Die Problematik des Unvorstellbaren

Ahlrich Meyers neue Studie befasst sich mit dem „Wissen um Auschwitz“

Von Philipp WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie der Autor Ahlrich Meyer, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg, gleich zu Beginn seiner Studie zusammenfasst, hat „die Frage was ‚die Deutschen‘ vom Völkermord an den Juden gewusst haben oder wissen konnten, […] die Geschichtsforschung bis in die jüngste Zeit immer wieder beschäftigt, ohne dass die neueren Antworten allerdings überzeugender wären als die alten“. Der Titel des Werks scheint daher zunächst etwas irreführend – Meyer wird im weiteren Verlauf seiner Arbeit hierzu jedoch noch genauer Stellung nehmen – zunächst diagnostiziert er vielmehr eine Lücke im Forschungsstand: „Dagegen mangelt es erstaunlicherweise bis heute an einer historischen Untersuchung des Wissens der Täter und Opfer: Was wusste die Masse der deutschen Tatbeteiligten von Auschwitz, und was haben die verfolgten und deportierten Juden geahnt oder gewusst?“

Nachdem sich Ahlrich Meyer zuletzt in seinen Werken „Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung“ und „Täter im Verhör. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich 1940-1944“ mit der Besatzungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten in Westeuropa auseinandersetzte, geht es nun um die „Täter und Opfer der „Endlösung“ in Westeuropa“ – so der Untertitel der vorliegenden Studie.

Entgegen dem leicht missverständlichen Titel ist Meyer nicht an einem konkreten, faktischen Wissen gelegen, vielmehr befasst er sich mit den Ahnungen und subjektiven Einfärbungen solchen Wissens: „Es geht also nicht um ein ‚objektives‘ Wissen. Ich untersuche den begrenzten Kenntnisstand, den eine gewisse Zahl von Verantwortlichen nachträglich eingeräumt hat. Ich beschäftige mich nicht erneut mit der großen Menge jener Einlassungen, in denen unisono behauptet wurde, man habe von der Vernichtung der Juden erst nach dem Krieg gehört. Sondern ich wende mich den verstreuten Aussagen von Zeugen und Beschuldigten zu, die bei ihren Vernehmungen zugaben, sie hätten Zweifel am offiziellen Deportationszweck gehabt und eine zunehmende Gewissheit über den Massenmord schon zur Tatzeit erlangt. Es sind diese ‚subjektiven‘ Bekenntnisse, die zugleich ein Licht auf die Handlungsoptionen eines weitaus größeren Kreises von Tätern werfen.“

Die Arbeit ist in zwei Bereiche unterteilt: zunächst wird „Das Wissen der Täter“ zum Gegenstand mit unterschiedlichem Fokus jeweils auf die westeuropäischen Besatzungszonen (Frankreich, Belgien und Niederlande). Im zweiten Teil steht dann das „Zeugnis der Überlebenden“ im Zentrum der Untersuchung, hierbei sind Zeugenberichte aus Belgien die entscheidende Quelle.

Dass der Kenntnisstand auf der Täterseite ungleich größer war, muss kaum erwähnt werden, doch auch hier spricht Meyer von einem „Kreislauf aus Täuschung und Selbsttäuschung“. Zirkulierende Gerüchte und Andeutungen gab es mehr als genug, das drängte den Täterkreis jedoch zu keinerlei Konsequenz, der Dienst wurde pflichtgemäß fortgesetzt: „Die Dichte der Gerüchte und verfügbaren Nachrichten hätten ausreichen können, um Konsequenzen daraus zu ziehen. Dass dies nicht geschah, mag viele Gründe haben, die im Wesen der NS-Diktatur und in der Situation des Krieges zu suchen sind. Aber vor allem war es wohl so, dass trotz genügender Hinweise auf einen Massenmord kaum einer der Beteiligten den Dienst quittierte, nicht weil er dem Verbrechen zugestimmt hätte – das womöglich auch, sondern weil es derart organisiert wurde, dass niemand Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns zu übernehmen brauchte.“

Neben der „arbeitsteilig-großräumlichen Organisationsform“ ist aber auch das Ausmaß des Verbrechens selbst Bestandteil jener Möglichkeit zur „Fiktion des Nichtwissens“: „Die Unvorstellbarkeit lag in der Organisationsform und Inszenierung des Verbrechens durch die Täter selbst begründet (die sich ihrerseits nach dem Krieg zur Entlastung darauf beriefen), und die ‚Unvorstellbarkeit‘ des Erlebten ist zugleich ein Topos, der alle Augenzeugenberichte aus Auschwitz durchzieht.“

So ist neben der bewussten Täuschung der Opfer – etwa dem Versand von Postkarten aus Auschwitz-Birkenau, die von deportierten Personen unterschrieben waren, bis zur Tarnung der Gaskammern als Badeeinrichtungen – jenes Moment des Unvorstellbaren ebenfalls auf Seiten der Opfer aufzufinden. Die große Mehrheit der nach Auschwitz deportierten Juden wusste nicht, noch (und daran ist Meyer insbesondere gelegen) konnten sie es sich vorstellen, dass ihre Ermordung bereits beschlossen war – „in diesem Irrglauben beließ man sie so lange, wie nur irgend möglich, denn davon hing das Funktionieren der gesamten Mordanlage ab“.

Ahlrich Meyer diagnostiziert bezüglich jener Unvorstellbarkeit auf Seiten der Opfer wie der Täter ein doppeltes Paradox. Zugleich bemüht er sich jedoch, jede mögliche Entschuldigung der Täter abzuweisen: „Wir stehen vor einem doppelten Paradox, einem historischen und einem moralischen. Das historische Paradox besteht darin, dass ein Genozid stattfinden konnte, der die Vorstellungskraft nicht nur der unbeteiligten Beobachter überstieg, sondern auch die der meisten Akteure selbst. Dies ist eine Feststellung, die nichts entschuldigt. Das moralische Paradox liegt unterhalb dieser Schwelle der Erkenntnis. Es betrifft diejenigen Täter, die – ob sie es nachträglich gestanden oder nicht – über ein Wissen verfügten, das gemessen am Gesamtgeschehen zwar begrenzt blieb, zur moralischen Beurteilung von Handlungen und Handlungsfolgen aber allemal ausreichte, kurz: die wussten, was sie taten, und die sich dennoch weiter am Mord beteiligten, bis sie von den Alliierten gewaltsam daran gehindert wurden. Beide Paradoxa lassen sich nicht auflösen, sondern sie nötigen zur Reflexion.“

An das Paradox der formulierten Unvorstellbarkeit schließen natürlich weitere Fragen an. So wäre neben der Unvorstellbarkeit des Massenmords in Auschwitz die Frage nicht unerheblich, wie es mit dem Wissen um andere Konzentrations- und Vernichtungslager in Europa stand. Hier gibt es einen weiteren Bestand an Wissen und Ahnungen auf Seiten der Täter, die wesentlich deutlicher die Ausmaße des Grauens erkennen ließen. Meyer steht bewusst kritisch gegenüber jeglichen Mystifikationen des Holocausts – wie er sie etwa bei Giorgio Agambens Figur des „Muselmann“ erkennt, welche „mit der historischen Realität der Vernichtungslager wenig zu tun“ hat. Dennoch lässt jenes Moment der Unvorstellbarkeit viele Fragen offen und erzeugt damit eine gewisse Vagheit – dies wiederum mag angesichts des Themas unumgänglich sein, eine Diskussion des Problems wäre innerhalb der Arbeit jedoch hilfreich gewesen. Dass viele Fragen an die Untersuchung anschließen, eröffnet dabei zugleich auch den Zugang zu weiteren Forschungsarbeiten, die hoffentlich der vorliegenden folgen werden.

So schließt Meyers aufschlussreiches, inhaltlich sowie sprachlich konzise argumentierendes Werk mit der Frage, wann die Bedingungen nach Ende des Krieges überhaupt gegeben waren, den Holocaust als ein Ganzes historisch zu fassen: „Die naheliegende Frage ist also, wie und wann die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, damit ein solches Gesamtbild entstehen konnte. Wir haben es mit einem letzten Aspekt des ‚Wissens um Auschwitz‘ zu tun, mit dem der Konstitution historischen Wissens in Form des Archivs.“

So ist diese Arbeit nicht zuletzt eine Darlegung der Notwendigkeit (und damit zugleich Verteidigung gegen postmoderne Mystifikationen) des Archivs und der Zeugenschaft, welche die notwendige Bedingung aller wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Auschwitz sind und bleiben werden.

Titelbild

Ahlrich Meyer: Das Wissen um Auschwitz. Täter und Opfer der "Endlösung" in Westeuropa.
Schöningh Verlag, Paderborn 2010.
238 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783506770233

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