Erkenntnis und Irrtum

Peter Handke berichtet vom Krieg

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verkehrte Welt? Fast alle jener Intellektuellen, die seit drei Dezennien als Deutschlands kritisches Gewissen galten, befürworteten im vergangenen Jahr den völkerrechtswidrigen Angriff auf Jugoslawien. Peter Handke hingegen, vielfach als subjektivistischer Ästhet verachtet, entzog sich der kollektiven Begeisterung und fand sich unversehens in der Rolle des politischen Oppositionellen wieder. Mehr noch: Was die historisch gewordenen Fakten angeht, wird immer deutlicher, dass der auf Erfahrung pochende Individualist als beinahe Einziger recht behielt. Die selbsternannten politischen Realisten dagegen sind als Opfer wie als Akteure der Propaganda blamiert. Vielmehr: Sie wären es, gäbe es nur ein gesellschaftliches Interesse, die wichtigsten Erfindungen Scharpings oder Fischers als solche zu benennen: den angeblichen "Hufeisenplan" zur "ethnischen Säuberung" des Kosovo etwa, der aus nicht mehr als ein paar zusammengeschmierten Blättern des bulgarischen Geheimdiensts zu bestehen scheint.

Die politischen Praktiker verstehen, wo ihre geopolitischen Interessen es erlauben, durchaus die Notwendigkeit, ethnischen Terrorismus zu bekämpfen, und tolerieren zum Beispiel Russlands Ordnungspolitik in Tschetschenien. Den Intellektuellen unter den Kriegsbefürwortern dagegen dürften solche Überlegungen fremd sein. Vermutlich sehen sie sich wie immer schon an der Spitze irgendeines Fortschritts; und nachdem es eine linke Perspektive nicht mehr gibt, müssen sie eben die allein übriggebliebenen Sieger zu Hoffnungsträgern ausrufen. In dieser Lage bedeutet historische Sinngebung die Gefahr, die hegemonialen Interessen, die die NATO-Staaten selbst offen genug formulieren, als kommende Weltrepublik zu verklären. Das antihistorische poetische Sehen, wie Handke es pflegt, wirkt verglichen damit wie eine Chance, der Ideologisierung zu entgehen. Was aber zeichnet diesen Blick in Handkes neuem Kriegsbuch aus?

Zunächst zum Faktischen. Während die NATO Jugoslawien bombardierte, unternahm Handke zwei Reisen durch das bekriegte Land. Ausschnitte seiner nachträglichen Aufzeichnungen erschienen im Juni 1999 in der "Süddeutschen Zeitung". Die vollständigen Versionen, nur im Detail überarbeitet, liegen nun als Buch vor.

Gerade im Kontrast der beiden Berichte wird deutlich, welche Zerstörungen die Waffen anrichteten. Schon auf der früheren Reise, zwischen dem 31. März und dem 3. April 1999, durchquerte Handke eine Kriegslandschaft, die zuweilen vor allem durch Leere beängstigte, damit durch allgegenwärtige Gefahr. Doch gab es noch Zeichen von Hoffnung. Die Menschen, die Handke traf, hatten nicht mehr den Galgenhumor der ersten Kriegstage, doch eine bescheidene Würde, die Widerstandskraft andeutete. Nur drei Wochen später, zwischen dem 23. und dem 29. April, war auch sie vielfach verloren.

Die Bevölkerung ist zermürbt; unaufdringlich und präzise zeichnet Handke den psychischen Zerfall nach, der sich zu zeigen beginnt. Generell nimmt er das Land nicht als militärisches Ziel wahr, mit mehr oder minder unvermeidlichen zivilen Einsprengseln, die dann zu "Kollateralschäden" werden. Er sieht konkrete Landschaften, er sieht zerstörte Bauwerke, in denen menschliche Arbeit steckte, er sieht zerstörte Werkzeuge und damit zum Nutzlosen verurteilte künftige Existenz: Denn anders als seine ehemals linken Kritiker hält er offenbar am Zusammenhang von produktiver Arbeit und sinnvollem Dasein fest. Vor allem aber sieht Handke Menschen; nicht ins Abstrakte verschobene serbische Schlächter, sondern konkrete Personen mit konkreten Geschichten, die nun den Bomben der westlichen Demokratien ausgesetzt sind. Der Diplomat, der Mechaniker, die Partisanin, die heute wie vor fast sechzig Jahren deutschem Militär ausgesetzt ist: Sie alle gewinnen Gestalt, und wenn diese Gestalt sprachlich zuweilen in die Nähe von verklärendem Kitsch gerät, mag das als Gegenreaktion auf die einseitige Haltung in den NATO-Ländern erklärbar sein.

