„Hitlers reinigende Feuer“

Mitchell G. Ash hat einen Sammelband über die Geschichte der Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen herausgegeben

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Brief an den russischen Psychoanalytiker Nikolaj J. Ossipow vom 23. Februar 1927 schreibt Sigmund Freud: „Irgendwoher haben die Bolschewiken die Meinung gefangen, dass die Psychoanalyse ihrem System feindlich ist. Sie kennen die Wahrheit, dass unsere Wissenschaft sich überhaupt nicht in den Dienst einer Partei stellen lässt, selbst aber zu ihrer Entwicklung einer gewissen Freiheitlichkeit bedarf.“

Das Problem der Freiheitlichkeit steht im Zentrum des vom Verlag Brandes & Apsel in Frankfurt vor wenigen Wochen erschienenen Sammelbandes „Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen“. Herausgegeben wurde er von Mitchell G. Ash, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien und ausgewiesen unter anderem durch Veröffentlichungen zu Gestaltpsychologie und Holismus in der deutschen Kultur 1890-1967 sowie zur Psychologie und Psychiatrie „im Dienste der Stasi“.

Die Autoren des Bandes stellen die jahrzehntelang tradierte Annahme in Frage, dass die Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimes keineswegs gedeihen kann – eine Annahme, die auch in Freuds oben zitierter Aussage kategorisch vertreten wird. Sie stellen sich das Ziel, die Bedingungen zu analysieren, unter denen die Entwicklung der Psychoanalyse in solchen Regimen doch noch möglich war und den Grad an „Freiheitlichkeit“ festzustellen, dessen die Psychoanalyse bedarf, um ihre Ziele erfüllen zu können. Eine der grundlegenden Thesen des Herausgebers betrifft die Vernetzung zwischen Wissenschaft und Politik und leitet die Aufsätze ein: „[…] dass gerade beim Wechsel von einem politischen Regime zu einem anderen, und zwar gerade dann, wenn es sich um den Übergang von der Demokratie zur Diktatur handelt, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik beziehungsweise von Wissenschaft und Staat neu verhandelt wird und auch neu verhandelt werden muss.“ Dabei geht Ash davon aus, dass „die Initiative meist von wissenschaftlicher Seite“ ausgeht, „denn erst dadurch lernt die politische Seite überhaupt, welche Möglichkeiten einer Zusammenarbeit hier bestehen“. Mit dieser Sichtweise möchte Ash den „konventionellen Dualismus“ zwischen Wissenschaft und Politik aufheben, setzt jedoch zugleich einen neuen Akzent auf die Wissenschaft, indem er sie nicht mehr zum bloßen Opfer der Politik degradiert, sondern ihr Kompetenzen, aber auch Verantwortung zuweist.

Der Band legt viel Wert auf Breite sowie auf die vielseitige Beleuchtung unterschiedlicher Aspekte und ist international ausgerichtet. Erwartungsgemäß widmet sich ein Großteil der Aufsätze dem Schicksal der Psychoanalyse während des nationalsozialistischen Regimes. In diesem Rahmen bildet „das Ende der Psychoanalyse in Wien 1938“, wie Kapitel II des Buches heißt, einen besonderen Fokus.

Christiane Rothländer befasst sich mit dem heiklen Thema der „Arisierung“, „Beschlagnahmung“ und „Verbleib“ des Eigentums der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ab 1938; Birgit Johler geht auf Spurensuche, wertet anhand von Patientenkalendern August Aichhorns Praxis in den Jahren 1938-1944 aus und entwirft ein „Soziogramm“ seiner Patienten.

