Kein Mensch mehr – aber anständig geblieben

Über Luis Raffeiners „Erinnerungen eines Wehrmachtssoldaten an die Ostfront“

Von Wigbert BenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wigbert Benz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch enthält den Zeugenbericht eines im Südtiroler Schnalstal in eher ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Menschen, der sich als junger Mann 1939 für Deutschland und damit die Überstellung in die Wehrmacht entschied. 1941 bis 1945 machte er das „Unternehmen Barbarossa“, also den Vernichtungskrieg Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion, mit. Er hatte als einfacher Soldat zu funktionieren, als „Panzerwart“ einer Sturmgeschützabteilung. Die breite Schilderung der Kriegserlebnisse Raffeiners bilden den Kern der Darstellung. Daneben werden die karge Kindheit und Nachkriegszeit knapp beschrieben. In einem instruktiven Nachwort erläutert der Historiker Hannes Heer die Pläne, verbrecherischen Befehle und Strukturen des rassenideologischen Eroberungskrieges- und wirtschaftlichen Raubkrieges, der den „slawischen Untermenschen“ humanen Wert absprach, von vornherein den Hungertod von vielen Millionen Menschen des überfallenen und besetzten Landes einkalkulierte und tatsächlich auch den Tod von 27 Millionen Männern, Frauen und Kindern bewirkte. Unter den Toten waren neben elf bis zwölf Millionen Rotarmisten drei Millionen Kriegsgefangene, zweieinhalb bis drei Millionen Juden und zehn Millionen anderer Zivilisten.

Es sei vorweg gesagt: Heers Beitrag ist das Beste in diesem Buch. Aber dort, wo der Historiker Raffeiners Erlebnisberichte bewertet, verliert sich selbst Heer in Spekulationen. Ein Beispiel: Raffeiners Schilderung, er habe im Minsker Ghetto nicht nur mit Juden beladene LKWs gesehen, sondern selbst gehört, dass jeden Tag 3.000 Juden zur Exekution transportiert würden, was die wachhabenden SS-Männer bereitwillig und stolz erklärt hätten, wird von Heer als herausragendes Dokument angesehen, weil Raffeiner neben einem „Kameraden“ noch von einem Unteroffizier namens „Seifenheld“ begleitet wurde, dessen genaue Identität aber nirgendwo verifiziert wird. Heer versteigt sich nun zu der Behauptung: „Durch diese Zeugen wird sein (Raffeiners) Bericht zu einem beglaubigten Dokument, zu einem Zeugnis an Eides statt“. Nun brauchen wir zum Nachweis der Judendeportationen aus dem Ghetto Minsk und anderer Vernichtungspraktiken in diesem Krieg Raffeiners Bericht nicht, denn die Quellenlage beweist diese Verbrechen auch ohne seinen Zeitzeugenbericht eindeutig. Das Gleiche gilt für andere Kriegsverbrechen, die Raffeiner in seiner Erzählung zu Protokoll gibt, insbesondere auch den gewaltsamen Tod von drei Millionen gefangengenommener Rotarmisten, der Mehrheit aller russischen Kriegsgefangenen unter deutscher Besatzung. Auch die gewalttätige und mörderische Misshandlung dieser Menschen auf den Gefangenenmärschen ist gut dokumentiert.

Zwar stellen Raffeiners Erinnerungen in der Tat keine üblichen Landsergeschichten dar, doch sein Bemühen, die eigene Anständigkeit herauszukehren, wirkt auf den Leser wenig überzeugend. Es erscheint zweifelhaft, dass der Erzähler vor dem Russlandfeldzug während eines Urlaubs im Herbst 1940 bei seiner Schwester in Karlsruhe zu später Verdunkelungsstunde in einer Gaststätte am dortigen „Adolf-Hitler-Platz“ (heute Marktplatz) nicht nur eine „antinationalsozialistische Stimmung“ wahrgenommen haben will, sondern erlebt habe: „Mich als Südtiroler ließ man hochleben.“ Nicht genug damit, habe man ihm zu guter Letzt folgendes bedeutet: „Sogar hohe Polizeibeamte seien unter den Gästen, die Anwesenden seien alle Gegner Hitlers“ gewesen. Ebenso fragwürdig erscheint, dass Raffeiner fünf Jahre später in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, als ihn ein ehemaliger militärisch Ranghöherer und nun „deutscher Aufseher“, anbrüllte, er halte mit seiner Arbeitsweise den „ganzen Betrieb auf“, entgegnet haben will: „Sie sind ein Schwein! Zuerst habt ihr uns an der Front bis zum letzten Tag ins Feuer gejagt, und jetzt möchtet ihr euch auf unseren Knochen das Leben retten“. Die Liste solch exponierter Erlebnisbeschreibungen ließe sich fortsetzen, etwa wenn Raffeiner schildert, dass er dank seines handwerklichen Geschicks für eine russische Oberärztin nahezu unentbehrlich wurde oder Menschenversuchen in einem sowjetischen Gefangenenlazarett entkam. Überhaupt wird sein „handwerkliche Geschick“ an zahlreichen Stellen des Buches breitgetreten, so sei er zum Beispiel von seinen Kameraden aufgrund dieser Fähigkeiten als „Panzerdoktor“ bestaunt worden.

Auch der Titel von Raffeiners Erinnerungsbuch, „Wir waren keine Menschen mehr“, bleibt befremdlich. Dass er seine Kriegserlebnisse phasenweise mit einer Flasche Schnaps am Tage betäubte, reicht für diese Wertung ebenso wenig aus, wie die Entfremdung zu seiner Jugendliebe Marianne nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1947. Raffeiner fühlte sich gegenüber dieser Frau, so schreibt er, „nach all diesen Strapazen nicht mehr als Mensch, schon gar nicht als zivilisierter“, und diese Aussage wurde zum Titel des Buches. Nun ja, er lernte dann ein anderes „goldenes Mädel“ namens Anna kennen und lieben. Schließlich heiratete er Anna 1949. Und auch beruflich ging es langsam wieder aufwärts. Aufgrund seines – der Leser ahnt es schon – großen handwerklichen Geschicks und „Erfindergeistes“ brachte er es zum Spenglermeister einer Bierbrauerei, wo er „sogenannte Tropftassen“ erfand, so dass das Bier nicht mehr einfach auf die Theke tropfte. „Diese Erfindungen kamen der Brauerei natürlich sehr zugute“, führt Raffeiner aus und sie hätten ihm letztendlich sogar die Gründung eines eigenen Unternehmens ermöglicht: die Firma Raffeiner Alois und Co. OHG.

Vielleicht konnte Raffeiner die Verbindung einer authentischen Erzählung von Kriegstraumata mit der Darstellung einer eigentümlichen Mischung von eigener Anständigkeit und Kreativität auch deswegen nicht gelingen, weil die Motivation, seine Erlebnisse in Buchform zu bringen, eine eher narzisstische war: Raffeiner habe, so schreibt Thomas Hanifle vom Bozener Raetia Verlag in seinem Vorwort verständnisvoll, das Buch des in Südtirol gebliebenen Pazifisten Franz Thaler sehr zu schaffen gemacht. Dieser hatte sich durch eine Flucht in die Berge dem Kriegseinsatz für Hitler-Deutschland entzogen, wurde schließlich verhaftet und ins KZ Dachau deportiert. Seine Lebenserinnerungen in Buchform machten ihn zur Symbolfigur des Widerstandes in Südtirol. Raffeiner, so Hanifle, „las Thalers Lebensgeschichte als sein Gegenstück: hier Dableiber, dort Optant, hier Deserteur, dort Kriegsteilnehmer, hier Antifaschist, dort Nazi, hier Held – und was war er. Im Krieg und dann vor allem in der Gefangenschaft hatte er auch viel mitgemacht. Und mit Hitler hatte er doch nie etwas am Hut gehabt. Sein Leidensweg sollte in der Geschichte auch seinen Platz haben, so das Ansinnen von Raffeiner“. Nun hat dieser Luis Raffeiner also seinen Leidens- und Erfolgsweg in Buchform gebracht. Bringt uns das weiter?

Titelbild

Luis Raffeiner: Wir waren keine Menschen mehr. Erinnerungen eines Wehrmachtssoldaten an die Ostfront.
Mit einem Nachwort von Hannes Heer.
Edition Raetia, Bozen 2010.
232 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9788872833728

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch