Totale Tinte

Ohne Anlass wird Ernst Jünger vom Deutschen Literaturarchiv Marbach als einer der „wichtigsten Schriftsteller der Moderne“ vorgestellt – und Helmuth Kiesel beglückt uns mit seiner Erst-Edition der „Tagebücher 1914-1918“

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. „Dehnbare Symbole“. Die Marbacher Kuratoren entdecken Ernst Jünger als „postmodernen Autor“

Beim Abstieg in die Unterwelt des Marbacher Literaturmuseums der Moderne verspürt man ein leichtes Frösteln. Es ist kühl und dunkel dort unten. Das passt genauso gut zu Ernst Jünger, dessen soldatische „Verhaltenslehren der Kälte“ Helmuth Lethen 1994 in seinem gleichnamigen Buch erforscht hat, wie die raunende Nobilitierung des obszönen Schriftstellers als „Arbeiter am Abgrund der Zeit“, welche die Kuratoren in ihren Kommentartexten zur Ausstellung seines Nachlasses gar nicht oft genug wiederholen können.

Doch auf halbem Wege nach unten steht plötzlich ein aufgespannter bunter Regenschirm auf dem Boden, dekorativ vor eine Betonwand platziert. Es wirkt wie ein letzter, ermutigender Gruß an die Besucher, bevor sie sich in die nekrophile Gedanken- und Geisteswelt des 102 Jahre alt gewordenen und erst 1998 friedlich verschiedenen Über-Soldaten Jünger begeben. Allerdings scheint es nur so. Denn in Wahrheit hat der Marbacher Hades hier bereits begonnen. Aufschluss gibt der Katalog zur Ausstellung. Denn auch seinen Umschlag schmückt dieser rätselhafte Schirm. Doch hier hält ihn ein weißhaariger Mann im hellblauen Anzug verkehrt herum. Das farbenfrohe Foto wurde auf einer sonnigen Blumenwiese geknipst. Der Blick des älteren Herrn wirkt konzentriert, und in der freien rechten Hand hält er einen Stock. Nein, das hier ist nicht Peter Lustig. Und auch nicht Hermann Hesse. Es handelt sich um Ernst Jünger – und sein Schirm war eine tödliche Falle. Damit lockte er Käfer an, um sie dann zu erschlagen, aufzuspießen und symmetrisch in unzähligen Kästen anzuordnen.

Mit unsicherem Lächeln begeben sich die Besucher einen Stock tiefer. Dort bleiben sie auch schon vor dem nächsten Requisit stehen – einem durchschossenen Stahlhelm. Jünger trug ihn im Ersten Weltkrieg, als ihn eine Kugel am Kopf streifte. „Am Nullpunkt“ seines Schaffens befänden wir uns hier, suggerieren die Kuratoren, die ihre Materialschau der Superlative – etwa 600 Exponate, unter anderem mit 280 Tagebüchern und Manuskripten, die zum Großteil noch nie zuvor öffentlich gezeigt und auch noch nicht ediert wurden – in zehn Themenabschnitte gegliedert haben. Doch einen „Nullpunkt“ gab es im Werk Jüngers genauso wenig wie es 1945 eine „Stunde Null“ gegeben hat – und nie konnte man das deutlicher erkennen als beim Besuch dieser Ausstellung. „In Stahlgewittern“, Jüngers erstes Buch, das er auf der Basis seiner Notizen aus dem Ersten Weltkrieg schrieb, war nur die Fortsetzung einer bereits in der Schulzeit einsetzenden Faszination für die automatenhafte Auftürmung seelenloser Faktenhubereien, aus denen ein ganzes Jahrhundert später jenes voluminöse Lebenswerk resultierte, vor dem wir heute so beklommen stehen.

Pausenlos geht es in dieser Marbacher Ausstellung um den Tod, um Totes oder die emsige Dokumentation von Kampfeinsätzen. Jüngers morbide und zugleich seltsam naiv und unbeholfen wirkende Kritzeleien avancieren zu sorgfältig ausgeleuchteten Kult-Objekten: Hier kann man nicht nur jene fünfzehn Kriegstagebücher von 1914-18 im Original sehen, die der Heidelberger Literaturprofessor Helmuth Kiesel gerade erstmals bei Klett-Cotta herausgegeben hat, sondern neben vielen Insektenleichen auch eine ausgestopfte Schildkröte aus Jüngers Wilflinger Domizil, einer ehemaligen Oberförsterei.

