Die Verbrecher von nebenan

Ferdinand von Schirach legt 15 neue Justizgeschichten vor

Von Jutta LadwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Ladwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem im vergangenen Jahr Ferdinand von Schirachs Erstlingswerk „Verbrechen“ die Bestsellerlisten eroberte, stellten sich die Kritiker bereits die Frage, ob er diesen Erfolg mit seinem nächsten Werk wiederholen könnte. Dem Autor war ein enormer Coup gelungen: Kritiker, die Medien und das Publikum überschütteten den Berliner Anwalt und Strafverteidiger mit verdientem Lob und Anerkennung, in über 30 Länder wurden die Übersetzungs-Lizenzen verkauft, Anfang 2010 sicherte sich Constantin Film die umfassenden Filmrechte. Im April wurde außerdem bekannt, dass Schirach den Kleist-Preis 2010 für sein Erstlingswerk erhält.

Ein beachtliches Resultat für ein Debüt. Da sind der Druck und die Erwartungen für den Folgeband entsprechend groß. Doch Schirach hat dies gekonnt gemeistert – im August erschien „Schuld“: 15 neue Kurzgeschichten aus der Kriminaljustiz, ähnlich denen aus „Verbrechen“, nur noch besser.

Alle Stories, wie Schirach seine Kurzgeschichten nennt, schildern brutale Verbrechen: Vergewaltigung, Folter, Körperverletzung und Mord. Aber auch die bestürzenden Schicksale der Protagonisten werden berücksichtigt. Diese sind vom Charakter her grundverschieden und handeln aus unterschiedlichen Motiven – oft mit unerwartetem Ausgang.

„Es waren ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen: Versicherungsvertreter, Autohausbesitzer, Handwerker. Es gab nichts an ihnen auszusetzen. Fast alle waren verheiratet, sie hatten Kinder, bezahlten ihre Steuern und Kredite und sahen abends die Tageschau. Es waren ganz normale Männer, und niemand hätte geglaubt, dass so etwas passieren würde“, heißt es in der ersten Story „Volksfest“ von den Mitgliedern einer Blaskapelle. Dennoch begehen sie ein Verbrechen. Es ist ein heißer Sommertag, die Musiker schwitzen unter ihren Perücken und ihrem Make-up. Die junge Kellnerin bringt ihnen Bier, gleitet auf dem Boden aus und gießt sich die Getränke über das T-Shirt, so dass sich ihre Brüste unter dem Stoff abzeichnen. Die Männer verstummen.

Später wird das Mädchen nackt und besudelt aufgefunden, die Nase, zwei Rippen und der linke Arm sind gebrochen. Die von der Polizei sichergestellten Beweismittel werden durch die Unachtsamkeit der Beamten unbrauchbar, weitere Spuren werden im Krankenhaus von den behandelnden Ärzten verwischt. Da die Täter nicht eindeutig identifiziert werden können, muss der Untersuchungsrichter die beschuldigten frei lassen, zu einem Verfahren kommt es nicht.

Anders verhält es sich im Fall von Nina und Thomas („DNA“): Sie sind beide obdachlos und verbringen den Heiligen Abend bettelnd am Berliner Bahnhof Zoo. Ein älterer gepflegter Herr lädt Nina in seine Wohnung ein, ihr Freund kann ebenfalls mitkommen. Dankbar nehmen die beiden das Angebot an. Der ältere Mann schlägt Nina vor, ein Bad zu nehmen. Zunächst ist sie sich unsicher, weil sich die Tür nicht abschließen lässt, doch da Thomas im Raum nebenan ist, willigt sie ein. Während Nina badet, betritt der Fremde den Raum und beginnt zu masturbieren. Nina gerät in Panik und ruft Thomas um Hilfe. Gemeinsam überwältigen sie den Mann und halten dessen Kopf so lange unter Wasser, bis er sich nicht mehr rührt. Da der Tote bereits unter anderem wegen sexueller Nötigung vorbestraft ist, kann Nina und Thomas nichts nachgewiesen werden.

Den beiden gelingt es nach diesem Ereignis, mit dem von dem Fremden gestohlenen Geld ein neues Leben aufzubauen. Sie heiraten, bekommen zwei Kinder und gehen regelmäßig arbeiten. Doch 19 Jahre später wird der Fall aufgerollt. Mittels DNA-Test werden Nina und Thomas überführt. Um einer Verurteilung zu entgehen, erschießt Thomas Nina und begeht anschließend Selbstmord.

Alle Geschichten sind einem Zitat von Aristoteles untergeordnet: „Alle Dinge sind, wie sie sind.“ Ein passendes Motto für diese Geschichtensammlung. Denn Schirach stellt nicht die Frage von Schuld und angemessener Sühne oder weist eindeutig Schuld zu. Vielmehr stellt er die Fälle in allen Facetten dar und legt die rechtliche Situation offen. Menschen werden verurteilt, weil alle Indizien ihre Schuld beweisen. Gleichermaßen werden sie freigesprochen, wenn keine Beweismittel für ihre Schuld im juristischen Sinne sprechen. Gleichzeitig wird in diesen Stories klargemacht, dass nicht jeder, der vor Gericht freigesprochen wird, frei von jeder Schuld ist. Doch diese moralische Schuld zu bewerten, ist kein Gericht fähig.

Am Aufbau der Stories hat sich wenig geändert: Die Kapitel sind mit aussagekräftigen Begriffen wie „DNA“, „Anatomie“ oder „Verlangen“ benannt. Schirach beginnt jeweils mit der Fallerzählung und geht dann über in die rechtliche Einordnung des Falles und Urteilsbegründung. Bindeglied ist das literarische „Ich“, ein Anwalt und Strafverteidiger, der namenlos bleibt. Wie viel vom echten Schirach in dieser Figur steckt, bleibt offen. Nur in der letzten Geschichte „Geheimnisse“ fällt sein Name, ausgerechnet als es um fragwürdige Identitäten geht.

Im Vergleich zum Vorgänger geht Schirach in „Schuld“ distanzierter und raffinierter mit dem Stoff und den Figuren um. Seine Sätze sind kurz, prägnant und ohne unnötige Ausschmückungen, die meist komplexen Fälle werden hier kurzgefasst erzählt. Nüchtern und gewohnt lakonisch berichtet er von den scheußlichen Verbrechen, fügt sachliche und kurze Erläuterungen zum Thema ein, wie etwa in „Einsam“ über verdrängte oder unbemerkte Schwangerschaften. Doch gerade diese Distanz und Schirachs minimalistische Sprache, lässt die einzelnen Stories noch stärker und authentisch wirken.

Viel Selbsterlebtes steckt in ihnen, allerdings muss kein Mandat befürchten, selbst in Schirachs Geschichten aufzutauchen: „Der Kern der Fälle verändert sich zwar nicht, alles andere, die Situation und die Personen, sind aber so verfremdet, dass sich kein Mandant wieder erkennen würde“, erklärt Schirach in einem Interview.

In „Der Schlüssel“ jedoch, beweist Schirach auch seine schriftstellerischen Fähigkeiten. Es ist die längste Geschichte in diesem Buch, voller schwarzem Humor und erinnert an Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“. Hier schickt er zwei Gangster auf eine brutale und urkomische Odyssee nach einem verschluckten Schließfachschlüssel.

Ob dies bereits ein Vorgeschmack auf das nächste Buch Schirachs ist, lässt er offen, nur dass „Schuld“ sein vorerst letztes Buch mit Stories sein wird. Mehr wollte er dazu jedoch nicht verraten. An Inspiration wird es ihm wahrlich nicht mangeln. Auf seinem Computer seien unter anderem 5000 Obduktionsbilder, Strafakten, Zeugenaussagen und psychiatrische Sachverständigengutachten gespeichert, schreibt Schirach in einer Ausgabe des „Literaturen“ -Magazins. Mehr als genug Stoff für einen Roman. Wir dürfen also gespannt sein, was für eine Geschichte Schirach in seiner ihm typischen lakonischen und minimalistischen Sprache uns das nächste Mal präsentiert.

Titelbild

Ferdinand von Schirach: Schuld. Stories.
Piper Verlag, München 2010.
200 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783492054225

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch