Spieglein, Spieglein dort im Land…

Guy Deutschers (zweite) Reise durch die Sprachen

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der aus Israel stammende Linguist Guy Deutscher (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Physiker) ist spätestens 2008 einem breiteren Publikum bekannt geworden durch seine unkonventionelle Sprachgeschichte „Unfolding the language“, die in der deutschen Übersetzung unter dem markigen Titel „Du Jane, ich Goethe“ erschienen ist und die Leser mitgenommen hat auf eine Reise durch die Entwicklung der Sprache(n). Nun ist sein zweites Buch „Im Spiegel der Sprache“ erschienen, zunächst auf Englisch, dann, in überarbeiteter Fassung, auch für die deutschsprachige Leserschaft. Wieder ist es eine Einladung zu einer Reise durch Sprache und Sprachen, diesmal mit dem verlockenden Versprechen, die Welt durch die Augen anderer Sprachen zu sehen.

Diese Reise hat ihren Ausgangspunkt implizit in der Antike und explizit bei der 1858 dokumentierten Beobachtung, Homer habe eine äußerst eigenwillige Farbwahrnehmung, die sich in merkwürdigen Beschreibungen dessen äußerst, was nach modernem Empfinden „blau“ sein sollte. Ein Phänomen, das sich auch in anderen antiken Texten einschließlich der Bibel nachweisen lässt. Diese durchaus interessante Beobachtung – in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts zuweilen als „Blaublindheit“ etikettiert – nimmt Deutscher zum Anlass, die diesbezüglichen Erkenntnisse der Forschung jener Zeit im ersten Teil seines Buches zu rekonstruieren. Dabei wird auch deutlich, wie sehr Forschungsbeobachtungen und -erkenntnisse in den zeitgenössischen Kontext eingebettet sind und wie sehr deren Rezeption von ebendiesem Kontext beeinflusst war (und ist).

Am Ende des ersten Teils bleibt die Frage im Raume stehen, wie sich die auffällig andere Farbwahrnehmung in antiken Texten erklären lässt. Den Versuch einer Antwort liefert Deutscher im letzten Kapitel des zweiten Teils. Dort zeigt sich allerdings, dass ein aktueller Forschungsstand oft nur eine Momentaufnahme darstellt, die mehr offene Fragen kennt als Antworten.

Die zweite Leitfrage, die sich durch das Buch zieht, ist die nach dem Einfluss der Komplexität von Grammatik auf die Gedankenwelt des Sprechers – eine ernsthafte wissenschaftliche Fragestellung, die einen kompletten Lehrstuhl über Generationen hinweg beschäftigen könnte. Entsprechend komplex sind die nächsten beiden Kapitel, die Begrifflichkeiten und Forschungsstände der verschiedenen Teildisziplinen der Linguistik zusammentragen, bevor sprachbedingte Unterschiede in Denksystemen entlegener und europäischer Sprachen untersucht werden. Hier finden sich, neben mehr oder weniger bekannten kleineren Diskrepanzen, wie sie beispielsweise aufgrund unterschiedlicher Genus-Systeme bestehen, auch beeindruckende „Anders-Perspektiven“, wie sie indigene Sprachen Lateinamerikas und Australiens in Bezug auf Orts- und Raumbeschreibungen aufweisen. Gerade der Natur noch stark verhaftete Völker bezeichnen Raum und Räumlichkeit oft mit den unveränderlichen Himmelsrichtungen, während Europäer es gewohnt sind, von ihrem eigenen, veränderlichen Standpunkt auszugehen – ein spannendes Gedankenspiel, an dem der Leser anhand eines geführten Experimentes beinahe interaktiv teilhaben kann.

Die Vorzüge dieses Buches liegen in der grundsätzlich gelungenen Mischung aus fundiertem und sorgfältig rekonstruiertem Wissen einerseits und einem kurzweilig-vergnüglichen Stil (wobei diese Meriten zum Teil auch dem Übersetzer, Martin Pfeiffer, gebühren) andererseits, der sich weit genug von der akademisch-nüchternen Sprache entfernt hat, um die Inhalte auch einem allgemeinen Publikum zugänglich zu machen. Damit wird zwar die Sprachwissenschaft nicht neu erfunden, aber doch dahingehend modernisiert, dass der Elfenbeinturm der Wissenschaften zugunsten fachlich interessierter Leser geöffnet wird – eine zeitgemäße und lobenswerte Absicht, die allerdings der Herausforderung untersteht, nun zwei grundsätzlichen Rezipientengruppen gerecht werden zu wollen und zu sollen. Dass sich hier – allerdings in moderatem Umfang – Beispiele, Zitate und Gedankengänge aus dem Vorgängerband wiederfinden, liegt aufgrund der thematischen Nähe in der Natur der Sache und kann kaum als Kritik formuliert werden. Etwas mehr Sorgfalt hätte man sich allerdings beim Lektorat gewünscht – unansehnliche Textlöcher hätte man durch deutlich mehr Worttrennungen ebenso vermeiden können wie den einen oder anderen orthografischen Patzer, etwa, wenn der ausführlich behandelte Sprachforscher Benjamin Lee Whorf in einer Zwischenüberschrift plötzlich zu einem „Wolf“ wird.

