Stimulanz des Lebens

Facettenreiche Beiträge zum Nietzsche-Diskurs

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nietzsche sah in der Kunst die einzige Möglichkeit, die Grausamkeit des Lebens zu ertragen oder gar zu überwinden. Er hielt sie nicht nur für ein unvergleichliches Instrument der Erkenntnis, weil sie uns den fragwürdigen Charakter unseres Begriffs von Wahrheit enthüllt, sondern auch für das größte Stimulans zum Leben. Durch Kunst allein könne der Mensch beweisen, dass er Mensch sei, meinte der Philosoph und räumte gleichzeitig den Künstlern mehr Recht ein als den Philosophen. Denn "sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge dieser Welt - sie liebten ihre Sinne." Freilich wusste Nietzsche auch, dass die Kunst "den Flor des unreinen Denkens" über den Anblick des Lebens legt. Ähnlich drückte sich Jahrzehnte später Picasso aus, der einer frühen Nietzsche-Lektüre die Überzeugung verdankte, dass die Kunst ihre eigene Realität hervorbringt. Wörtlich sagte Picasso einmal: "Wir wissen alle, dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können." Dieser Ausspruch wiederum führt uns zurück zu einem Gedicht, das Nietzsche Zarathustra in den Munde gelegt hat. Hier wird der Philosoph als "Der Wahrheit Freier" dem "Dichter-Narren", der lügen muss, gegenübergestellt.

Mit der Rolle und dem Stellenwert der Kunst in Nietzsches Denken setzten sich im Herbst 1994 die Teilnehmer einer Veranstaltungsreihe der "Bayerischen Akademie der Schönen Künste" in München auseinander. Die damals gehaltenen Vorträge erschienen im selben Jahr im Oreos Verlag und liegen nun, rechtzeitig zum 100. Todestag des Philosophen, als Taschenbuchausgabe vor. Insgesamt sind sie ein facettenreicher Beitrag zum Nietzsche-Diskurs, der auch unser Jahrhundert noch in Atem halten dürfte, und zu Nietzsches ästhetisch fundierter Philosophie.

In "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" hat sich Nietzsche der Antike nicht nur philologisch, sondern in erster Linie philosophisch, mehr noch, wahlverwandtschaftlich-musisch genähert. Das trug ihm den Makel des unseriösen Wissenschaftlers ein, den er Zeit seines Lebens nicht mehr losgeworden ist.

Aber Nietzsche war kein logischer Systematiker, eher ein musischer Denker, der Philosophie als Kunst betrieb und "fröhliche Wissenschaft" praktizierte, "indem er Kunst und Philosophie zu einer Erfahrungs- und Erlebnis-Einheit verband." Die ästhetische Rechtfertigung des Lebens, um die es ihm vor allem ging, sah der Philosoph bei den frühen Griechen am besten verwirklicht. Zudem erkannten die Griechen, laut Nietzsche, wie Heinz Friedrich in seinem Referat "Ecce homo? Nietzsches Übermensch oder Der neue Prometheus" darlegt, dass die Menschen weder das Ebenbild der Gottheit seien noch von den Göttern geliebt würden. Schließlich habe Zeus den Menschen als misslungenes Geschöpf verworfen. Erst der Titan Prometheus ermöglichte gegen den Willen des Göttervaters den Menschen, Menschen zu werden, indem er ihnen das Feuer brachte und sie in das Handwerk des Überlebens einübte. "Die Griechen sind wichtig, weil sie eine solche Menge von Einzelnen haben", hat Nietzsche immer wieder betont, wohl wissend, dass die freie Entfaltung einer "solchen Menge von Einzelnen" in der hochkultivierten griechischen Gesellschaft ihren Preis hatte, nämlich die Sklaverei. In der Geschichte des Abendlandes habe sich indessen, führt Friedrich weiter aus, das Gegenteil ereignet: Nicht der höhere Mensch überragte, stattdessen pochte die "Sklavenmoral" auf ihr Recht nach Erlösung. Das Christentum habe den Traum vom "großen Menschen" zerstört und ihn durch das demütig-stolze Ebenbild Gottes ersetzt, das in Christus seinen Erlöser findet.