Autoren wie Geoffrey Cocks und Elisabeth Brainin, bekannt durch ihre hervorragenden Studien zur Geschichte der Psychoanalyse im Dritten Reich, präsentieren fundierte, wenn auch nach den Debatten der letzten Jahre und nach ihren eigenen bisherigen Untersuchungen nicht mehr so überraschende Untersuchungsergebnisse: So analysiert Brainin aufgrund von Traumkatalogen den Einfluss des Nationalsozialismus auf die Träume der Zeitgenossen und Cocks verweist auf die prekäre Situation der in Deutschland verbleibenden Psychoanalytiker, die aus „Gründen der Notwendigkeit, der Bequemlichkeit, des Ehrgeizes, der Angst oder der Begeisterung“ blieben, doch auch Patienten helfen konnten, „die nun mehr denn je Hilfe benötigten“. Somit wird die Bemühung der Autoren um eine differenzierte und historisch gerechte Betrachtung deutlich. Somit wandelt der Band jedoch auch auf einem schmalen Grat – die Gefahr einer Apologie des Opportunismus der in Deutschland verbliebenen, nichtjüdischen Analytiker ist immer präsent. Dennoch zögert zum Beispiel Cocks in seinen Ausführungen zu Müller-Braunschweig, Boehm und Schultz-Hencke keineswegs, die inhumanen Wirkungen einer solchen Sicht- und Handlungsweise hervorzuheben und gleichzeitig anderen nicht-jüdischen Analytikern wie Martin Grotjahn und Richard Sterba „bewundernswerte“ „Gewissenstreue und Solidarität“ ihren jüdischen Kollegen gegenüber zu attestieren. Cocks verschweigt auch Freuds problematisches Verhältnis zur Politik nicht – war ihm doch Schultz-Hencke, aber insbesondere Wilhelm Reich „ein Gräuel“, das aus seiner Sicht die Zukunft der Psychoanalyse gefährdete.

Cocks wirft die bekannte und äußerst kontrovers diskutierte Frage auf: Wurde die Psychoanalyse in Deutschland während des Nationalsozialismus „gerettet“ oder „liquidiert“? Genauso energisch bezieht Cocks Stellung gegen Annemarie Dührssen und ihre These, das Ergebnis der Zusammenarbeit mit dem Göring-Institut sei langfristig für die deutsche Psychoanalyse von Vorteil gewesen. Den Tendenzen der neueren historischen Forschung folgend verwahrt sich Cocks allerdings auch gegen die Behauptungen von James und Eileen Goggin, die von der absoluten Inkompatibilität zwischen der Psychoanalyse und dem Nazi-Regime ausgehen.

Mit der Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Psychoanalyse und Naziregime befasst sich auch Michael Schröter in seinem Aufsatz „,Wir leben doch sehr auf einer Insel…‘ Psychoanalyse in Berlin 1933-1936“. Im Vergleich zu Cocks verfolgt er aber eine ganz andere Linie. Schröter betont in Anlehnung an Anna Freud, dass die Psychoanalyse unter dem Nazi-Regime „zunächst“ weder verfolgt noch unterdrückt wurde und dass jüdische Psychoanalytiker „in den ersten Jahren in aller Regel“ auch „nicht physisch bedroht“ wurden. Schröter zeichnet die Bemühungen der in Deutschland gebliebenen Analytiker um Kontinuität und Normalität nach und gelangt zum für den Leser überraschenden Ergebnis, dass es heutzutage keinen Mut erfordere, „die Schuld der 1933 hiergebliebenen Analytiker gegenüber den vertriebenen Juden aufzuzeigen”, da dies eine anerkannte Tatsache sei. Er fordert, „den Repräsentanten der Hiergebliebenen gerecht zu werden, die mit einer unmöglichen Aufgabe konfrontiert waren.”

Dieses Plädoyer für die „Hiergebliebenen“ erfolgt in Schröters Aufsatz in Form einer tragischen Inszenierung, bei der es zu einer Heroisierung der Protagonisten kommt, auch wenn der Autor dies expressis verbis leugnet. Während er das Schicksal der jüdischen Psychoanalytiker, wie oben zitiert, relativiert, malt der Autor ein düsteres Bild der Situation der in Deutschland gebliebenen Psychoanalytiker, wobei er unentwegt auf die Schwierigkeiten und die Hemmnisse, welche sie überwinden mußten, hinweist. Die Schuldfrage schaltet der Autor nicht aus, er macht jedoch verstärkt auf die Verdienste dieser Personen aufmerksam. Charakteristisch sind heroisierende Bezeichnungen wie „Abwehr“ [ideologischer Angriffe]“, „Verteidigung [der psychoanalytischen Praxis und Theorie]“, „Front [der organisatorischen Selbstständigkeit]“, Verben wie „entkräften“ [die Vorwürfe an die Psychoanalyse, eine „jüdisch-marxistische Schweinerei“ zu sein], die häufig vorkommenden Substantive „Bestreben“, „Bemühung“ et cetera, die auf die Tapferkeit und zugleich auf die Angemessenheit der Handlungen der hiergebliebenen deutschen Analytiker hinweisen. Dazu kommen intellektuelle Verdienste wie mehrere von Boehm durchgeführte „Neuerungen“ sowie Müller-Braunschweigs Eintreten für ein „pluralistisches Konzept“, das später vom Göring-Institut sogar übernommen wurde. Wie die Tragödienhelden laut den aristotelischen Vorschriften sind diese Protagonisten weder „makellos“ noch „Schufte“ (Aristoteles, „Poetik“). Trotz ihrer heroischen Bemühungen ist aber ihr Los – und das ist „die Anpassung […] an die neuen Vorschriften“ – „unvermeidlich“, es gelingt ihnen nicht, sich dem Druck zu „entziehen“, der „unentrinnbare[n] Ambivalenz der Situation“ zu entkommen. Schröter selbst betont die Tragik der Situation, die aus „unauflösbare[r] Spannung“ bestanden habe. Verantwortlich für diese Spannung wiederum sei die „divergierende Perspektive“ der Hiergebliebenen. Diese „divergierende Perspektive“ entspricht dem für die Tragödie konstitutiven ,selbstbestimmten Handeln‘ der Protagonisten, bevor sie sich in ihr Schicksal doch fügen müssen.

