Die EU schafft sich ab

Heiner Flassbecks „Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“ lässt sich als Analyse einer die demokratische Gesellschaft gefährdenden Wirtschaftspolitik lesen

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heiner Flassbeck, Chefökonom der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) sowie Honorar-Professor für Wirtschaft und Politik an der Hamburger Universität, gilt hierzulande als einer der wichtigsten, an J. M. Keynes orientierten Ökonomen.

Bei seinem neuesten Buch „Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“ handelt es sich weniger um einen Beitrag zur aktuellen Finanzkrise, wenngleich diese natürlich auch behandelt wird, sondern vielmehr um einen makroökonomischen Blick auf die sowohl in Deutschland wie auch global (vor-)herrschende Wirtschaftspolitik und ihre theoretischen Grundlagen. Solle der „Traum, Europa auf Dauer zu einem funktionierenden Wirtschafts- und Politikgebilde zu formen“, nicht schon bald zum Alptraum werden, bedürfe es einiger Einsichten, die in fundamentale wirtschaftspolitische Neuausrichtungen münden müssten.

Zentral für Flassbecks Analyse ist die Zurückweisung der einzelwirtschaftlichen beziehungsweise unternehmerischen Sicht in Fragen der Volkswirtschaft und in Fragen des internationalen Handels. Denn was für einen Unternehmer betriebswirtschaftlich sinnvoll sei, könne makroökonomisch und global schädlich sein. Er attestiert dem neoliberalen Mainstream-Diskurs, diesen Unterschied weitestgehend misszuverstehen.

Da im Handel zwischen Volkswirtschaften die Überschüsse des einen Staates zwingend die Defizite des anderen sind, plädiert Flassbeck für eine Beendigung des Wettbewerbs der Nationen. „Ein integraler Bestandteil der neuen sozialen Marktwirtschaft muss die Fähigkeit der Nationen sein, miteinander harmonisch umzugehen.“ Dazu gehöre unbedingt der Verzicht darauf, über Lohnzurückhaltung anderen Nationen Marktanteile abzunehmen.

Die Marktgläubigkeit und den damit einhergehenden Rückzug des Staates aus seiner Rolle als Lenker des wirtschaftlichen Geschehens greift Flassbeck scharf an. Er weist auf die entscheidende Funktion der Löhne als Kaufkraft hin und argumentiert überzeugend, dass Unternehmen ihre Produktion genau dann ausweiten, wenn sie einen Absatzmarkt für Ihre Produkte vorfinden. Sei dieser nicht gegeben, da durch „Lohndumping“ die Nachfrage reduziert werde, bleibe jeder Versuch, die Unternehmen durch Kostensenkung zum Investieren in Sachanlagen und Arbeitskräfte zu bewegen, letztlich erfolglos (es sei denn, man lasse über einen Außenhandelsüberschuss das Ausland für die Nachfrage sorgen, was auf Dauer zwangsläufig zu untragbaren internationalen Ungleichgewichten führe). Die Löhne seien „in Wirklichkeit der wichtigste Stabilisator einer wachsenden Wirtschaft“, ohne Lohnzuwachs sei kein dauerhafter Aufschwung zu haben. Bestes Beispiel sei das sogenannte deutsche „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit, das de facto ein „Lohnwunder“ – und zwar ein internationales – gewesen sei.

Flassbeck zeigt anhand von wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre, sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene, dass das neoliberale Mantra der Deregulierung und Privatisierung notwendigerweise zu drastischen wirtschaftlichen Verwerfungen führt (etwa die schweren Krisen in Mexiko 1982, in Argentinien 1998-2002, in den sogenannten asiatischen Tiger-Staaten 1997-1998). Dieses offensichtliche Versagen von Märkten werde allerdings nicht mehr als solches wahrgenommen. Seit dem Ende der keynesianisch geprägten Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit („Bretton-Woods-System“ bis 1973) werde von Regierungen der Industrienationen systematisch ausgeblendet, dass der deregulierte Markt in vielen Fällen verzerrte Preise und Anreize für schädliches Verhalten hervorbringt.

