Kein Roman

Eins der besten Bücher Sergej Dowlatows endlich auf Deutsch: „Der Koffer“

Von Evgenij UnkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evgenij Unker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während manch einer in Russland behauptet, der Roman als Gattung habe sich erschöpft und an den Werken Dowlatows die „Anekdotisierung des Romans“ demonstrieren will, hält sich offenbar bei den deutschen Verlegern die Überzeugung, dass nur was mit „Roman“ überschrieben ist, sich hierzulande verkaufen ließe. Dowlatows „Der Koffer“ ist kein Roman, wie es der deutsche Schutzumschlag suggeriert, gehört aber sicher zu den besten russischsprachigen Erzählbänden der letzten Jahrzehnte.

Acht Gegenstände findet der Erzähler, ebenso wie der Autor mit dem Namen Dowlatow, in seinem Koffer, mit dem er aus der UdSSR in die USA hat emigrieren dürfen. Acht meisterhafte, witzige, aber auch ob ihrer Glaubwürdigkeit erschreckende Geschichten erzählt er. Jeder Gegenstand weckt eine Erinnerung: Ein Offiziersgürtel ruft etwa die Zeit im Straflager ins Gedächtnis, in dem Dowlatow im Wehrdienst als Wachmann dient, eine Mütze den geschäftstüchtigen, aber gerne einen über den Durst trinkenden Bruder und ein Hemd die Beziehungsperipetien mit der Ehefrau, die – in der Erzählung wie in der Realität – noch vor Dowlatow ins Ausland gegangen ist.

Ein „Goldjunge der russischen Literatur“ sei Dowlatow, meint Wladimir Kaminer in seinem Vorwort: „Niemand könnte so lustig über den Ernst des Lebens schreiben wie er.“ Recht hat er, Dowlatow ist einer der besten Humoristen der russischen Literatur. Und zeichnet dabei doch immer ein lebensechtes Porträt der meist nicht besonders rosigen Realität des sowjetischen mehr oder weniger Normal-Bürgers. Nicht das eines kommunistischen Fanatikers, aber auch nicht das eines prinzipiellen Dissidenten. Eher eines Individualisten, der frei leben und arbeiten will. Genauso wie der Autor selbst. Dowlatow versteht sich nie als Dissident oder Regimekritiker, emigriert nach eigenem Geständnis nur, weil er in der Sowjetunion so gut wie nichts Literarisches publizieren darf.

In seiner Heimat schlägt er sich mit journalistischer Arbeit durch – bei der seine Handschrift eine andere wurde, wie er einmal schreibt. Sicher gilt dies vor allem für den verlogenen sowjetischen Journalismus, den sein ebenfalls auf Deutsch vorliegender Erzählband „Der Kompromiss“ eindrücklich schildert. Stoff liefert seine Zeitungsarbeit in Tallinn, wohin er Anfang der 1970er-Jahre aus Leningrad (heute Sankt Petersburg) zieht.

Doch auch im liberaleren Estland wird seine erste Buchveröffentlichung in letzter Minute vom KGB gestoppt. Als er in ausländischen Zeitschriften publiziert, wird er auch aus dem Journalistenverband ausgeschlossen. Erst nach der Emigration 1978 nach New York erscheinen endlich seine ersten Bücher in den USA, auf Russisch und in englischer Übersetzung. Die führenden amerikanischen Zeitschriften – darunter „The New Yorker“ – drucken seine Erzählungen. Die amerikanische Kritik ist recht positiv, vor allem weil sie Dowlatows Geschichten als Kritik auf die Sowjetunion liest. Dowlatow wird Mitbegründer und später Chefredakteur einer populären russischsprachigen Emigrantenzeitschrift, schreibt für sie hervorragende Glossen, die dann teilweise sogar wörtlichen Eingang in seine literarischen Texte finden und seine Behauptung von der Handschriftänderung relativieren.

Den ganz großen Erfolg in seiner Heimat erlebt Dowlatow nicht mehr. Kurz zuvor stirbt er 1990 mit nur 49 Jahren an Herzinsuffizienz. Inzwischen ist er zu den populärsten und meistgelesenen Autoren in Russland avanciert. Und genauso wie er gewisse Vorbilder und Lieblingsschriftsteller hat – Ernest Hemingway, Alexander Kuprin oder Anton Tschechow zum Beispiel –, wird Dowlatow nun selbst zum Leitbild und zur Inspirationsquelle für jüngere Autoren. Zu diesen gehört auch Wladimir Kaminer mit seinen drolligen kulturübergreifenden Geschichten, die à la Dowlatow dem Leben gleichsam direkt abgelauscht sind. Anders als Dowlatow tendiert Kaminer etwas zum literarischen Small Talk, zum liebenswürdigen Geplauder, doch in seinen besten Geschichten und Büchern („Russendisco“, „Die Reise nach Trulala“, „Militärmusik“, „Meine russischen Nachbarn“) spürt man durchaus den Dowlatow’schen Geist des konzisen Ausdrucks und der pointierten erzählerischen Wirklichkeitsverdichtung.

Als Erzähler – und nicht als Schriftsteller – versteht sich auch Dowlatow. Der Schriftsteller, so seine Erklärung in einem Interview, beschreibt, wofür die Menschen leben, wie sie leben sollen, er beschäftigt sich mit „seriösen Problemen“. Der Erzähler beschreibt dagegen, wie die Menschen leben. Und darin ist Dowlatow ein Meister. Er moralisiert nicht, liest seinem Leser keine Leviten, schwatzt nicht, erzieht nicht. Wenn er eine Beobachtung einstreut, dann immer in dezenter, aphoristischer Form, ganz nebenbei. Vordergründig ist immer die Geschichte, die das sowjetische und das Emigrantenleben schreibt – oder schreiben könnte. Die Versuchung, Dowlatow aufs Wort zu glauben, ist groß. Immer wählt er die Ich-Form, und fast immer heißt der Ich-Erzähler genauso wie der Autor. Die Motive und Spielorte entstammen stets seiner tatsächlichen Biografie. Die Universität, an der er einige Jahre in Leningrad Finnisch studiert, das Puschkin-Museum in Michajlowskoje, wo er als Fremdenführer eine Zeit lang arbeitet, das Straflager für Schwerverbrecher, die Emigration und natürlich die zahlreichen Zeitungsredaktionen – alles wird zum Stoff, zum Motiv, zur Folie. Sogar real existierende Personen – Verwandte, Freunde, Literaturkollegen – tauchen häufig mit ihren richtigen Namen auf, sind Teil und Mittelpunkt der Geschichten und machen sie lebendig. Höchstes Lob für Dowlatow ist, wenn jemand eine solche Geschichte für einen wortwörtlichen Abguss der Wirklichkeit hält. Dass nicht alle realen Personen sich gern auf diese Weise als Literaturfiguren wiederfinden, ist für ihn unbedeutend. Der Meister erfindet gerne die eine oder andere Replik oder Handlung dazu, wandelt die gleichen Motive immer wieder ab, schreibt sie neu. Kaum legt sich beim Leser die voyeuristische Freude darüber, gerade Mitwisser intimer biografischer Details geworden zu sein, schon stößt er im nächsten Buch des Autors auf eine andere, mit der gerade gelesenen unvereinbare Version desselben biografischen Ereignisses.

Dowlatows Sprache ist knapp, auf das Wesentliche reduziert, immer treffsicher. Wenige gekonnte Striche, ein charakteristisches Wort, eine eingeschobene Anekdote genügen – sofort sieht der Leser die beschriebene Person oder Situation wie lebendig vor sich. Schon Joseph Brodsky lobt die rhythmische, geradezu lyrische Lakonik des Dowlatow’schen Stils.

