn nicht mehr in eine Reinigung der Sprache, sondern vielmehr in eine Reinigung von der Sprache. Mit der Erreichung dieses sprachlichen Nullpunkts markiere das dadaistische Lautgedicht so auch zugleich den Endpunkt der Geschichte der reinen Poesie, denn: „Ein radikaleres Konzept als den Verzicht auf die Sprache selbst gibt es nicht“.

Fazit

Jürgen Brokoffs Thematisierung von Reinheitskonzeptionen durch die Literaturgeschichte hindurch erfolgt über zahlreiche Textlektüren und Gedichtanalysen. Dabei schlägt der Autor Lesarten vor, die freilich stets der sehr spezifischen Fragestellung des Reinigungsprozesses unterworfen, jedoch meist plausibel und originell sind. Die gelegentliche chronologische Inkonsequenz wird über zahlreiche Rückverweise und Wiederanknüpfungen wettgemacht, wobei sich jedoch auch Momente der Redundanz einstellen.

Brokoff beleuchtet seinen Gegenstand von den verschiedensten Seiten und präsentiert ein umfassendes Bild des Reinigungsbegriffs, wobei dem Autor das konsequent praktizierte Nein zur Beschränkung entweder zum Vorwurf gemacht werden, oder als notwendige Folge des Stoffumfangs gewertet werden kann. Die extensive, wenn auch mehrheitlich unterschwellig über den Weg der Fußnote geleistete Bezugnahme auf den Forschungskontext, sowie der weite Bogen, den Brokoff im Verlauf seiner Ausführungen schlägt, müssen in jedem Fall beeindrucken.

Titelbild

Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
607 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306165

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