Fast alle Wirtschaftswissenschaftler, die derzeit als Berater Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, ließen die Fähigkeit vermissen, die Dynamiken und Mechanismen der globalen Wirtschaft angemessen zu deuten. „Wir haben eine Wissenschaft, die sich weigert, bessere und feinere Instrumente zu nehmen, um, ergänzend zum Markt, auch Machtfragen und Fragen von Marktversagen oder falschen Märkten oder Märkten, die falsch reagieren, überhaupt in Angriff zu nehmen.“

Spekulation, Finanzmärkte und Unabhängigkeit der Notenbanken – „private Hände an der Notenpresse“

Flassbeck argumentiert überzeugend dafür, Spekulationsgeschäfte (die ja per se keinen Mehrwert produzieren) konsequent zu unterbinden. Es sei „absurd“, dass die Finanzmarktakteure, die von staatlicher Seite vor dem Kollaps bewahrt und danach mit mit extrem billigem Geld durch die staatlichen Notenbanken versorgt wurden, in dreister Weise gegen eben diese Staaten spekulieren und sie anschließend als nicht kreditwürdig einstufen. Die Staaten treffe dabei allerdings eine erhebliche Mitschuld, da sie sich ohne Zwang – im Namen der dogmatisch gesetzten „Unabhängigkeit“ der Notenbanken – den Finanzmärkten unterordnen und in der Rolle eines gewöhnlichen Schuldners bei den Geschäftsbanken auftreten.

Erhellend ist in diesem Kontext auch, wie Flassbeck den Mythos der „Leistungsträger“ auseinandernimmt. In der Tat fragt man sich, worin die Leistung bestehe, billiges Notenbankgeld an den Staat zu höheren Zinssätzen zurück zu verleihen. „Die Gewinne der Banken sind nicht Ausdruck von großer Leistung, sondern Ausdruck einer privilegierten Position“, diagnostiziert Flassbeck schlüssig. „Es ist auf Dauer nicht hinnehmbar, dass Banken vom Staat das Geld via Zentralbank zum Nulltarif bekommen und damit Staatsanleihen kaufen, die weit höhere Zinsen abwerfen. Wodurch sollte eine solche massive Subventionierung durch den Steuerzahler gerechtfertigt sein?“

Von Panikmache vor staatlich verursachter Inflation hält Flassbeck in diesem Kontext nichts. „Der Fiskus mit der Hand an der Notenpresse ist das Schreckgespenst der Neoliberalen; eine kleine privilegierte Gruppe von Privaten mit der Hand an der Notenpresse, das ist nach neoliberaler Auffassung eben Marktwirtschaft.“

Flassbeck tritt in „Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“ in erster Linie als der um Aufklärung bemühte Wirtschaftspolitiker auf und nimmt sich als theoretischen Wissenschaftler zurück. Daher besticht das Buch durch gute Verständlichkeit. Eine ganze Reihe relevanter wirtschaftspolitischer Themenbereiche (wie Freihandel, Wechselkurse, Lohnentwicklung, Konjunktur, Finanzmärkte) führt der Autor auf wesentliche Zusammenhänge zurück und macht sie gleichzeitig in neuem Licht plausibel. Dabei wird er nicht müde, auf die Widersprüche und logischen Unzulänglichkeiten gängiger Annahmen hinzuweisen und konkrete Gegenvorschläge zu begründen.

Allerdings möchte man dem Autor empfehlen, seine von ihm bereits im Vorwort angekündigte „Polemik“ zu reduzieren und auf die Kraft der sachlichen Argumentation zu vertrauen. Das permanente Gepoltere („dumm“, „blind“, „töricht“, „irre“) gegen seine politischen und intellektuellen Gegner ist auf Dauer ermüdend. Dagegen hätte das Buch von einem systematischeren Aufbau profitieren können. Eine tiefer gehende Diskussion hätte man sich in Bezug auf das Problem der horrenden Staatsschulden der westlichen Nationen und vor allem bei der Frage des wirtschaftlichen Wachstums in einer Welt endlicher Ressourcen gewünscht.

Dennoch bleibt das Buch sehr lesenswert: Über den im engeren Sinne ökonomischen Horizont hinausgedacht, kann einem Flassbecks Diagnose dieser Tage wie ein korrigierendes Komplementär zum kruden Populismus von Thilo Sarrazin & Co. erscheinen. Wer eine Ahnung davon bekommen will, inwiefern Deutschland beziehungsweise die EU tatsächlich im Begriff ist sich „abzuschaffen“ und welche Feinde den Frieden der demokratischen Gesellschaften tatsächlich akut bedrohen, der sollte Flassbeck und nicht Sarrazin sein Ohr leihen. Denn die Verneblung der öffentlichen Wahrnehmung durch Sarrazins mediale Sekundanten folgt einem bekannten, fast schon tragischen Muster: Die ressentimentgeladenen, sozialdarwinistischen Thesen übertönen genau jene Debatten, die ernsthafte Konsequenzen ziehen wollen aus der gigantischen Umverteilung der Vermögen von der Allgemeinheit hin zu den Finanzmarktakteuren und exportgetriebenen Großkonzernen.

Titelbild

Heiner Flassbeck: Die Marktwirtschaft des 21.Jahrhunderts.
Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
242 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783938060544

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch