Anwalt von sechs Millionen Klienten

Tom Segev hat das ungewöhnliche Leben des Simon Wiesenthal aufgeschrieben

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er sei nie ein Nazijäger gewesen, hatte er mehr als einmal beteuert. Sein Interesse, so Simon Wiesenthal, galt allein der Verfolgung von Kriegsverbrechern. Pauschal hat er daher die Deutschen auch nie verurteilt, ja sich sogar später mit dem frei gelassen Albert Speer mehrfach getroffen. Fraglos eine bizarre Begegnung: Hier der österreichische Jude und KZ-Überlebende aus der galizischen Kleinstadt Buczacz, dort der ehemals mächtigste Wirtschaftslenker des „Dritten Reiches“ und engste Freund Adolf Hitlers.

Gleichwohl scheint es nicht zuviel gesagt zu sein, dass die Geschichte der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen ohne den als „Eichmannjäger“ weltberühmt gewordenen Wiesenthal ganz anders verlaufen wäre. Für eine nachgeborene Generation, die durch die Frankfurter Ausschwitz-Prozesse, durch die US-Holocost-Serie sowie dank zahlreicher Gedenktage die industrielle Vernichtung von sechs Millionen Juden in deutschen Konzentrationslagern inzwischen als fatalen Teil der eigenen Geschichte begreift, erscheint es kaum vorstellbar, dass die Erinnerung daran im politischen Spannungsfeld des Kalten Krieges durchaus hätte verloren gehen können.

Tatsächlich endete die Geschichte der Shoa nicht im Frühjahr 1945 mit der Befreiung der Überlebenden, sie hatte vielmehr ein jahrzehntelanges, oft mühsames Nachspiel, in dem Wiesenthal, der ehemalige Häftling des KZ Mauthausen, wie viele andere Leidensgenossen darum kämpfen mussten, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht aus politischer Opportunität in Vergessen gerieten. Gerade für die Überlebenden des Nazi-Terrors war es eine beklemmende Erfahrung, dass ihre ehemaligen Peiniger oft unbehelligt in ihre bürgerlichen Existenzen zurückkehren konnten und es häufig nicht einmal nötig hatten, sich ein Inkognito zuzulegen. So lebte Franz Murer, der so genannte Schlächter von Wilna, nach dem Krieg jahrelang ungestört und unter seinem wirklichen Namen auf seinem heimischen Hof, ehe er auf Betreiben Wiesenthals schließlich an die Russen ausgeliefert wurde. Adolf Eichmann wiederum durfte sich nach seiner Enttarnung durch Wiesenthal noch sieben Jahre in Argentinien seiner Freiheit erfreuen, ehe der Mossad endlich tätig wurde und den berüchtigten Organisator der Judenvernichtung nach Israel entführte.

Zu den vielen Fällen, die Wiesenthal oft jahrzehntelang beschäftigten, zählte auch der SS-Mann Julius Viel, der kurz vor Kriegsende sieben Gefangenen des KZ-Theresienstadt ermordet hatte und danach nicht nur 53 Jahre unter falschem Namen in der Bundesrepublik Deutschland leben konnte, sondern auch noch mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden war. Viels Enttarnung und Verurteilung war einer der letzten Fahndungserfolge des schon hoch betagten Wiesenthals, der im Jahre 2005 im Alter von 97 Jahren in seiner Wahlheimat Österreich verstorben ist.

Der renommierte israelische Historiker und Publizist Tom Segev hat nun den Versuch unternommen, eine seriöse Biografie des unbeirrten Kämpfers für Gerechtigkeit und Menschenwürde zu schreiben. Um es vorweg zu sagen: Diese keineswegs einfache Aufgabe hat der Verfasser mit Bravour bewältigt und dabei seinen Lesern durch eine schier unübersehbare Fülle von Halbwahrheiten, Auslassungen und Mythen den Weg zu einem Tatsachengerüst geschaffen. Fraglos hat Wiesenthal selbst zu diesen biografischen Schwierigkeiten erheblich beigetragen. In unzähligen Memoranden und Selbstdarstellungen hat er oft genug die unterschiedlichsten Lesarten seiner Tätigkeit verbreitet. Über Wiesenthals Autobiografie (Recht, nicht Rache) befindet Segev unmissverständlich: „Sein Buch ist voll mit solchen Geschichten. Die meisten davon lassen sich nicht verifizieren.“ Ein von ihm zitiertes Memorandum des israelischen Außenministeriums urteilt nicht weniger kritisch: Wiesenthal sei als Mensch bekannt, der sich seinem Ziel mit Leib und Seele verschrieben hat, zugleich aber auch als ehrgeiziger und renommiersüchtiger Schreihals, der nicht selten Dinge behaupte, die er hinterher nicht beweisen könne.

