Paradies und Hölle des Liebeskampfes

Liebe, Lust und Leid um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"If you can't be with the one you love, love the one you're with", lautete eine der Hymnen der Hippies im kalifornischen "sommer of love" von 1967 und "Wer drei Mal mit der selben pennt, gehört schon zum Establishment", skandierten die Berliner KommunardInnen der K1 und der in der Szene damals als psychoanalytische Horrorkommune berüchtigten K 2.

Sollte eineR von ihnen - unwahrscheinlich genug - zu Franziska Gräfin zu Reventlows Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen aus einem merkwürdigen Stadtteil" gegriffen haben, hätte er oder sie den eigenen Alltag und die von ihnen propagierten sexuellen Gepflogenheiten in den Verhältnissen des dort geschilderten "Eckhauses" der Schwabinger Boheme um die Jahrhundertwende vorweggenommen gefunden. Der, wie die 68-er gesagt hätten, ideologische Überbau, der "Wahnmochinger" (so nennt Reventlow die Schwabinger in ihrem Roman) war allerdings ein ganz anderer. Die Propaganda von Mutterschaft und Hetärentum und das Gefasel von der "Blutleuchte" wären von den marxistisch inspirierten Studentinnen und Studenten der 60-er Jahre kurzerhand als präfaschistisch oder zumindest reaktionär abgetan worden. Andere, dem eigenen Gedankengut näherstehende Tendenzen, wie der "Sexualimmoralismus" des umstrittenen Psychoanalytikers und Anarchisten Otto Gross waren unbekannt. Trotz gewisser anarchistischer Tendenzen hielt man sich in Kreisen des Berliner SDS lieber an den marxistischen Psychoanalytiker Wilhelm Reich und reanimierte seine SexPol-Bewegung.

Um die Jahrhundertwende jedoch waren Otto Gross und seine Frau Frieda, Franziska zu Reventlow, ebenso wie Frank Wedekind, Margarete Beutler und Karl Kraus die "theoretischen und praktischen Vorkämpfer der damaligen erotischen Rebellion", wie Ulrich Linse in seinem Beitrag zu dem von Helmut Scheuer und Michael Grisko herausgegebenen Sammelband "Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlswelt um 1900" schreibt. Linses Aufsatz widmet sich insbesondere Erich Mühsams 1909 geschaffenem Schauspiel "Die Freivermählten", einer "anarcho-feministischen Utopie". Das Stück war nicht unwesentlich von Otto Gross beeinflusst und die Figur seiner weiblichen Protagonistin trägt Züge der mit Mühsam befreundeten Frauen Franziska zu Reventlow, Margarete Beutler und Frieda Gross. Mit Frieda Gross verband Mühsam in den Jahren 1906 und 1907 ein Liebesverhältnis, das ihren Mann - trotz aller von ihm propagierten sexuellen Freizügigkeit und seiner eigenen extensiv ausgelebten Promiskuität - in rasende Eifersucht versetzte, so dass Mühsam um sein Leben bangte. Linse vermutet allerdings, dass Gross seine Frau Mühsam "bewußt zugeführt" habe. Einen Beleg führt er jedoch nicht an. "Die Freivermählten", so Linse jedenfalls, trügen "dokumentarischen Charakter" und fingen "wie in einem Brennspiegel die damaligen unterschiedlichen Bilder befreiter Liebe" ein.

Bertram G. Bock konstatiert in seinem Beitrag allerdings, dass nur selten von sexueller Offenheit oder gar Freizügigkeit in der Literatur um die Jahrhundertwende gesprochen werden kann. Und Andreas Wicke demonstriert an Arthur Schnitzlers Schauspiel "Familie" die engen Fesseln der bürgerlichen Konventionen und die bekannte Doppelmoral, der zufolge die Männer sich vor der Ehe 'die Hörner abzustoßen' haben, während Frauen an Körper und Seele 'rein' vor den Traualtar treten müssen.

