Die Entdeckung des Gefühls

Reimar F. Lachers Sammelband stellt den Porträtsammler Wilhelm Ludwig Gleim vor

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 – 1803) zählt heute zu den Unbekannten der deutschen Literatur. Dafür, dass er nicht endgültig vergessen wird, sorgt das Halberstädter Gleimhaus, das in regelmäßigen Abständen Ausstellungen organisiert und Publikationen vorlegt. Jetzt steht die von Gleim angelegte Porträtsammlung im Mittelpunkt einer Ausstellung und eines schmalen, schön gedruckten und gebundenen Katalogs.

In den Literaturgeschichten firmiert Gleim als Anakreontiker, also als Vertreter einer Dichtung, die um Freundschaft und Liebe kreist. Anakreontiker war er aber auch sonst in seinem Leben, denn er sammelte die Porträts seiner Freunde (meist als Brustbild) und brachte es auf ungefähr 150 Stück, von denen sich 130 erhalten haben. Der Katalog listet insgesamt 137 Ausstellungsstücke auf, zu denen auch Schattenrisse (bekanntlich die große Mode der Zeit) und zwei Porzellanbüsten gehören.

Zuvor wird in fünf Aufsätzen die Thematik umkreist. Porträts, insbesondere von hochgestellten Personen, kennt die Kunstgeschichte natürlich schon lange vor dem 18. Jahrhundert. Seit dem alten Rom dominiert zunächst das Erinnerungsbild, zu dem sich später das Herrscherbild gesellt. Zwei berühmte Beispiele, das Bildnis Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud und das Porträt eines den Hut ziehenden Friedrichs II., zeigen die Herrscher als Ganzkörperfiguren, und so dominiert auf diesen Bildern ihre Körperhaltung. Wer an das Bild des Sonnenkönigs denkt, wird sogleich seine Standbein-Spielbein-Haltung, den Stock, auf den sich der Monarch stützt, und seine mächtige Perücke vor Augen haben. Aber der Gesichtsausdruck? Bei Friedrich ist das schon etwas anders (auf dem angesprochenen Bild von Johann Heinrich Christoph Francke blickt er über die linke Schulter den Betrachter an), und ein wenig später, ausgangs des Jahrhunderts, finden sich sogar intime Familienbilder der preußischen Königsfamilie, auf denen die Prinzessinen ihre Kinder im Arm halten.

Gleim dagegen sammelte Brustbilder, auf denen naturgemäß das Gesicht das wichtigste Element darstellt. Neu in der Epoche der Empfindsamkeit ist die intime Stimmung vieler Gemälde und die Darstellung von Gefühlen der Dargestellten untereinander. Man muss sich vor Augen führen, dass ein Caravaggio zu den ersten zählte, die überhaupt einen Affekt abbildeten (in seinem Bild der Medusa oder in dem Erschrecken eines Jünglings über den Biss einer Eidechse), und dass es die Niederländer waren, die eine eigene Bildgattung erfanden, die Tronie, um Emotionen und Stimmungen eines Gesichts einzufangen. In einer Tronie wurden unbekannte Menschen abgebildet, und es ging einerseits um interessante Physiognomien, andererseits um Emotionen – und zwar allein um ihrer selbst willen, nicht innerhalb eines erzählerischen Zusammenhanges. Es dauerte sehr lange, bis die Kunst dem Gesicht und seinem individuellen Ausdruck gewachsen war.

In einem seiner insgesamt drei Beiträge macht der Herausgeber auf die geringe Wertschätzung des Porträts durch die Kunstkritik des 18. Jahrhunderts aufmerksam, deren Grund er allein in der Bedeutung der Ähnlichkeit für das Bildnis sieht. Aber das ist vielleicht zu kurz gegriffen, wie der den Band eröffnende Beitrag des Kunsthistorikers Helmut Börsch-Supan andeutet. Die Bedeutung des Porträts berührt mehrere und nicht allein künstlerische Aspekte, zu denen zunächst und vor allem der sozial- und mentalitätsgeschichtliche zählt. Dass im 18. Jahrhundert das Gesicht ein Thema der Kunst werden konnte, hängt wesentlich mit der veränderten Mentalität zusammen. Es war, kurz gesagt, die Empfindsamkeit, die dem Porträt eine größere Bedeutung zusprach.

Es wäre ungerecht, von den fünf, knappe siebzig Seiten umfassenden Aufsätzen aus der Feder des Herausgebers, Börsch-Supans und Dörte Schumachers mehr als nur einen Aufriss der Thematik zu verlangen. Eigentlich alle mit dem Porträt verbundenen Aspekte werden angesprochen, also zum Beispiel auch die Physiognomik Lavaters oder die Silhouetten-Sucht des Zeitalters, aber von einer erschöpfenden Behandlung der Problematik kann natürlich nicht die Rede sein. Anregungen aller Art sind aber trotzdem zu erhalten. Es ist ein liebevoll gemachtes und sorgfältig gearbeitetes Büchlein.

Titelbild

Reimar F. Lacher: Von Mensch zu Mensch. Porträtkunst und Porträtkultur der Aufklärung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
208 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307698

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