Zu den spektakulären Geschichten, die ganz offenkundig Wiesenthals oft überschießender Fantasie entsprungen waren, gehörte auch die anrührende Episode von dem sterbenden Wehrmachtssoldaten im Lemberger Lazarett, der angeblich Wiesenthal in dessen Eigenschaft als Jude um Verzeihung gebeten haben soll. Der Gefragte habe dies jedoch verweigert, da er unmöglich für alle Juden sprechen könne, und den Fall nach dem Krieg einem Kreis prominenter Publizisten und Schriftsteller zur Debatte gestellt. Interessanterweise war es allein der deutsche Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, der Wiesenthals bizarre Geschichte ganz unbefangen als Fiktion einstufte und sie in diesem Sinne einer wenig schmeichelhaften literarischen Kritik unterwarf.

Segev führt seine Leser in einer gekonnten Mischung aus chronologischer und systematischer Darstellung durch die mit Rechercheerfolgen, Fehlschlägen und schließlich mit handfesten politischen Streitigkeiten erfüllten Nachkriegsjahrzehnte Wiesenthals. Dabei wahrt der Autor stets die gebotene Distanz zu seinem Protagonisten, der trotz aller fraglosen Verdienste eine schwierige Persönlichkeit gewesen sein muss. Segev nennt ihn sogar eine „Figur des kalten Krieges“. Nachweislich stand Wiesenthal im Dienste des Mossad und wurde ein Jahrzehnt vom polnischen Geheimdienst überwacht. Er habe Feinde und Verehrer gehabt, aber keine Freunde, heißt es mehrfach plakativ im Text. Ganz korrekt ist das natürlich nicht, denn Segev selbst erwähnt unter anderen den New Yorker Millionär Hermann Katz als Wiesenthals langjährigen Vertrauten. Über Wiesenthals Entscheidung, nach dem Krieg mit seiner Familie in Österreich zu bleiben, fällt der Verfasser ein vernichtendes Urteil: Sein Entschluss, „seiner Frau und seiner Tochter ein Leben in Linz aufzuzwingen, barg nicht wenig Grausamkeit in sich. Nach dem Holocaust hatte er sogar durchaus etwas Perverses.“

Trotz aller antisemitischen Anfeindungen, denen Wiesenthal und seine Familie gerade in der Nachkriegszeit in der Alpenrepublik ausgesetzt war, blieb er stets beharrlich dem Gedanken des Rechts verhaftet. Die Aufhebung der umstrittenen Verjährungsfrist für NS-Verbrechen in der Bundesrepublik 1979 war nicht zuletzt sein Verdienst. Ihre gerichtliche und publizistische Aufarbeitung betrachtete er nicht nur als ein genuin jüdisches Anliegen, sondern als dauernde Zielsetzung aller zivilisierten Staaten, denen daran gelegen war, auch zukünftige Genozide zu verhindern. Die erstaunliche Spannbreite seines ungewöhnlichen Lebens und Wirkens bringt Segev vielleicht am besten mit folgendem Resümee zum Ausdruck: Zu Wiesenthals Generation gehörten Menschen, die noch sagen konnten, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Kraftfahrzeug gesehen hatten, während er selbst im hohen Alter sich noch gezwungen sah, gegen neonazistische Computerspiele im Internet zu protestieren.

Titelbild

Tom Segev: Simon Wiesenthal. Die Biographie.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Siedler Verlag, München 2010.
574 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783886808588

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