Zwischen Macht und Moral

Der von Stefan-Ludwig Hoffmann herausgegebene Sammelband „Moralpolitik“ bietet aufschlussreiche empirische Studien zur konfliktreichen Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Menschenrechte sind ein Feld, das Historiker bisher stiefmütterlich behandelt haben, obwohl sie zu den bedeutenden Grundüberzeugungen demokratischer Gesellschaften gehören. Das ist der forschungsstrategische Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Sammelbandes „Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert“, der auf einen Kongress 2008 am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin zurückgeht. Das Buch bildet den ersten Band in der Reihe „Geschichte der Gegenwart“ im Wallstein Verlag.

Der Herausgeber Stefan-Ludwig Hoffmann stellt in der Einleitung fest, dass die Menschenrechte seit den 1990er-Jahren ein „expandierendes Forschungsfeld“ darstellten, jedoch „ohne dass die Historiker sich an den Debatten beteiligt hätten“. Auch wenn Zweifel an dieser These angemeldet werden können – das „Historische“ der 15 Studien von Forschern aus Deutschland und dem englischen Sprachraum besteht darin, die Genese, die Durchsetzung und die Auslegung der Menschenrechte in den Kontext politischer, häufig gewaltsamer internationaler Konflikte zu stellen. Das ist lobenswert. Denn diese empirische Historisierung hebt sich ab von einer normativen Begründung der Menschenrechte als vorgesellschaftlich gegebener Konstante. Sie widerspricht zudem Ansätzen, die die Entwicklung der Menschenrechte als Abfolge von liberalen Freiheits-, demokratischen Teilnahme- und sozialen Teilhaberechten ansehen. Hier wird also keine Konsenssoße gekocht, sondern harte Analyse betrieben.

Die Einleitung des Herausgebers gibt einen luziden Überblick zum Thema: Sie erwähnt die Phase einer neuen Gefühlsseligkeit in den Moraldiskursen des 18. Jahrhunderts und erläutert das Verschwinden der Menschenrechtssemantik zugunsten der imperialistischen Leitbegriffe „Rasse“, „Klasse“, „Nation“ und „Zivilisation“ im 19. und 20. Jahrhundert. Nach 1945 verlor das Konzept der moralischen Überlegenheit gegenüber so genannten „Barbaren“ außerhalb Europas an offizieller Bedeutung, womit der Raum für eine Diskussion über universale Rechte frei wurde.

Dennoch kann nicht von einer bruchlosen Erfolgsgeschichte der Menschenrechte gesprochen werden: Zum einen bewegte sich dieser Diskurs auf rhetorischer Ebene. Im Kalten Krieg verwendeten die Akteure die Menschenrechte im Lichte eigener staatlicher Interessen, wie Jennifer Amos am Beispiel der Sowjetunion zeigt. Devin O. Pendas spricht unter anderem – mit Verweis auf den Widerstand der USA gegen den Internationalen Strafgerichtshof – „von der großen Anziehungskraft der Argumente für nationale Souveränität“ sowie von materiell offenen Formulierungen der Menschenrechte selbst. Beides erschwert ihre globale (strafrechtliche) Durchsetzung.

Einen äußerst lesenswerten Beitrag hat Fabian Klose beigesteuert. Er rückt anhand der Kolonialpolitik von Großbritannien in Kenia und von Frankreich in Algerien in den 1950er- und 1960er-Jahren das schlagkräftigste politische Instrument des Machterhalts in den Fokus: die Ausrufung des staatsrechtlichen Notstandes. Als demokratische Rechtsstaaten nahmen Frankreich und Großbritannien an der Menschenrechtsdiskussion teil – und riefen zugleich in ihren Kolonien den Ausnahmezustand aus, „um elementare Grundrechte außer Kraft zu setzen“ und ihre Regime mit gewalttätigen Maßnahmen aufrechtzuerhalten, so Klose.

Was paradox klingt, erscheint logisch, wenn die machtpolitische Komponente des Rechts berücksichtigt wird. Weil Moral und Macht eine Allianz eingehen, können Menschenrechte als Begründung für militärische Einsätze herhalten und „zu einer hegemonialen Technik“ werden, wie sie dem Herausgeber Stefan-Ludwig Hoffmann erscheinen. Diese realistische Perspektive zeichnet das Buch aus. Und damit können Menschenrechte auch in ihrer Widersprüchlichkeit und Konflikthaftigkeit begriffen werden.

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Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
437 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306394

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