Wohnen mit Büchern

Christian Adam stellt in seiner Studie „Lesen unter Hitler“ Bestseller des ‚Dritten Reiches‘ vor

Von Joachim LinderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Linder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heimito von Doderers Roman „Ein Mord den jeder begeht“ wurde 1938 in München veröffentlicht und handelt vom Nichtwissen und von der Apperzeptionsunfähigkeit, aber auch von Gewalt, Tod und Töten, von Zufällen, Verführbarkeit und Schuld. Die Handlung spielt in den 1920er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, vom Nationalsozialismus ist nirgends die Rede. Und doch wird der Text erst richtig gespenstisch, wenn man weiß, dass er 1937/38 in Dachau fertiggestellt wurde, also nicht nur unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Literaturpolitik, sondern vor allem in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem zentralen Ort der verbrecherischen Gewalt des Regimes. Kein literarischer Text, der in Deutschland zwischen 1933 und 1945 geschrieben, vertrieben und gelesen wurde, kann sich diesen besonderen Hintergründen entziehen, auch wenn sie nicht so unabweisbar sind wie bei Doderer. Heutige Leser sollten sich den Mehrwert nicht entgehen lassen, der mit dem Mehrwissen entsteht.

Wer sich für die Literatur in der Zeit des ‚Dritten Reiches‘ und für die Bedingungen ihrer Produktion, Distribution und Rezeption interessiert, der konnte in diesem Sommer mindestens zweimal zugreifen: Zum einen legte Jan-Pieter Barbian eine Neufassung seines seit dem Ende der 1990er-Jahren vergriffenen Standardwerks zur nationalsozialistischen Literaturpolitik vor. Schon das Inhaltsverzeichnis macht auf eine Verschiebung oder doch Anreicherung der Perspektiven aufmerksam: Neben die Rechts-, die Politik- und Institutionengeschichte der Literatur tritt nun verstärkt die Perspektive der Beherrschten, also die Darstellung des Durchgriffs der Politik auf die Autoren, Verlage, Buchhändler und Leser. Dabei zeigt sich, dass der Erfolg der Politik durchwachsen war. Auch in der Neufassung bleiben Barbians Sondierungen unverzichtbar und der Mühe wert, sich auf den oft trockenen Stoff der Archivauswertungen einzulassen.

Christian Adam will mit seinem Sachbuch das Leserinteresse schneller binden als Barbian. Sein erzählerischer Duktus streift viele Themen und informiert in solider Kenntnis des jeweiligen Forschungsstandes, doch wer mit der Materie schon vertraut ist, der wird nur selten überrascht. Dazu sind in den letzten zwanzig Jahren zu viele Studien auch zu den populären Lesestoffen des ‚Dritten Reiches‘ erschienen, die dem mentalitätsgeschichtlichen Ansatz, den Adam für sich in Anspruch nimmt, einen soliden Boden bereiten. Adams eigener Beitrag hierzu ist eine viel beachtete Monografie über Wilfrid Bade (1906-1945), der als junger und gebildeter Nationalsozialist eine Karriere als Journalist und Autor, aber auch als Funktionär im Propagandaministerium absolvierte.

In seinem neuen Buch stellt Adam, der Titel sagt es, die Bestsellerproduktion des ‚Dritten Reiches‘ ins Zentrum. Dabei beschränkt er sich nicht auf die ‚schöne Literatur‘ im engeren Sinne, er berücksichtigt vielmehr auch die Verkaufszahlen für ‚Sachbücher‘ und für ‚Propagandaschriften‘, so dass auf seinem Schirm (nach Hitlers „Mein Kampf“) etwa auch Johanna Haarers Ratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ auftaucht, der (nach meiner Zählung) zwischen 1934 und 1943 auf sieben und zwischen 1951 und 1987 auf zehn Auflagen kam (und nicht umsonst Gegenstand der Monografie von Sigrid Chamberlain geworden ist). Adam möchte mit den Erfolgsgeschichten der Bücher und Autoren Leserbedürfnisse und Leserversorgung sichtbar machen und exemplarisch die Zielsetzungen, Erfolge und Misserfolge der Literaturpolitik ins Licht stellen. Die Informationen über Verkaufszahlen werden den unterschiedlichsten Quellen entnommen und mit aller Vorsicht aggregiert, so dass auf jeden Fall ein Eindruck von der im ‚Dritten Reich‘ noch sehr lückenhaften Markt- und Leserforschung entsteht, aber auch davon, wie Verlage und Autoren die Chancen nutzten, die sich durch Unterdrückung, Vertreibung und Arisierung eröffneten. Am Ende attestiert er „eine magere Gesamtbilanz nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft über den Buchmarkt“, die daran gescheitert sei, dass es „nicht genügend regimetreue Autoren“ gab, so dass sich die „Unterhaltungsprofis“ durchsetzen konnten. So hätte sich auch am Buchmarkt die teils gewollte, teils ungewollte Modernisierung durchgesetzt, die als apolitisch wahrgenommen wurde (und wird) und sich desto besser in die Nachkriegszeit retten konnte.

Adam ordnet die von ihm eruierten ‚Bestseller‘ in einer Typologie von zehn Positionen, innerhalb derer dann auch literarhistorische Traditionen und zeitgenössische Konkurrenzen behandelt werden können:

(1) Sachbuch (mit Schenzingers Tatsachenroman „Anilin. Roman eines Farbstoffes“, 1936, als Paradigma);

(2) Propaganda (von „Mein Kampf“ zu Reemtsmas Cigaretten-Bilderalben);

(3) Kriegsbücher (mit den linientreuen Nachfolgern von Erich Maria Remarque und Ludwig Renn);

(4) Humor und Komik (darunter die Erfolge von Heinrich Spoerl und die Gleichschaltung von Ludwig Thoma);

(5) Unterhaltungsbuch (mit dem Ausblick auf Genreentwicklungen im Kriminal-, Liebes- und Arztroman);

(6) Volksliteratur (unter anderen Karl May, Ludwig Ganghofer und die zugelassene Heftchenliteratur);

(7) importierte Bestseller (etwa von Margaret Mitchell, A. J. Cronin und John Knittel);

(8) gehobene Erzählliteratur (unter anderen Werner Bergengruen, Hans Carossa, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Ina Seidel und auch mit Blicken auf die sogenannte innere Emigration);

(9) Blut-und-Boden-Literatur;

(10) schließlich die Literaturversorgung der Wehrmachtsangehörigen an den Fronten, für die bekanntlich noch in der Zeit größter Papierknappheit Unterhaltungsliteratur bereitgestellt wurde.

Das Material wird auf unterschiedliche Weisen präsentiert, Überblicksabschnitte werden durch Autorenbiografien und analytische Zugriffe auf Einzeltexte ergänzt und erweitert. Die eher lockere erzählerische Kohärenz wird einerseits durch die Lektüre-Notate in Victor Klemperers Tagebüchern bereitgestellt, andererseits durch die ständig präsent gehaltene Konkurrenz zwischen den beiden wichtigsten Lenkungsinstitutionen, nämlich den Schrifttumsstellen im Amt Rosenberg einerseits, und dem Reichspropagandaministerium auf der anderen Seite. Dabei vertritt in Adams plausibler Zuspitzung das Amt Rosenberg reaktionär-bildungsbürgerliche Positionen, für die ‚Unterhaltung‘ allemal schon die Nachbarschaft zu Schmutz und Schund und Schwächung bezeichnet, während das Goebbels-Ministerium die ‚Modernität‘ vertritt, in der die zwar linientreue, aber nicht propagandistische Unterhaltungsliteratur auf ihre Weise zur Mobilisierung und zur Loyalität beiträgt. Zahlreiche Zitate aus den jeweiligen ‚Hauszeitschriften‘ der Kontrahenten machen diese unvereinbaren Positionen nachvollziehbar, und zwar auch da, wo sie ungewollt Freiräume eröffneten.

Mit dem Sachbuchkonzept gelingt es, eine große Zahl heterogener Informationen eingängig zu vermitteln. Dabei mag dem vorinformierten Leser manches als verzichtbar erscheinen, so etwa die umfänglichen Reproduktionen der Selbstdarstellungen prominenter Leser (Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Hermann Göring und Joseph Goebbels …). Verzichtbar wären auch die gelegentlichen Rückgriffe auf verharmlosende und überholte Bezeichnungen (Albert Speer als Hitlers ‚Lieblingsarchitekt‘ und ‚Lieblingsschüler‘) oder aktualisierende Anbiederungen an den neueren Medienjargon (Carin und Göring anlässlich der pompösen der Leiche von Frau Göring als ‚Könige der Herzen‘).

Seine größte Schwäche offenbart das Darstellungskonzept aber da, wo der Autor auf einzelne Texte eingeht und zuweilen der schnell fertigen Lektüre verhaftet bleibt. So wird beispielsweise John Knittels Roman „Via Mala“, der 1934 sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch erschienen ist, auf ein Trivialmaß zurecht gestutzt, das ihm nicht gerecht wird und kaum Erklärungswert hat für seinen Erfolg in ganz Europa und in den USA. Der Roman erzählt von der Ermordung eines Familientyrannen und stellt in seinem letzten Teil einen Untersuchungsrichter vor die Frage, ob er gegen seine Frau und deren Familie ein Verfahren wegen Vatermords eröffnen soll. Zum Schutz der Familie entscheidet er sich für die schwerste Amtspflichtverletzung, die ein Richter begehen kann und stellt so sein moralisches Gefühl über das Recht. Er kann sich dabei auf das Verständnis der Leserinnen und Leser verlassen, deren Sympathien entsprechend vorbereitet sind. Adam kommentiert dies so: „Was er auch immer getan hätte, sein Glück war und blieb zerstört. Eine einmal begangene Untat […] lässt sich nicht einfach ungeschehen machen. Sie muss früher oder später gesühnt werden. Das Böse lässt sich durch weitere Verfehlungen nicht zum Guten wenden“.

Der Konflikt wird auf das einfache Gut-Böse-Schema reduziert, das allenfalls als Scheinerklärung dafür dienen kann, dass der Roman sowohl im Hause Goebbels als auch bei Victor Klemperer nachhaltig beeindruckte. Wollte man die unterschiedlichen Rezeptionszeugnisse erklären, müsste man die Ambivalenz berücksichtigen, in die Knittel den Tyrannenmord von Anfang an stellt. Sie bewirkt nämlich, dass Nazi-Gegner den Tyrannenmord als Notwehr der drangsalierten Familie bejahen können, während die herrschenden Täter und ihre Anhänger und Mitläufer darin die zukunftsweisende Ausmerzung eines exemplarisch Asozialen und Gemeinschaftsschädlings wahrzunehmen vermögen.

Trotz dieser Einwände ist Christian Adam eine empfehlenswerte Einführung in die Populärliteratur des ‚Dritten Reiches‘ gelungen, dessen gediegene Ausstattung eine eigene Erwähnung verdient: Die Illustrationen sind durchweg aussagekräftig und vor allem ermöglicht der Anhang mit Literaturverzeichnissen, Bestsellerliste und Register die Vertiefung der einmal geweckten Interessen. Insofern sind dem Buch nicht nur private Lektüren, sondern auch die Verwendung in einschlägigen schulischen und universitären Veranstaltungen zu wünschen.

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Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich.
Galiani Verlag, Köln 2010.
384 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783869710273

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