Der Lack ist ab

Der von Manfred Chobol herausgegebene Band „Genie & Arschloch“ bietet die nicht ganz überraschende Einsicht, dass Künstler keine höheren Wesen sind

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pablo Picasso war ein „Arschloch“. Bertolt Brecht auch. Ernest Hemingway, Wassily Kandinsky und Richard Wagner sowieso. Nicht, dass man das nicht schon gewusst oder zumindest geahnt hätte. Manfred Chobot fasst für uns die geballte Gemeinheit der Kreativen unter dem Titel „Genie & Arschloch“ noch einmal zusammen. Man liest etwas über die gepaarte Arroganz von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, die Intrigen um Johannes Brahms, Gustav Mahler und Anton Bruckner und die falsche Freundschaft der Katherine Mansfield. Chobots Auswahl beschränkt sich auf Künstler und Literaten. Politiker schließt der Herausgeber ausdrücklich aus, denn dann „wäre der Umfang unübersehbar geworden“.

Ebenso bleiben Wissenschaftler und Ingenieure verschont, obwohl auch unter ihnen geniale „Arschlöcher“ und peinliche Geschichten über Verrat, Plagiat, Opportunismus und intellektuelle Ausbeutung auszumachen wären. Nicht alle in die Sammlung Aufgenommenen sind Genies und die für norddeutsche Ohren derbe Beschimpfung verliert im Wienerischen Idiom des Herausgebers ihre schroffe Unmanierlichkeit. Worauf der Titel zielt, ist der irritierende Widerspruch zwischen ästhetischer und moralischer Existenz, der weniger von den Künstlern selbst als von ihren Mitmenschen erlitten wird.

„Haben schöpferische Menschen das Recht, all diejenigen, die ihnen nahe stehen, zu vernichten, und in die Verzweiflung zu treiben?“, fragt Picassos Enkelin Marina. „Nein, ich glaube nicht, dass sich ein Genie alles herausnehmen kann“, stellt sie fest, fügt jedoch die Einsicht hinzu: „Aber für meinen Großvater war die Kunst die einzige Möglichkeit sich mitzuteilen“. Musste Picasso also Künstler werden, weil er ein „Arschloch“ war? Weil er sich aufgrund eines persönlichen Defizits anders nicht ausdrücken konnte? Oder „muss man – Mann aber auch Frau – ein Arschloch sein, um zum Genie zu avancieren?“, wie der Kultur- und Literaturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk im einleitenden Essay fragt. Ist moralische Hemmungslosigkeit eine Voraussetzung für die ästhetische Hemmungslosigkeit, durch die große Kunst entsteht?

Zur Beantwortung der Frage wirft Müller-Funk zunächst einen historischen Rückblick auf den Geniekult um 1800 und konstatiert den nachlassenden Glanz des Geniebegriffs. Die Ausnahmeposition, die das Genie gottgleich im Prozess der Säkularisierung einnahm, verband es mit einem Begriff von Größe, der die Frage nach menschlicher, moralischer oder politischer Verantwortung – zum Beispiel später bei Friedrich Nietzsche – als „Sklavenmoral“ abtat, „als Ressentiment des spießigen Menschen gegen die Größe weniger Geistesaristokraten“. Der Verlust des Pathetischen in der Moderne und die Ummünzung des Genialen in Talent – oder noch aktueller: in ökonomisch trainierte Fantasie – trennt die Verbindung des Künstlers zum Göttlichen. Die konzeptionelle Rückholung des Künstlers in den gesellschaftlichen Kontext und das dialogische Moment moderner Literatur erschweren es dem modernen Leser zudem, den biografischen Hintergrund und die Verfehlungen des Autors zu ignorieren.

Worin diese Verfehlungen der Künstler bestehen, zeigen die dem einleitenden Essay folgenden Charakterstudien. Dreizehn Autoren, oft selbst Dichter, fällen ihre Urteile. Die Vorwürfe sind hart, meist nicht ganz neu und wie bei jeder biografischen Darstellung liegt die Wahrheit in den Augen des Autors. Die aneinandergereihten Präzedenzfälle bieten immer wieder die Gelegenheit, die Grenzen der Toleranz beim Autor und bei sich selbst zu verfolgen. Wenig instruktiv und allenfalls für Schlüssellochgucker von Interesse sind die Ausführungen, die mit Häme und Voyeurismus die charakterlichen Schwächen genüßlich sezieren oder mit schwacher moralischer Empörung das soziale Versagen der Genies feststellen. Weitaus substantieller ist es, wenn beispielsweise Hilde Schmölzer in ihrem Brecht-Kapitel zu ergründen sucht, warum sich die Frauen um den Dramatiker materiell, sexuell und intellektuell von ihm ausbeuten ließen. Aus Liebe, aus Berechnung, aus Abhängigkeit? Das Abhängigkeitsverhältnis und die eigene künstlerische Beschränkung, in die weibliche Kongeniale im Zusammentreffen mit männlichen Genies oft geraten, zeichnet sich dabei als spezielles soziales Muster ab, das zum Beispiel auch in der von Judith Gruber-Rizy beschriebenen Beziehung zwischen Gabriele Münter und Wassily Kandinsky deutlich wird.

In anderer Hinsicht aufschlussreich ist Ludwig Lahers Artikel über Franz Stelzhamer, den weniger bekannten und keinesfalls genialen Dichter der offiziellen oberösterreichischen Landeshymne. Laher entlarvt den bis heute als Inkarnation landestypischer Tugenden verehrten Stelzhamer als Rassisten und Antisemiten, der sich in die unverblümte Aufforderung zum Völkermord hineinsteigere. Bei anderen Autoren des Bandes avancieren die Charakterfehler der Künstler zu individuellen Bedingungen der genialen Kreativität und bewahren derart ein kleines Nachblinken des Geniekultes. So wiederholt Friederike C. Raderer die in der Wagner-Literatur auftauchende Rechtfertigung, der Komponist hätte Stress und Streit als notwendige emotionale Auslöser seiner Schaffensschübe provoziert. Zu Karl Valentins kindlichem Sadismus führt Monika Dimpfl dessen Biografen an, die darin eine „Belastungsprobe“ und die „Inszenierung eines ungewissen sozialen Experiments“ sehen.

Künstlerisch genial, moralisch „letztklassig“ – kann man ein Kunstwerk noch schätzen, wenn man gelesen hat, dass dessen Schöpfer ein „Arschloch“ war? Bleibt uns das Lachen fortan im Hals stecken, weil wir nun wissen, dass Karl Valentin einen früheren Kollegen zum Spaß bei den Nazis als Jude denunziert hat? Müller-Funk weiß auch keine Antwort und rettet sich im einleitenden Essay in eine „Ethik des Formalen“. Er meint damit eine Ethik, die nichts mit der persönlichen Moral zu tun haben brauche und auf eine Reflexion ziele, die nicht bloß programmatisch auf der Ebene des Inhalts verkündet werde, sondern in der Struktur des Werkes verankert sei. Letztlich müssten wir damit leben, dass ein unangenehmer Mensch ein geniales Werk schaffen kann. Denn vielleicht – so Müller-Funks Vermutung – ist nur ein ethisch und moralisch abgründiger Künstler in der Lage, jene dunklen menschlichen Seiten zu erfahren und ästhetisch zur Anschauung zu bringen, die den Durchschnittlichen kathartische Wirkung verheißen.

Titelbild

Manfred Chobot (Hg.): Genie & Arschloch. Licht- und Schattenseiten berühmter Persönlichkeiten.
Mit Fotografien von Katharina Laher.
Molden Verlag, Wien 2009.
280 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783854852346

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