Parteienschelte

Robert Bracks Spurenlese in der deutschen Geschichte. In „Blutsonntag“ werden die Ereignisse um den Altonaer Polizeiskandal von 1932 aufgenommen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Geschichte der Weimarer Republik ist voller politischer Skandale, die von links oder rechts provoziert wurden, einige von ihnen mit blutigen Konsequenzen: Die Weddinger-Maiunruhen gehören dazu und auch der Altonaer Blutsonntag. In beide Skandale ist die Polizei der Städte Berlin und Hamburg verwickelt, und um beide Ereignisse ist ein Geflecht von Geschichten und Wahrheiten gesponnen worden, das beinahe undurchdringlich ist. Die Hauptrolle der Zentralpartei der ersten deutschen Republik – der SPD – ist jedenfalls mehr als unrühmlich. Von der linken wie der rechten Politik in die Zange genommen, sah sich die Partei als Ordungsbewahrerin um jeden Preis. Der „Bluthund“ Gustav Noske begründete diese unschmeichelhafte Tradition. Der von Goebbels mit antisemitischen Hetztiraden überzogene stellvertretene Polizeipräsident Berlins, Bernhard Weiß, der allerdings DD-Mitglied war, setzte sie auf seine Weise fort. Seine Hamburger Kollegen standen ihm kaum nach.

Dabei ist festzuhalten, dass die Sozialdemokratie nicht nur in ihrer Not mit ihren Mitteln überzog, sie war sich auch nicht zu fein dafür, sich der Hilfe militaristischer und nationalistischer Kreise zu bedienen. So wurde der Einsatz der Freikorps in den Oberschlesienkämpfen Anfang der 1920er-Jahre von der SPD mindestens toleriert. Die gegen den Kapp-Putsch 1920 aufgestandene Arbeiterschaft wurde von den Freikorps, welche von der SPD-Führung eingesetzt wurden, neutralisiert.

Der Altonaer Blutsonntag 1932 fügte dem nun eine neue Facette hinzu: nationalistische Polizisten, die einen von der Polizeiführung tolerierten NS-Aufmarsch durch das Rote Altona dazu nutzen, unter den vaterlandslosen Gesellen richtig aufzuräumen. 18 Tote waren nach der Aktion zu beklagen. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen trieben Wildwuchs. Für die Linke wie die Rechte war von vornherein klar, wer hinter der Sache stand und der eigentliche Schuldige war. Der Wahrheit sind solche Situationen kaum zuträglich, und die Beschuldigten hatten das mit dem Leben zu bezahlen; sie wurden im „Dritten Reich“ hingerichtet.

Nun wird man die Leistung der Sozialdemokratie, wie sie der Historiker Hagen Schulze in seiner Studie „Weimar. Deutschland 1917-1933“ herausgestellt hat, nicht mindern wollen. Im Übergang von der herabgewirtschafteten Monarchie zur ersten deutschen Demokratie wenigstens zeitweise so etwas wie Stabilität herbeigeführt zu haben, ist immer noch ein hohes Gut. Und ein Erfolg der Sozialdemokratie, den sie – unter nicht minder schwierigen Umständen, die freilich einen anderen Charakter hatten – am Ende der Republik nicht wiederholen konnte.

Dass Hitler, das NS-Regime, der Holocaust und der Zweite Weltkrieg hätten vermieden werden können, wäre die Sozialdemokratie weniger zerrissen, halbherzig, widersprüchlich und am Ende gar erfolgreich gewesen, ist unwahrscheinlich. An dieser deutschen Geschichte haben fast alle ihren wenig ruhmreichen Anteil. Aber eine glücklichere Hand in ihrer Ordnungspolitik wäre der Partei und auch der deutschen Geschichte zu wünschen gewesen. Nur kann man sich auch das nicht so zurechtbiegen, wie man es gerne hätte. Was nicht bedeutet, sich dieser dunkleren Abschnitte der jüngeren Vergangenheit nicht widmen zu sollen.

Robert Brack macht nun aus dem historischen Ereignis ein bemerkenswertes Schauspiel: Die Journalistin Klara Schindler, die für ein kommunistisches Blatt arbeitet, macht sich an die Aufarbeitung des Altonaer Blutsonntags. Die Erklärungen und Behauptungen auch ihrer eigenen Parteifreunde überzeugen sie nicht. Der Verweis auf den im Kampf notwendigen Klassenstandpunkt, wie ihn die Partei formuliert, hält sie nicht davon ab, weiter zu fragen. Sie ist, obwohl sie das Arsenal kommunistischer Gewissheiten zweifelsohne beherrscht, doch ganz kleinbürgerliche Renegatin und der Wahrheit verpflichtet, der sie zudem mehr politische Wirkung zuschreibt als einer zugerichteten Wirklichkeit, wie sie im Parteischrifttum auftaucht.

Schindler macht sich gegen jeden Widerstand auf, das, was geschehen ist, zu rekonstruieren: Sie benutzt dazu eine brandneue Erfindung der sowjetischen Genossen, das diese merkwürdiger Weise bei einem Besuch vergessen: Ein Tonbandgerät, das es ihr erlaubt, die Zeugen der Ereignisse nicht nur zu befragen, sondern ihre Antworten auch in der direkten, unverfälschten Form zu dokumentieren.

Brack nutzt diesen technischen Anachronismus (das erste Tonbandgerät wurde erst 1935 auf der Berliner Funkausstellung vorgestellt), um die Zeitzeugen direkt sprechen zu lassen. Verbunden werden diese O-Töne (Brack gibt an, historische Zeugnisse verwandt zu haben) durch einen Erzählstrang, der die Bemühungen und Erkundungen Schindlers ebenso aufnimmt wie das Personal, das sie bei ihrem Weg begleitet oder wahlweise behindert: Freunde, Genossen, eine junge Geliebte, ein anarchistischer Waffenlieferant, der feindliche Polizeioffizier, einer seiner Gefolgsleute, zudem ein sozialdemokratischer Kommissar, der mithilfe Schindlers gleichfalls die Wahrheit ans Licht bringen will.

Die Zeugenaussagen folgen dabei unverbunden aufeinander, erst in der Gesamtschau relativieren sich die teils widersprüchlichen, teils sich ergänzenden, teils in die Irre führenden Aussagen und lassen so etwas wie ein Gesamtbild entstehen. Schindlers eigene Geschichte, die konventionell erzählt wird, liefert hingegen die tragende Struktur, hebt sich dabei aber von den Tonbandaufnahmen doch deutlich ab.

Nun mag man den authentischen Ton von Bracks Roman loben oder darauf verweisen, dass er in seiner Rückschau die Verwirrungen und Zerwürfnisse der deutschen Gesellschaft am Ende der Weimarer Republik treffend zu schildern weiß – als Roman muss Bracks Text sich aber erst noch beweisen. Und was das angeht, ist er zwar klug genug, seine Protagonistin nicht schlauer zu machen als sie sein kann. Dennoch wirkt der Text zu konstruiert und geplant. Er will zu sehr die Leser in die Pflicht nehmen, indem er ihnen „authentisches“ Material liefert.

Das ändert nichts am Gang der Geschichte, der sich auch Bracks Romanexperiment fügt: Das Attentat, das Schindler plant, geht fehl, die geplante Publikation ihrer Recherchen misslingt, die Wahrheit des Altonaer Blutsonntags kennt man, so Brack, erst seit den Recherchen eines französischen Historikers.

Titelbild

Robert Brack: Blutsonntag. Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2010.
253 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017286

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