Schröters Ausführungen folgen dem Modell eines sich durch Abgeschlossenheit auszeichnenden Dramas mit Höhepunkt, Peripetie und Fall der Protagonisten. Begleitet ist dieser für die Protagonisten „unabsehbare Prozeß“ von „Hoffnung“ und „Sorge“. Dieses Szenario ist darauf aus, analog zu den von Aristoteles für die antike Tragödie geforderten „Jammer und Schaudern“ „Einfühlung“, „Verständnis und Mitgefühl“ – wenigstens bis zu einer gewissen, hier nicht aufgezeigten Grenze – zu provozieren. Der Fehler dieser Männer beruht Schröter zufolge auf einem intellektuellen Irrtum und auf ihrem „Opportunismus“. Wie man aus Schröters Ausführungen folgern kann, ist letzterer jedoch höchstens als eine geringfügige sittliche Verfehlung einzustufen. Schuld an ihrem ,Sturz ins Unglück‘, der 1936 mit der Gründung des Göring-Instituts erfolgt, sind vor allem ihre Illusionen und ihre „ideologische Verblendung“. Ähnlich wie die antiken Tragödienhelden haben sie etwas Wichtiges nicht rechtzeitig erkannt – daß „Psychoanalyse und Nationalsozialismus unvereinbar sind“. Diese Schlussfolgerung wird jedoch erst von Schröter gezogen: „Aber hinterher ist man klüger.“ In der historischen Wirklichkeit hat der ,Fall‘ der Protagonisten hingegen keine solche Einsicht zur Folge: Sie werden treue Anhänger des Nazi-Regimes, denen man jede Erkenntnisfähigkeit absprechen muss, ganz zu schweigen von einer Absicht der Selbstbestrafung – man denke in beiden Fällen an den ebenfalls verblendeten Ödipus in der Tragödie des Sophokles. Schröter selbst zitiert Boehm, der bereits im Januar 1936 seine bedingungslose Identifikation mit den Idealen der Nazis deklariert und die Psychoanalyse voll und ganz in den Dienst des Regimes stellt: „Wir Psychoanalytiker sind der Ansicht, daß nur Arier diese Nacherziehung in unserem Staate [welche als Ziel der Psychoanalyse angegeben wurde] erfolgreich leisten können.“

Gleichzeitig bleibt Wilhelm Reich als Zentralgestalt und als eigentlicher Held und Opfer dieser erschreckenden Ereignisse in Schröters Darstellung marginal. Dass Reich „durch seinen militanten Marxismus“ für die Psychoanalyse eine große Gefahr gewesen sei, wird von Schröter aber trotzdem und ohne jede Distanzierung von diesem geläufigen Urteil unterstrichen.