Wir wissen heute, so Friedrich, und Nietzsche hat es zum Schluss sicher auch geahnt, dass der Konflikt zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft unaufhebbar ist und die Unnatur des Menschen "sich nicht mehr durch Kunst und nicht mehr durch Religion beschwören" lässt. So bleibt uns Nachfahren nur der Blick nach oben zu den Sternen, die wir nicht ergreifen, aber an denen wir uns orientieren können.

Der Sprachwissenschaftler und Romanist Hans Martin Gauger sieht Nietzsches Stil durch fünf Merkmale gekennzeichnet, durch "Lebendigkeit, Sinnlichkeit, Klarheit, Sachlichkeit und Sprachbewusstheit." Nietzsches Stil sei eigentümlich uneitel und unselbstgefällig, meint der Wissenschaftler, dabei habe es dem Philosophen an positiver Selbsteinschätzung nicht gefehlt.

Der Kunstwissenschaftler Wieland Schmied beschäftigt sich dagegen mit Nietzsches Einfluss auf die Bildende Kunst. Nietzsche sei kein Augenmensch gewesen, schreibt Schmied, seine Bilder seien ihrem Wesen nach Gleichnisse oder gedankliche Metaphern. Nicht der äußere Eindruck eines Bildwerks habe ihn stimuliert, wohl aber die innere Vision. Auch verdanke sich der springende Quell seiner Gedanken in erster Linie dem musikalischen Ingenium. Gleichwohl habe Nietzsche auf viele Maler eine große, wenn auch unterschiedliche Wirkung ausgeübt, wie etwa auf Horst Janssen, Joseph Beuys, Johannes Grützke, Max Klinger, Alfred Kubin, Max Beckmann, Edvard Munch, André Masson, Otto Dix, Giorgio de Chirico und wahrscheinlich auch auf Picasso. Für den Jugendstil, den Expressionismus, die Brücke-Maler, die Fauves, die Surrealisten, für Max Ernst, Ludwig Meidner, Salvador Dali, Giovanni Segantini war Nietzsche ebenfalls von großer Bedeutung.

Der Altphilologe und Schriftsteller Albert von Schirnding würdigt Nietzsche als Lyriker und stellt fest: Die Größe Nietzsches liegt nicht in seinem Gesang, sondern in seiner Rede. Indessen - selbst wenn Nietzsche nichts geschrieben hätte außer den zwölf oder fünfzehn vollkommenen Gedichten, die von seiner Hand stammen, hätten wir immer noch Ursache, hebt Schirnding hervor, seines 100. Todestages zu gedenken. Auf Schirndings Betrachtungen folgen Gedichte von Nietzsche, die wiederum umrahmt werden von einem Nietzsche-Gedicht Stefan Georges und Gottfried Benns Gedicht "Turin".

Aufsätze und Gedichte werden ergänzt durch eine Auswahl aus dem Briefwechsel Nietzsches mit dem Musiker Heinrich Köselitz, genannt Peter Gast. Schließlich war Gast einer der wenigen Zeitgenossen Nietzsches, die ihn wirklich verstanden haben. Denn Peter Gast fühlte sich Nietzsche als Künstler wahlverwandt und besaß zudem ein Sensiorium für die Neuartigkeit seiner Philosopgie als Kunst. Beide tauschten Briefe aus, von 1876 bis zu Nietzsches Zusammenbruch in Turin Anfang 1889.

Titelbild

Heinz Friedrich (Hg.) / Friedrich Nietzsche: Philosophie als Kunst. Eine Hommage. (Philosophie für Anfänger).
dtv Verlag, München 1999.
254 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3423307358

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