„Die Richter des Jüngsten Gerichts“ und die türkische Justiz

Über den Kölner Autor Dogan Akhanli, seinen Roman über den Armenier-Genozid und seine Verhaftung in der Türkei

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 10. August 2010 wurde der Kölner Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Dogan Akhanli bei seiner Einreise in die Türkei festgenommen und seitdem unter fragwürdigsten Anschuldigungen in Haft gehalten. Es ist zu befürchten, dass wieder einmal demokratiefeindliche, extrem nationalistische Personen und Netzwerke im Polizei- und Justizapparat der Türkei das Recht missbrauchen, um Rache an einem unbequemen und von ihnen gehassten Autor und Kritiker zu üben.

Hinter den vorgeschobenen Vorwürfen gegen ihn dürfte sich auch Wut über sein zeit- und geschichtskritisches Roman-Gesamtwerk verstecken. Einer seiner Romane, von Hülya Engin erstklassig ins Deutsche übersetzt und 1999 in der Türkei veröffentlicht, heißt „Die Richter des Jüngsten Gerichts“. In ihm behandelt der Autor intensiv und radikal wie keiner seiner literarischen Vorläufer, von Armin T. Wegner und Franz Werfel bis hin zu Ömer Polat und Edgar Hilsenrath, den türkischen Genozid an den Armeniern von 1915, den verbissene nationalistische Kreise in der Türkei bis heute leugnen. Wer ihnen darin nicht folgt, wird von ihnen gnadenlos verfolgt. Umso mehr Grund besteht, diesen Roman hier vorzustellen und auf den aktuellen Menschenrechtsbruch an seinem Autor öffentlich aufmerksam zu machen.

Der Roman „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ bietet sowohl inhaltlich wie auch gestalterisch schwere Lesekost. Der Text konzentriert sich auf das exemplarische Schicksal von Opfern und wenigen Überlebenden. Auf der ersten Ebene geht es um zwei Familien: die von Senem Hatun aus Erzurum und die von Howhannes Garabet aus Istanbul. Dazwischen gibt es zentrale Szenen auf einer zweiten Ebene, der der führenden historischen Täter, vor allem Envers und Talat Paschas. Drittens wird ein ebenso kostbarer wie dünner Faden von Überlieferung und Empathie während der Nachgeschichte durchs 20. Jahrhundert gesponnen. Diese drei Ebenen sind durch Personen verknüpft: So rettet Nurhan, einer von Garabets Söhnen, Enver Pascha aus der militärischen Katastrophe von Sarikamis und kommt dabei selbst zu Tode; Nurhans Istanbuler Onkel Krikor Efendi verkehrt persönlich mit den Jungtürken, zum Beispiel mit Talat Pascha. Damit wird locker an die klassische Form des historischen Romans angeknüpft. Das Geschehen entfaltet sich räumlich zwischen dem Nordosten der Türkei, dem erfundenen Städtchen „Uvanis“, wo einige der Romanpersonen sich begegnen, den vielen Orten des Grauens von 1915 und Istanbul und Izmir im Westen; am Rande tauchen noch Tiflis und Berlin auf, als Orte von Rache-Attentaten auf geflohene Täter.

Die Erzählform ist recht kompliziert: Ein als Person schwer greifbares „Ich“ erfährt seine armenische Identität und Herkunft, nämlich von genau jenen beiden vom Genozid unmittelbar betroffenen Familien, durch einen Türken namens Ümit Bey. Dieser arbeitet gegen die herrschende Amnesie die Genozid-Geschichte individuell auf. Dabei steigern sich seine Recherchen und Imaginationen wiederholt zu halluzinatorischen Identifikationen („Verwandlungsbomben“) mit längst toten armenischen Personen. Was er von Ümit Bey hört, schreibt er auf.

Das Aufgeschriebene bildet den Roman selbst. Er gliedert sich in neun Kapitel mit vielen Zeit- und Identitätssprüngen, Rück- und Vorblicken. Die Erzähltöne wechseln von lakonisch nüchterner zu satirisch zugespitzter Präsentation der historischen Ereignisse und Täter. Hier gleiten sie manchmal allerdings in triviale Häme aus der ‚Kammerdienerperspektive‘ ab, so etwa in Hinblick auf das ‚Liebesleben‘ von Sultan Abdülhamid und Enver Pascha. Sie steigern sich an Schlüsselstellen zu metaphernreicher, alptraumartiger Beschwörung von Szenen des Grauens, welche die Überlebenden erfahren haben: So verliert Dikran, ein anderer Sohn von Garabet, seine Mutter und seinen Bruder während der Deportation und überlebt „unter dem Leichnam seines Bruders Ara, dessen Schädel eine Axt zertrümmert hatte“. Noch Grauenhafteres erlebt seine kleine Schwester Anahit, die Großmutter des „Ich“-Erzählers.