Schröters Versuch, den Zeitraum 1933-1936 aus dem historischen Prozess zu isolieren, zu einer relativ abgeschlossenen „historischen Einheit“ zu erklären und innerhalb dieser Einheit ein neues Täter-Opfer-Modell aufzustellen, ist äußerst bedenklich und gefährlich. Zusätzlich legitimiert und abgesichert wird dieses Vorgehen mit der Abwendung von der diskreditierten Teleologie und unter Rekurs auf heutzutage positiv konnotierte Kategorien wie „Pluralismus“ und „Multiperspektivität“. Diese Haltung Schröters wurde in der März-Ausgabe der Zeitschrift „Psyche“ von David Becker treffend als „Historisierung des Nationalsozialismus auf dem Vormarsch“ bezeichnet. Von Schröter verschleiert wird dabei etwa die Tatsache, dass Müller-Braunschweig und Schultz-Hencke, wie von Geoffrey Cocks im vorliegenden Band zu Recht hervorgehoben, „bereits früh diverse apologetische Schriften, in denen sie die Psychoanalyse als die Förderung des Starken gegenüber dem Schwachen darstellten“ verfassten. Ein anderer inzwischen bekannter, hässlicher Fakt, der hier ausgeblendet wird und der auch schlecht ins von Schröter gezeichnete Bild passt, ist die Schuldeneintreibung, die Müller-Braunschweig in Angriff nahm, womit er jüdische Mitglieder der DPG an die Wand drückte. (Nitzschke 2003) Was in Schröters Aufsatz betrieben wird, ist also nicht nur eine Entlastung, sondern auch eine „Reinigung“, Rehabilitierung und Nobilitierung der hiergebliebenen Analytiker.

Dass Schröters Erörterungen den hiergebliebenen Analytikern zu viel Ehre erweisen und dass die von Schröter apostrophierte „Unentrinnbarkeit“ nicht ohne historische Alternative war, wird gleich bei der Lektüre des hervorragenden Beitrags von Håvard Friis Nilsen deutlich. Der Autor rekonstruiert die Verflechtungen zwischen Psychoanalyse und Politik in Norwegen und demonstriert ein positives Gegenbeispiel zum Konformismus und Opportunismus der hiergebliebenen deutschen Psychoanalytiker: Obwohl keiner der norwegischen Psychoanalytiker Jude war, verurteilten sie alle trotz des auch in Norwegen „grassierenden Antisemitismus” die Vertreibung der jüdischen Analytiker aus Deutschland. Außerdem protestierten sie alle „vehement” gegen den Ausschluss Wilhelm Reichs.

Statt als „Rettung“ bzw. „Liquidierung“ sollte die Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland nach 1933 als Verzerrung der Psychoanalyse betrachtet werden, wie aus einigen Textstellen in diesem Band hervorgeht. Einige der Mechanismen der Verzerrung der Psychoanalyse und die unterschiedlichen Mittel, Formen und Grade im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Zerstörung in Deutschland, Österreich sowie in Belgien (nachgezeichnet im Beitrag von Susann Heenen-Wolff), in Italien (im Beitrag von Jacqueline Amati Mehler) und in Brasilien (im Beitrag von Hans Füchtner) kommen im vorliegenden Band zum Vorschein. Einschränkungen und Kompromisse sind ein wichtiger Teil dieser Dynamik. Hinweise auf notwendig gewordene terminologische Manöver wie zum Beispiel die Vermeidung beziehungsweise Eliminierung des Begriffs „Ödipuskomplex“ sind ein erster Schritt, solche Überlegungen sind aber unbedingt auszuweiten, um zu zeigen, wie Freud „keimfrei und nützlich gemacht“ wurde, wie Cocks im vorliegenden Band diesen Prozess charakterisiert. Zu überlegen ist auch, welche Seiten und Merkmale der Psychoanalyse sie trotz ihrer Ausrichtung am Ideal der Freiheitlichkeit für totalitäre und autoritäre Regimes akzeptabel und attraktiv und für ideologische Reformulierungen und Verzerrungen anfällig machen.

Diese Forderung gilt in besonderem Ausmaß für die Geschichte der Psychoanalyse in Osteuropa, die im vorliegenden Band leider nur mit einem Beitrag vertreten ist. Igor M. Kadyrov zeichnet die Geschichte der Psychoanalyse in Russland nach, deren Anfänge seit Alexander Etkind und Martin Miller relativ gut erforscht sind. Nach dem von Christfried Tögel und Jörg Frommer herausgegebenen Sammelband zur Geschichte der Psychoanalyse in Osteuropa und nach Kadyrovs Beitrag im vorliegenden Band sind weitere Untersuchungen über die Bedingungen und Formen notwendig, unter denen die Psychoanalyse in Osteuropa seit ihrem Verbot in Russland in den 1920er-Jahren überleben konnte. Dieses Forschungsdesiderat wird von Ash in seiner Einleitung zwar angesprochen und ein entsprechender Tagungsband zu diesem Thema in Aussicht gestellt, dennoch wäre auch bereits der vorliegende Band der richtige Ort für eine vergleichende Studie dieser Art gewesen. Zu berücksichtigen sind dabei auch die unterschiedlichen Inhalte und Formen sowie Ausprägungen des Totalitarismus, was Nationalsozialismus und Kommunismus anbetrifft. Dies ist auch angesichts der Affinität einiger der brillantesten Psychoanalytiker wie Wilhelm Reich, Otto Fenichel, Edith Jacobson et cetera zu den sozialistischen und kommunistischen Ideen von herausragender Bedeutung.

