Literatur auf Rezept

Banana Yoshimoto schreibt uns gesund: Die japanische Autorin weist in ihrem Buch „Mein Körper weiß alles“ mit dreizehn Geschichten den Weg zu Selbstheilung und Glück

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Originalversion der dreizehn Geschichten, die nun unter dem Titel „Mein Körper weiß alles“ in deutscher Version vorliegen, erschien im Jahr 2000. Ende der 1990er-Jahre hatten japanische Trendforscher die Megaströmung eines „Trost- und Heilungsbooms“ (Stichwort „iyashi“) ausgemacht und festgestellt, dass die Japaner kurz vor der Wende ins neue Jahrtausend vollkommen erschöpft seien und sich dringend in Kur begeben sollten. Literaten wie Haruki Murakami und Banana Yoshimoto erkannten die Zeichen der Zeit und schrieben fortan im Zuge der allgemeinen Wellness-Welle.

Die Geschichtensammlung „Mein Körper weiß alles“ führt den Leser in die Welt der kränkelnden japanischen Psyche. Man leidet seit der sogenannten „Verlorenen Dekade“ der 1990er-Jahre unter mangelnder Zukunftsorientierung und Verlustgefühlen. Auch die Schwierigkeiten nehmen zu, wie etwa die, sich vom Elternhaus oder einem anderen Moratorium zu lösen, das es den notorischen „Kleinerwachsenen“ (japanisch „kotona“) erlaubt, infantil-regressive Regungen zu pflegen. Yoshimotos Protagonistinnen werden nicht selten von Traumata gequält, die die japanische Gegenwartsgesellschaft zwischen Leistungsdruck, Kollektivzwang und Verunsicherung in der Globalisierungsära hervorbringt. Ihre Beklemmungen hindern die Menschen daran, ein authentisches Leben zu führen. Deshalb nimmt die Autorin sie und mit ihnen uns Leser an die Hand, um zu zeigen, wie Ängste überwunden werden können.

Eine Szene aus dem Büroalltag, die Yoshimoto eindrucksvoll in der Episode „Herr Tadokoro“ schildert, legt die Nervenzermürbung offen: „Ungefähr in der Mitte des Großraumbüros war eine Angestellte aufgestanden und schrie: ,Was wollt ihr denn alle?! Ich kann doch überhaupt nichts dafür! Ich hab’s so satt, so satt!‘“. Dass jemand einfach „ausrastet“ (japanisch „kireteiru“), so berichten jedenfalls landeseigene Medien, würde neuerdings öfters passieren. Was rät die Autorin? Der ältere Herr Tadokoro, der eigentlich keine konkreten Aufgaben hat, dient dem Betrieb sozusagen als lebender „Heilstein“ beziehungsweise als „Glücksbringer“, der mit seiner bloßen Anwesenheit für Ausgeglichenheit in der Gruppe sorgt. Als die Hauptfigur, eine junge Bürokraft, an Tadokoro denkt, spürt sie sofort positive Gefühle: „Mein Herz floss über, und ich war wunschlos glücklich“.

Die Empfindung der Konvivalität, des Verbundenseins mit dem Mitmenschen, ist es auch, die der Hauptfigur im Text „Ein heiterer Abend“ Trost spendet, als sie von der Erkrankung einer Jugendfreundin erfährt – bei der bevorstehenden Operation handelt es sich um eine Tumorentfernung. Während der gemeinsamen Schulzeit hatte die Freundin die Ich-Erzählerin aus einer heiklen Situation in der Klasse gerettet und sie erkannte dabei den guten Charakter ihrer Helferin. Mit der Erinnerung an die Kinderzeit und dem Rückblick auf das bisher gelebte Leben stellen sich Zuversicht und Heiterkeit ein. Man kann beruhigt auf einen guten Ausgang der Geschehnisse warten.

„Der grüne Daumen“ erzählt von einem „Omakind“, das den drohenden Verlust der geliebten Großmutter bewältigen muss. Als Pflanzenliebhaberin rät die Oma bevor sie stirbt ihrer Enkelin noch, den Job als Hostess aufzugeben, um sich lieber mit dem offenbar von ihrer engsten Bezugsperson geerbten „grünen Daumen“ eine berufliche Zukunft zu schaffen. Die Enkelin hört auf diesen Rat und möchte bald einen Blumenladen eröffnen. Sie fühlt sich „ermutigt“, weiß durch die stumme Übermittlung einiger wohlwollender Aloen darum, dass der Geist der Großmutter sie stets beschützt.

Einmal etwas zu wagen, um nicht schon in jungen Jahren vor der bösen großen Welt zu kapitulieren, rät Yoshimoto in der Geschichte „Mumie“: Eine Pharmaziestudentin trifft auf den Doktoranden Tajima. Das Leuchten in seinen Augen fällt ihr auf, ein „betörendes Etwas“. Schnell gibt sie dem sexuellen Verlangen nach, das der seltsame Archäologe in ihr auslöst. Tajimas Hobby ist die Katzenmumifizierung. Selbst als sie fürchten muss, er wolle auch sie mumifizieren, genießt sie die Begegnung. Zukunft hat ihre Leidenschaft keine, aber im Nachhinein bejaht die gereifte Apothekerin das Erlebnis als einen „besonderen Augenblick“.

Um das „rechte Maß“ geht es in der letzten Geschichte. Eine dreißigjährige Frau, die dem gängigen Typus des sogenannten Freeters entspricht, das heißt des Dauerjobbers ohne Festanstellung, arbeitet als Kellnerin in einem Café für gut situierte Gäste. Dort trifft sie auf einen eleganten älteren Herrn, der mit seiner finanziellen Potenz um ihre Gunst wirbt. Ihr zweiter Verehrer ist ein Grundschüler aus der Nachbarschaft, der für seine Aufnahmeprüfung in die Musikhochschule im Klavierzimmer der Protagonistin übt. Plötzlich gesteht er ihr seine Liebe und rennt mit einer Erektion aus dem Haus. Der ältere Herr zeigt sich eher bescheiden: „Nur ausziehen, das genügt schon …“. Dass bei ihr selbst etwas „heillos aus dem Lot“ sein muss, wird der Dreißigjährigen, der keine Beziehung zu einem gleichaltrigen Mann gelingt, klar. Sie spricht noch in der Nacht bei einem Shintô-Schrein vor. Der „Rest ist Hoffen“.

Eine zweifelhafte Erfahrung sei besser als ungelebtes Leben. Man müsse die Umstände annehmen und das Beste daraus machen, ohne den Mut zu verlieren. Nicht verzweifeln, Mädchen. Alles wird gut. Auch du findest am Ende dein Glück, lautet die Botschaft. Freilich bemüht sich Yoshimoto, nicht dem Format der heute in Japan ebenso wie im Westen beliebten Ratgeberliteratur zu verfallen und nicht ganz in der Rolle der Seelentrösterin aufzugehen. Einzelne Szenen ihrer Schilderung der Leiden junger Japaner geraten aber doch etwas sentimental. Andere Heilungsversuche sind dagegen durchaus originell, zum Beispiel die Episoden mit den Aloen und dem Mumienfetischisten.

Man kann sich Yoshimotos literarische Kur ruhig verschreiben lassen, zumal sie dem interessierten Leser aufschlussreiche Innenansichten eines seelisch prekären Japan vermittelt. Es gilt das rechte Maß zu finden: Wer also zu Trostzwecken Yoshimoto liest, sollte sich umgehend auch ein Buch von Natsuo Kirino gönnen. Deren schwarze Prosa stellt das geeignete Antidot dar – gegen so viel literarische Therapie.

Titelbild

Banana Yoshimoto: Mein Körper weiß alles. 13 Geschichten.
Übersetzt aus dem Japanischen von Annelie Ortmanns und Thomas Eggenberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2010.
203 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067514

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