Die Propaganda des Westens ist eines der Zentralthemen des Buchs; hier allerdings muss doch behutsame Kritik ansetzen. Behutsam, weil Handke hier faktisch Recht hat und fast alle Medien in freiwilliger Selbstgleichschaltung in den entscheidenden Wochen noch die fadenscheinigsten NATO-Berichte bereitwillig nachplapperten. Kritik aber, weil Handke sich in die Nähe unerfreulicher Ideologien begibt. Wenn er "fette deutsche, höfisch-verlogene, den Raum (bis in die hintersten Winkel des Planetensystems) verdrängende amerikanische Stimmen" zu hören meint, reproduziert er Nationalstereotypen, die von ihrer völkischen Geschichte nicht zu trennen sind. Zwar leugnet Handke nicht, dass auch die jugoslawische Seite Propaganda macht; ebenso wenig übrigens, wie er serbische Verbrechen im Bosnien-Krieg verschweigt. Bedenklich ist allerdings seine Überlegung, es handele sich um eine Art von Propaganda, "die nichts Gemachtes oder gar Bezwecktes sei, vielmehr auch etwas Naturgewachsenes sein könne, als 'Propaganda' wahrnehmbar allein durch Verbreitetwerden, Propagiertwerden."

Handke stellt hier das sinnlich wahrnehmbare, naturhafte Sein gegen die vom Raum abstrahierende, vor allem amerikanische Warengesellschaft; es ist kein zufälliger Ausrutscher, wenn er von "zeitgenössischen Spekulier-, Käufer- und Genießermassen" im Westen schreibt und sich freut, "daß wenigstens eine Jugend auf der Welt geheilt ist von CC und McD", von Coca Cola und McDonalds.

Es griffe allerdings zu kurz, verstände man solche Aussagen allein als unmittelbar ideologische Setzungen. Mindestens im gleichen Maße sind sie Textgestus; und zwar ein Gestus der Selbstbehauptung, und weniger ein Versuch, zu überzeugen. Zur Selbstbehauptung gehört zum einen der Trotz. Vielfach finden sich eingeklammerte Warnungen wie: "Achtung, antiamerikanisch!" oder: "Achtung: Antirationale Mystik!" Handke setzt sich mit solchen Gegenpositionen nie auseinander, sondern verharrt mit verzweifeltem Mut auf den Sätzen, die ihm Vorwürfe eintragen, die er vorweg kennt. Zum anderen besteht er auf dem Wert der eigenen Erfahrungen.

Diese Haltung zu widerlegen, ist einerseits einfach. Jedes Ich kann sich täuschen, und besonders ein politisch wertvoller Reisender dürfte nur das zu sehen bekommen, was er sehen soll. Andererseits jedoch lohnt, wo Verfälschung die Öffentlichkeit beherrscht, der Widerstand des Ich, das die Wahrheit auch nicht wissen konnte. In dieser Problemzone bewegt sich Handke, und er reflektiert die Schwierigkeit, indem er den Zerfall des Ich in seine Überlegungen einbezieht. Er beschimpft die NATO-Verantwortlichen und weiß gleichzeitig: "hilflos auch sämtliche Schimpfwörter wie das gerade gebrauchte". Er ertappt sich bei Phantasien, wie er als Kriegsgegner verfolgt wird, und mit fortschreitendem Bombenkrieg protokolliert er auch, wie Wahrnehmung und Erinnerung des Ich zu versagen beginnen. "Merkwürdige Erinnerungslosigkeit", heißt es einmal, und mehrere Eintragungen beklagen das Fehlen von Bildern, gerade was die Bombennächte betrifft. Hier weitet sich der private Mangel zum gesellschaftlichen Untergang; so ist von der Wirkung der Bomben die Rede, die "raumsprengend (und zugleich den Raum vernichtend)" sei. Schon zu Beginn des Buches assoziiert Handke ein "Welt-Ende". Später ruft er eine geschichtliche Zäsur aus: "diese der Welt und der Idee von der Geschichte als einer Bewegung auf ein Licht zu geschlagenen Wunden werden nicht einmal halbwegs, nicht einmal notdürftig zuheilen; sie werden nie mehr zuheilen, ewig nicht; es sind Todes-Wunden". In den Schlusssätzen des Buches dann sieht er, offenbar als weiteren Schritt von der Wahrheit weg, das Zeitalter der Information vergangen, und das von "Kontext" und "Idee", wohl als vager Stimmungsmache, angebrochen.

Nun ist diese Aufregung vielleicht doch ein klein wenig übertrieben; auch in der Vor-Scharping-Zeit soll es ja schon mal Kriegslügen gegeben haben, wenn auch selten so leicht durchschaubare. Aber es geht ja bei Propaganda ohnehin nicht um logische Stimmigkeit, sondern darum, die emotionalen Bedürfnisse der Zielgruppe zu befriedigen, und dazu war diese offenbar gut genug.

Handke verweigert sich dem Mitmachen, indem er es ablehnt, zu analysieren (und dem Geschehen einen Sinn zu verleihen). Jugoslawien wird dabei für ihn zum Mythos; dass es ein im Rahmen seiner Möglichkeiten funktionstüchtiger Staat ist, entgeht ihm. Überhaupt führt von seiner Wahrnehmung kein Weg zum Staat, der notwendigerweise vom Einzelnen abstrahiert. Der Staat aber wäre die einzige Ordnungsmacht gegen jene neoliberale Durchdringung der Welt, die Handke zu Recht beklagt. So sind in Handkes widerständigem Blick seine Erkenntnis und seine Irrtümer auf untrennbare Weise verbunden; und auch daraus ist zu lernen.

Titelbild

Peter Handke: Unter Tränen fragend.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
150 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3518411365

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