Einer besonderen Folge dieser Doppelmoral wendet sich Urte Helduser in ihrer Untersuchung über "Weiblichkeit, Großstadt und Moderne in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts" zu. Sie zeigt, dass die Prostituierte "nicht nur als beliebiges dekoratives Detail des Großstadtbildes" diente, sondern sich in dieser Figur eine "Weiblichkeitskonstruktion" präsentiere, die eine "zentrale Reflexion der Moderne und ihrer Gefühlssemantik" darstelle. Insbesondere für die expressionistische Literatur werde die "triebhafte, animalische" Dirne zur "paradigmatischen großstädtischen Frauenfigur", von der eher eine "angsteinflößende als verführerische Sexualität" ausgehe. Helduser gelingt es, die Verknüpfung des Modernediskurses mit dem Geschlechterdiskurs transparent zu machen und zu zeigen, dass die Prostituierte bei männlichen Autoren in der Regel angstbesetzt war.

Der 'theoretischen' Hintergrundstimmung, die jenseits der Berliner, Schwabinger und Wiener Boheme und jenseits von Ascona die Haltung zu sexueller Freizügigkeit und zum Verhältnis der Geschlechter bestimmte, geht Ortrud Wörner-Heil am Beispiel von Hans Blühers Schriften nach. Dass Blüher in der Frauenforschung extremer Misogynie geziehen wird, hält sie für ein "generalisierendes Resümee", das der Kritik und Differenzierung bedürfe. Doch wie differenziert man Blüher auch immer betrachtet, daran, dass sich seine Misogynität mit der Otto Weinigers durchaus messen kann, lässt sich nichts deuteln. Seine Ausführungen im von ihm selbst als "antifeministisches Manifest" bezeichneten Aufsatz "Was ist Antifeminismus?" lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Ebenso wenig seine Auslassungen in späteren Publikationen: "Frauen sind ungeistig" heißt es da; Geist sei ein "sekundäres männliches Geschlechtsmerkmal"; die Frau stehe "zum überlegenen Mann im Verhältnis der Hörigkeit". Blüher sprach sich ausdrücklich für das Verbot jedweder politischen Tätigkeit von Frauen aus und beklagte, dass die Wandervogelbewegung "durch den Feminismus unterjocht" sei. All das ist natürlich auch Ortrud Wörner-Heil bekannt und wird von ihr zitiert. Dennoch glaubt sie eine "Ambivalenz" in der Auffassung Blühers ausmachen zu können. Diese bestehe darin, dass er zwar einerseits antifeministisch gewesen sei und die "Legitimität autonomer Lebensformen von Frauen" verworfen habe, andererseits aber eine "die männliche Homosexualität rehabilitierende und aufwertende Position in die Öffentlichkeit" getragen und popagiert habe, der zufolge die "staatstragende Männergesellschaft von einer Elite homoerotischer Männergruppen geführt" werden müsse. Dass Frauenfeindlichkeit und Propaganda der Herrschaft homosexueller Männerbünde in einem Spannungsverhältnis stehen, oder auch nur ambivalent sind, ist jedoch nicht recht einzusehen. Nicht bestritten werden soll hingegen Wörner-Heils Behauptung, dass Frauen, nicht zuletzt die "maßgebliche Sprecherin" des "Mädelbundes des Jungwandervogels" Marie Buchhold, sich "produktiv" mit Blühers Thesen befassten.

Im Vorwort nennen die Herausgeber den Band einen Versuch, die Konturen "dieser so diffusen 'Epoche' um 1900 in einem speziellen Bereich schärfer" nachzuzeichnen: dem der "kulturellen Repräsentation und Inszenierung von Empfindungen, wie sie vor allem in den Werken der Kunst, Literatur und Medien" aufschienen. Obwohl nicht jeder der Beiträge auf ungeteilte Zustimmung rechnen kann, darf dieser Versuch dennoch als geglückt betrachtet werden.

Titelbild

Helmut Scheuer / Michael Grisko: Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900. Intervalle 3.
Kassel University Press, Kassel 1999.
496 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3933146119

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch