„Auf der Welt sein: im Licht sein, […] standhalten der Zeit“

Max Frischs Biografie, aufgeschrieben von Ingeborg Gleichauf

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Max Frisch wäre am 15. Mai 2011 hundert Jahre geworden. Dieses Jubiläum wird mit vielen Feierlichkeiten begangen und wurde als Anlass zur Veröffentlichung einer neuen Max-Frisch-Biografie genommen. Nein, nicht einer: auf der Webseite des Max-Frisch-Archivs an der ETH-Bibliothek in Zürich sind gleich fünf Max-Frisch-Biografien angekündigt. Eine von ihnen, „Jetzt nicht die Wut verlieren“, die die Germanistin Ingeborg Gleichauf vorlegte, erschien im Verlag Nagel & Kimche.

Der Titel „Jetzt nicht die Wut verlieren“ ist ein Zitat aus der Todesrede Peter Bichsels am Grab seines älteren Freundes und Kollegen Frisch. Bereits auf den ersten Seiten des Buches spürt man, dass nicht nur Gleichauf sich mit den Büchern Frischs beschäftigt hat, sondern diese auch sie beschäftigt haben und nicht losließen.

Die Erwartungen des Lesepublikums an eine Biografie – informativ, interessant, gut geschrieben – werden hier nicht enttäuscht. Viel mehr: Die Autorin schreibt einfühlsam, ausführlich und diskret zugleich, fragt und kommentiert, ohne überzuinterpretieren. Das Biografische wird mit Zitaten aus den Werken verflochten und Zusammenhänge werden hergestellt, ohne den Leser mit Details zu überfordern. Das Wichtigste: Frisch wird nicht verklärt, nicht kanonisiert und schon gar nicht als Klassiker abgelegt. Im Gegenteil: Gleichauf versucht aus der Kategorie „unbeweglich, verstanden, eingeordnet“ auszubrechen.

Die Biografin geht chronologisch vor und kreist die wichtigsten Themen im Leben des Menschen, Architekten und Schriftstellers ein. Es war ein interessantes Leben, in dem radikale Ausbrüche sowohl privat – Trennung von der Familie –, als auch beruflich – Befreiung von der „Zwangsjacke“ der bürgerlichen Architektenexistenz – neben wechselnden Liebesbeziehungen, Reisen, politischen Ereignissen und Freundschaften mit Dichterkollegen zu verzeichnen sind. Gleichauf zeigt sehr plastisch auf, dass die Angst vor Stillstand und Wiederholung, die Sehnsucht nach Aufbruch und Veränderung, die Notwendigkeit, in Bewegung zu bleiben und neu anzufangen sowie der Drang, das Leben radikal auszuleben, Frisch immer wieder nach Identität fragen und suchen ließen. Dies alles wurde zur Quelle seiner Schriftstellerexistenz und zum Thema vieler Werke. Und dies verhilft ihm dazu, auch heute ein moderner Autor zu bleiben.

Der Hinweis Gleichaufs, dass Frisch ein „Augenmensch“ und ein „visueller Autor“ war, sensibilisiert den Leser für den Stil und sprachlichen Ausdruck in seinen Texten. Wichtig in diesem Zusammenhang wäre auch zu erwähnen gewesen, dass Frisch mit der Zunge schrieb: bevor er tippte, sprach er das Wort, den Satz und las das Getippte mehrmals laut vor. Selbst Sportberichte in der Zeitung soll er laut gelesen haben. Dies lässt Schlüsse über die Bedeutung des Rhythmus für seine dichterische Sprache zu und soll Übersetzer und Literaturwissenschaftler auf die Musikalität seiner Werke aufmerksam machen.

Zentral ist bei Frisch die Auseinandersetzung mit dem Tod. Gleichauf dokumentiert, wie sehr dieses Thema den Menschen und Schriftsteller Frisch beschäftigte und sich in seinen Werken – „jetzt: max frisch“; „der Mensch erscheint im Holozän“; „Triptychon. Drei szenische Bilder“ und andere – niederschlug. Unerwähnt bleibt aber ein Schlüsselerlebnis aus seiner Militärzeit, als ein Offizier, der den jungen Kanonier nicht ausstehen konnte, zu Frisch nach dem Fahneneid am 3. September 1939 gesagt haben soll: „Wenn es losgeht, weiß ich, wo ich Sie hinstelle.“ Im Film „Ich brauche eine Werkstatt. Dinge und Verhältnisse im Blickfeld von Max Frisch“ (RBB / 1970) erläuterte der Schriftsteller, wie sehr er die Todesnähe und Todesangst damals verspürte. Es ist auch bezeichnend, dass er später als memento mori einen Sensemann auf der Terrasse seines Hauses in Berzona aufstellte.

Leider zu kurz kommt in der Biografie das gesellschaftliche und politische Engagement des Schriftstellers und Intellektuellen Frisch, denn: „Wenn einer etwas zu sagen hatte, dann er“, wie es Ralf Rothmann formulierte. Hierzu sei die interessierte Leserschaft auf den Dokumentarfilm „Max Frisch, Citoyen“ von Matthias von Gunten verwiesen.

Sicherlich muss man bei einer Biografie erwägen, wie man mit der Informationsflut – Namen, Zahlen, Daten, et cetera – umgeht und diese für den anvisierten Leserkreis entsprechend aufbereitet. Da Gleichauf ihre Frisch-Biografie an ein sehr breites Lesepublikum adressiert, beschränkt sie sich auf die Eckdaten und nennt die wichtigsten Namen. Eine ausführliche Erörterung der Freundschaften mit den Dichterkollegen, womöglich der gegenseitigen Beeinflussung und ihrer Dokumentation in den Werken sowie die Herausarbeitung der Bedeutung der USA im Leben und Werk Frischs hätte die Literaturwissenschaftler sicherlich interessiert, aber den Rahmen dieser Biografie gesprengt. Dafür stellt Gleichauf Zusammenhänge her, erläutert den Gesamtkontext, liefert Interpretationsansätze und lässt das Werk Frischs „standhalten dem Augenblick“, „standhalten der Zeit“. Das Wichtigste was ihr hervorragend gelingt, ist, über Frisch so zu schreiben, dass man Lust bekommt, seine Bücher zu lesen.

Titelbild

Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch - eine Biographie.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2010.
272 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312009893

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