Wer es gewohnt ist, auch Anhang und Apparat eines Buches in die Rezeption mit einzubeziehen, wird nicht ganz auf seine Kosten kommen. Zunächst einmal sind Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Register in einer kleinen Schriftgröße gehalten, was zu Lasten der Übersichtlichkeit geht.

Dass die nach Kapitel und Seitenzahlen sortierten Anmerkungen im Anhang untergebracht sind, ist grundsätzlich nachvollziehbar, denn sie enthalten zumeist Quellenangaben und sind damit in erster Linie für Fachleute interessant. Die nachfolgende Literaturliste beeindruckt durch ihren Umfang und ist trotz der kleinen Schrift noch recht übersichtlich. Anders das abschließende Register, das ein kombiniertes Personen-, Sach- und Werkregister in Kleinschrift ist, bei dem zudem einige Stichwörter eine beeindruckende Anzahl von Untereinträgen aufweisen. So mancher, der das Buch zum eigenen Arbeiten nutzen möchte, wäre sicherlich dankbar gewesen für ein Mehr an Schriftgröße und ein Mehr an Register(n).

Problematisch gestaltet sich bei Deutscher schlussendlich aber doch die Titelwahl, zumindest, was die deutschen Titel betrifft: War es bei seinem Vorgänger „Du Jane, ich Goethe“ neben der etwas platten Tarzan-Anspielung das implizite Versprechen, Goethe im Buchinneren des Öfteren zu begegnen, ist es nun gleich „die Welt“, die wir durch „andere Sprachen“ und deren Perspektiven neu zu entdecken hoffen. Beide Versprechen erfüllen sich nur leidlich – weder erhaschen wir von Goethe mehr als zwei, drei kurze Augenblicke noch öffnet sich uns die Welt, sondern davon lediglich ein Teil, was bei nicht einmal 250 Seiten reinen Textes (ohne Einleitung und Anhang) auch kein Wunder ist.

So interessant sich die Ausführungen stellenweise lesen, so hartnäckig hält sich bis zum Schluss das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein an Informationen und Einblicken, die man sich nicht zuletzt auch wegen des Titels erhofft hatte. Geht man diesem Gefühl auf den Grund, ergibt sich folgende, in der Tat etwas ernüchternde Bilanz: Das Register enthält über 70 Einzelsprachen, was etwa einem Prozent der in der Datenbank des Summer Institute of Linguistics verzeichneten fast 7.000 Einzelsprachen entspricht. Knapp 60 der im Register verzeichneten Sprachen werden aber lediglich als Beispiele oder Teile von Auflistungen genannt, ohne dass man über die genannten Sprachen Wesentliches erfährt, so etwa allein neun indianische Sprachen in einer Liste der Sprachen, denen sich der Sprachforscher Edward Sapir widmete.

Umfassendere und interessante Informationen erhält man letztendlich über rund 15 Sprachen, darunter die den englisch- und deutschsprachigen Lesern mehr oder weniger vertrauten europäischen wie spanisch, englisch, deutsch, französisch, russisch oder griechisch, oder die dem Autor sehr vertrauten semitischen Sprachen wie hebräisch oder akkadisch, über deren Syntax ebenfalls ein Buch Deutschers vorliegt. Wirklich exotische Sprachen unter den ausführlicher erläuterten sind die indianischen Sprachen Hopi, Nootka und Matses, die Maya-Sprache Tzeltal und das (leider im Verschwinden begriffene) Guugu-Yimithirr der australischen Aborigines. Die an diesen Sprachen ausgeführten Beispiele andersartiger (Um-) Weltwahrnehmung mit den Schwerpunkten Farb- und Raumwahrnehmung aber sind es, die man in diesem Buch erwartet und von denen man gerne mehr gehabt hätte.

Titelbild

Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
320 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406606892

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