Desto größeres Lob gebührt nun der Übersetzerin dafür, dass sie nahezu makellos diese stilistische Prägnanz und Leichtigkeit im Deutschen wiedergibt. Fast immer gelingt es Dorothea Trottenberg, das passende deutsche Äquivalent – ein Wort oder eine elegante grammatische Konstruktion – zu finden. Missgriffe sind selten und haben auf das Sinnverständnis meist keinen Einfluss. „Jacke“ statt „Jackett“, „Essays“ statt „Reportagen“, das etwas für die Dowlatow’schen Figuren hochgestochene „Galan“ statt dem eher der vulgären Sprache entsprechenden „Macker“ oder „Typen“ – all das sind Belanglosigkeiten. Auch dass bei Trottenberg der Lagerjargon an einigen Stellen kaum von der Sprache einer gestressten Kindergartenerzieherin zu unterscheiden ist – „Was macht der hier Randale?“ –, ist zwar bedauerlich, für den Sinnzusammenhang jedoch nicht von Bedeutung.

Ärgerlicher wird es, wenn eine Sinnfacette, der Witz durch die Übersetzung verloren geht oder ein anderer wird. In der Erzählung „Die Autohandschuhe“ erhält Dowlatow für eine satirische Amateurfilmaufnahme die volle Zarentracht Peter des Großen und geht darin durch die Flure des Lenfilm-Studios. „Ein paar Leute, die uns entgegenkamen, sahen sich um, aber es waren nicht viele.“ Der im Original nur vier Wörter lange Satz wäre weniger umständlich und korrekter so wiederzugeben: „Die Entgegenkommenden sahen sich um, aber selten.“ Es gab genug Leute, die entgegenkamen, nur sahen sie sich selten um. Hier steckt ein leiser Vorgriff auf die weitere Handlung, welche die vollkommene Teilnahmslosigkeit der Menschen offenbart in einem Staat, in dem sich niemand mehr über irgend etwas wundert – eine Stumpfheit, an der am Ende der Filmdreh denn auch scheitert. Diese feine Nuance geht in der Übersetzung verloren.

Ein anderes Beispiel: In der Sowjetunion heiß begehrte, aber nicht produzierte „finnische Acrylsocken“ werden in der gleichnamigen Erzählung zwecks illegalem – weil jede Form der Privatwirtschaft illegal ist – Weiterverkauf erstanden. Der Kumpan Rymar zählt die angekaufte Ware zusammen: „Genau siebenhundertzwanzig Paar. Die Finnen sind ein ehrliches Volk. Von wegen – unterentwickelter Staat…“ Und schon ist ein notorischer Krimineller zum Moralisten geworden, der gerade erst die sowjetische Propaganda gegen die kapitalistischen Länder als unzutreffend entlarvt hat. Keine Spur vom feinen Humor eines Dowlatows, der Rymar die antikapitalistische Agitprop und gleichzeitig die seiner Meinung nach nicht besonders klugen – weil ehrlichen – Finnen ironisieren lässt: „Ein unterentwickelter Staat eben.“

Solche sinnverfälschenden oder witzfressenden Fauxpas lassen sich aber in Trottenbergs Übersetzung an den Fingern einer Hand abzählen und trüben den Lesegenuss kaum. Zum besseren Verständnis ist dem Buch dankenswerterweise auch ein kleines Glossar beigegeben. Um der leichten Lektüre Vorschub zu leisten, wird sogar stillschweigend die eine oder andere Verständnishilfe direkt in den Text eingeschoben. So steht etwa statt in Deutschland unbekannten Markennamen in der Übersetzung gleich die entsprechende Warentypbezeichnung, statt „Sylvester“, das in Sowjetrussland Weihnachten abgelöst hat, gleich „Weihnachten“. Beim Wodkapreis wird ein ganzer im Original fehlender Satz zur Erklärung eingeschoben.

Trottenbergs Übersetzung ist also durchaus ein Fest für jeden Liebhaber erzählerischer Literatur und der russischen im Besonderen. Unverständlich ist nur, dass von Dowlatow auf Deutsch bisher außer dem „Koffer“ nur die Erzählbände „Die Unsrigen“ (mit Familiengeschichten) und „Der Kompromiss“ vorliegen. Dowlatow hat noch einige hervorragende Bücher geschrieben, von denen man einige auch mit weniger Phantasieaufwand als Roman verkaufen könnte.

Titelbild

Sergej Dowlatow: Der Koffer.
Mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer.
Übersetzt aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
DuMont Buchverlag, Köln 2008.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783832180737

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