Erforderlich sind hier auch Spezialuntersuchungen, unter anderem textwissenschaftliche Untersuchungen, welche die logischen Operationen (zum Beispiel die Argumente der Ablehnung oder der Rechtfertigung), die Textverfahren und insgesamt die Rhetorik der Diskreditierung und Ausschaltung der Psychoanalyse herausarbeiten, aber auch die Strategien ihrer Rehabilitierung nach 1989 unter die Lupe nehmen.

Der Band geht auf die wissenschaftliche Tagung „Kontinuitäten und Brüche“ zurück, die 2008 in Wien stattfand und wirft „Blicke zurück und nach vorne“, wie der gleichnamige Beitrag von Thomas Aichhorn über die Korrespondenz zwischen August Aichhorn und Anna Freud nach 1945 lautet. In seinem letzten Kapitel beleuchtet das Buch die Nachkriegsgeschichte der Psychoanalyse. Samy Teicher, Elisabeth Brainin, Werner Bohleber und Daphne Stock setzen sich mit problematischen Aspekten der Entnazifizierung, mit den Konflikten zwischen der DPG und der DPV, mit „Verleugnung und Lüge“ und mit der „Doppelbödigkeit“ (Teicher, Brainin) auseinander, die auch die Nachkriegsgeschichte und somit auch die Geschichte der Psychoanalyse bestimmten.

Werner Bohleber analysiert das Projekt einer synoptischen Psychotherapie und präsentiert in seinem Beitrag eine von Spannungen und Zäsuren dominierte Geschichte der Psychoanalyse auch nach 1945, welche sich von den Schatten der Vergangenheit und von alten Verstrickungen nur schwer zu lösen vermag.Der letzte Aufsatz in diesem Buch – „Psychoanalyse und demokratisches Bewusstsein” von Daphne Stock – erinnert daran, dass die Psychoanalyse vom Anfang an als eine kritische Wissenschaft konzipiert wurde. Eine Probe für diese kritische Offenheit gibt auch Daphne Stock ab, wenn sie urteilt: „Es erübrigt sich fast, zu erwähnen, dass Nationalsozialisten und Stalinisten die Psychoanalyse zerstört und jüdische Analytiker vertrieben und vernichtet haben.”

Dennoch: Trotz der Offenheit, die viele der Aufsätze auszeichnet, schottet sich der Band als Ganzes hermetisch gegen die frühere Forschung ab und fristet ein Inseldasein – um auf die von Michael Schröter verwendete Metaphorik zurückzugreifen. Fast völlig ignoriert wird die Debatte der Jahre 1982-1985, als die Wiederentdeckung von Müller-Braunschweigs skandalösem Aufsatz „Psychoanalyse und Weltanschauung“ durch Helmut Dahmer einen Sturm auslöste, sowie die Debatten von 2001 und 2003 in The Psychoanalytic Review und in International Forum of Psychoanalysis zum Thema „Psychoanalyse im Dritten Reich“, bei denen Zvi Lothane, Bernd Nitzschke u.a. insbesondere die Zeitspanne 1933-1936 in den Vordergrund rückten und auch Freuds Beteiligung am Prozeß der Anpassung der Psychoanalyse an das NS-Regime herausarbeiteten. Der Titel von Zvi Lothanes glänzendem Aufsatz von 2001 „The deal with the devil to ,save’ Psychoanalysis“ lässt nichts an Klarheit und Deutlichkeit zu wünschen übrig. Der Aufsatz selbst ist repräsentativ auch für die in den damaligen Debatten charakteristische Einstellung zu diesem Thema, während der von Mitchell G. Ash herausgegebene Sammelband in seiner selbstauferlegten Isolierung und allgemeiner Tendenz zur Mäßigung es nicht schafft, die Brisanz zu entfalten, die sein Titel verspricht.

Titelbild

Mitchell G. Ash (Hg.): Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen.
Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 2010.
343 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783860996386

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