Verschiedene Aspekte machen die Besonderheit des Genozid-Romans von Dogan Akhanli aus: Die heute fast ganz vergessene Vorgeschichte der Verbrechen von 1915, die Massaker von 1895/96, über die bereits der vor 100 Jahren verstorbene Erzähler Rudolf Lindau den Roman „Ein unglückliches Volk“ schrieb, werden sehr markant einbezogen. Ihre Nachgeschichte wird angedeutet mit den Prozessen nach dem Krieg, mit den Rache-Attentaten, mit der bald einsetzenden kollektiven und staatlich erzwungenen Verdrängung, mit dem kaum gebrochenen Fortleben des Ungeists, der den Genozid generierte, in der Republikzeit bis zu den Putschisten von 1980. Explizit werden Hinweise auf publizistische, wissenschaftliche und literarische ‚Vorgänger‘ beim Schreiben über den Armenier-Genozid eingestreut. Leitmetaphern wie die des „Jüngsten Gerichts“ mit seiner „Trompete“ und fantastische Elemente wie die „roten Regenschauer“ oder die „Schatten“ werden extensiv und intensiv eingesetzt, um die – gleichzeitig bewahrte – dokumentarische Nüchternheit der Darstellung des Grauenvollen poetisch zu ‚ergänzen‘ und die Wirkung zu intensivieren. Auf komplexe Weise wird das Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen, Tabu und Trauma mitdargestellt. Im Zentrum steht dabei Ümit Beys individuelles Gegen-Projekt empathischen Erinnerns und Erforschens gegen kollektives Verdrängen. In das Erzählen ständig eingebettet ist Reflexion auf das von der Holocaust-Literatur bekannte Problem der Darstellung des Undarstellbaren.

Diejenigen, welche in der Türkei dieses Verdrängen aktiv und aggressiv betreiben und darum den Armenier-Genozid hartnäckig leugnen, wissen nun allerdings besser, was auf dem Spiel steht, als jene, die ihnen gut zureden, ihn doch endlich zuzugeben. Denn dieses politische Großverbrechen ist nicht, wie sie es gern hinstellen möchten, ein militärisches Ereignis aus der grauen oder blutroten Vorzeit der modernen türkischen Republik, sondern auf verhängnisvolle Weise in deren Fundamente eingebaut. Wie dem Genozid von 1915 bereits zu Sultan Abdülhamids Zeit eine Reihe von Massakern an Armeniern vorausgingen, so folgten ihm solche auch noch – ein absolutes Tabu – im Rahmen des ‚Befreiungskriegs‘, der die Republikgründung ermöglichte. Aus dem nationalistischen jungtürkischen Kreis, dem die Genozid-Planer angehörten, rekrutierte sich teilweise auch die Elite des neuen Staates samt dessen Gründer. Dieser brachte manche von ihnen sogar in hohe Ämter bis hin zu Ministerposten. Die obersten Mörder Talat, Enver und Cemal genießen bis heute Staatsehren. Weil der Massenmord an den Armeniern gleichzeitig ein Massenraub war, trug er zur Etablierung einer türkischen Wirtschafts-Bourgeoisie bei, die für das neue System dringend gebraucht wurde. Vor allem die zuerst von den Genozid-Planern entwickelte und bis heute staatstragende Ideologie, die ein homogenes türkisch-muslimisch-sunnitisches Volk konstruiert, legitimierte die aus dem offiziellen Geschichtsbild teilweise völlig verdrängten Verbrechen des modernen türkisches Staates. Das reicht vom brutalen Umgang mit den türkischen Griechen, Vertreibung 1923, Pogrome 1955, Ausweisung 1964/65, bis zum unfasslich zynischen Umgang mit den türkischen Juden in Europa während der Shoah-Jahre, wie sie Corry Guttstadt in ihrem Buch „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“ beschrieben hat. Es reicht vom Ethnozid von 1938 an den Kurden beziehungsweise Aleviten aus dem Dersim bis zur Ausrottung türkischer Staatsbürger in unzähligen kurdischen Dörfern unter dem Deckmantel der Bekämpfung der Terrororganisation PKK. Es reicht von dem barbarischen Pogrom in Sivas 1993, das auf eine Komplizenschaft zwischen Islamisten und Nationalisten schließen lässt, bis zu der langen Reihe von unaufgeklärten politischen Morden wie dem an Hrant Dink.

Wer also den Genozid von 1915 thematisiert, droht damit das gesamte offizielle Geschichtsbild der Türkei in Frage zu stellen. Genau das hat Dogan Akhanli mit seiner Romantrilogie unternommen, deren dritten Band „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ bilden. Genau darum dürften ihn türkische Nationalisten hassen und verfolgen. Der 1957 in der Provinz Artvin, ganz im Osten der Türkei, geborene Autor engagierte sich als Student in der politischen Linken. In den Jahren nach dem faschistischen Militärputsch von 1980, der, von der NATO und deren Vormacht USA gestützt, ungezählte und bis heute ungesühnte Verbrechen zur Folge hatte, wurde er wie viele andere Demokraten, besonders linke, politisch verfolgt, ins Gefängnis geworfen und gefoltert. Nach seinem Entkommen hat er in Deutschland politisches Asyl und die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Heute ist er ein in beiden Ländern anerkannter und mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller, der sich mit seinen literarischen Werken und seinem zivilgesellschaftlichen Engagement besonders dem Gedenken an die großen Völkermorde des 20. Jahrhunderts widmet.

Die Türkei bemüht sich nach 1980 zwar nicht ohne Rückschläge, aber dennoch mit beachtlichen Erfolgen um eine allmähliche Demokratisierung ihrer politischen Verhältnisse. Seit den Debatten um einen Eintritt in die EU steht ihr staatliches Handeln gerade in dieser Hinsicht unter starker Beobachtung der internationalen Öffentlichkeit. Das betrifft besonders Fälle, wo autoritäre, nationalistische und faschistische Kräfte, die immer noch in Staatsapparaten wie Militär, Polizei, Justiz, Geheimdiensten vertreten sind, Gewalt üben oder decken, Meinungsfreiheit verfolgen oder andere Rechtsbeugungen begehen wie zum Beispiel durch Halbherzigkeit bei der Aufklärung der Mordsache Hrant Dink oder mit der skandalösen Neueröffnung eines längst abgeschlossenen Strafverfahrens gegen die Publizistin Pinar Selek, die über Verfolgung sozialer Minderheiten und das patriarchalische Geschlechterverhältnis schreibt und zur Zeit politisches Asyl in Deutschland gefunden hat.

Die Anwälte von Akhanli haben äußerst beunruhigende Rechtswidrigkeiten und Ungereimtheiten des bisherigen Vorgehens gegen ihn festgestellt, die auf einen Racheakt schließen lassen. Das hat inzwischen die Öffentlichkeit in Deutschland und in der Türkei alarmiert. Viele Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsender haben über den Fall berichtet. Eine große Solidaritätsveranstaltung hat im September in Köln stattgefunden, eine noch größere ist geplant. Verbände wie das P.E.N.-Zentrum, die GEW, die Grünen, das Kulturforum Türkei-Deutschland haben nachdrücklich Protest erhoben, ebenso viele Einzelpersonen wie Günter Wallraff, Edgar Hilsenrath, Günter Grass, Mikis Theodorakis, Zülfü Livaneli, Yasar Kemal, Orhan Pamuk, löblicherweise auch der Oberbürgermeister der deutschen Stadt, deren aktiver Bürger Akhanlı seit fast zwanzig Jahren ist. Proteste in der Öffentlichkeit und Appelle an die Verantwortlichen sowohl des türkischen wie auch des deutschen Staates, insbesondere an Guido Westerwelle, sind dringend notwendig, um das bisher schon höchstwahrscheinlich rechtswidrige Vorgehen gegen einen deutschen Staatsbürger so schnell wie möglich zu stoppen und um Schlimmeres zu verhüten, denn man droht ihm die denkbar schwerste Strafe an. Der Prozessbeginn in Istanbul ist auf den 8. Dezember 2010 festgesetzt. Nur so könnte Vertrauen in die Kräfte demokratischer Erneuerung der türkischen Politik und Zivilgesellschaft erhalten und gestärkt werden.

Im Übrigen sollte man gerade jetzt „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ lesen und seinen letzten Roman ins Deutsche übersetzen. Denn er erzählt von der Versenkung des Schiffes „Struma“ mit 769 jüdischen Flüchtlingen 1942 im Schwarzen Meer und damit von einer vergessenen ‚Randepisode‘ des deutschen Genozids.

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Dogan Akhanli: Die Richter des Jüngsten Gerichts. Roman.
Übersetzt aus dem Türkischen von Hülya Engin.
Verlag KITAB, Klagenfurt 2010.
220 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783902005984

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