Falls Jünger, der den Slapstick bekanntlich hasste, überhaupt so etwas wie Humor kannte, zeigt sich übrigens gerade in dieser Wahl seines legendären schwäbischen Alterssitzes, von welcher Sorte seine biografischen Selbstinszenierungen waren: Spätestens seit Thomas Bernhards Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ (1986) wissen wir, dass die Jäger „schon immer“ die Faschisten waren. Wobei es tatsächlich nicht ohne Ironie ist, dass uns die Interpreten seit jeher einbläuen wollen, der Oberförster aus Jüngers angeblichem „Widerstands“-Roman „Auf den Mamorklippen“ (1939) sei als verschlüsselte Figuration Adolf Hitlers zu verstehen. Denn vielleicht bestand Jüngers „Widerstand“ ja bloß darin, dass er glaubte, der wahre „Oberförster“ sei von Anfang an und ganz allein er selbst gewesen? So gesehen wäre sein Wilflinger Alters-Rückzugsort schlicht als späte symbolische Erfüllung eines Jugendtraums zu begreifen.

Wie von alleine ergeben sich in den Marbacher Schaukästen, deren blumigen Begleittexten solche ketzerischen Thesen selbstverständlich fern liegen, Objekt-Kombinationen von unfassbarem Zynismus. So haben die Kuratoren in einer Vitrine den Stahlhelm und den Flachmann eines von Jünger im Ersten Weltkrieg erschossenen englischen Soldaten gleich unter einer bunten Fotografie des Schriftstellers platziert, die ihn 1989 bei seiner notorischen Käfer-Pirsch auf Mauritius zeigt. Sollte das entlarvend wirken – oder haben die Aussteller beim ausgiebigen Wühlen in den Papieren dieses Autors dessen eliminatorische Weltsicht, die darauf abzielte, alles Lebende um ihn herum in Totes zu verwandeln, schließlich selbst übernommen? Zumindest scheinen sich die Kuratoren bei der Formulierung der Titel der einzelnen Stationen ihrer Material-Sammlung willig an Jüngers „Wortgewittern“, an seiner „totalen Mobilmachung“ von Stilblüten orientiert zu haben. So überschrieben sie einen Themenabschnitt allen Ernstes mit „Totale Tinte“.

Es gebe für die Ausstellung überhaupt keinen aktuellen Anlass, gibt der Direktor des Marbacher Literaturarchivs, Ulrich Raulff, offen zu. Allerdings habe die Beschäftigung mit Jünger in der letzten Zeit ganz allgemein zugenommen. Auch der Kurator Stephan Schlak, der 2008 in Berlin bei dem Spezialisten für „Neue Kriege“ Herfried Münkler promovierte, will eine allgemeine „Entspannung“ im Gespräch über Jünger wahrgenommen haben. So erklärt es sich wohl tatsächlich, dass es zum Beispiel möglich war, Helmuth Kiesels erwähnte Tagebuch-Edition mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Satz Jüngers zu zieren, der noch vor gar nicht allzu langer Zeit unter Literaturwissenschaftlern zu einem Aufschrei der Entrüstung hätte führen müssen. Suggeriert er doch dreist, sein Autor sei ein Pazifist gewesen: „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“

In diesem Zusammenhang ist es nicht allzu schwer zu erkennen, was auch die Marbacher Schau ganz offensichtlich bezwecken möchte. Tatsächlich heißt es in einem der Begleittexte zur Ausstellung, der in der betonten Offenheit seines Nominalstils an den Jargon der Eigentlichkeit gemahnt: „Man kann Jünger als Autor für wie als Autor gegen den Krieg lesen, als faschistischen wie als anarchischen Schriftsteller, als Liebhaber der Lebensgefahr und Befürworter des Friedens, als Freund des Todes wie des Lebens.“ Diesen herrischen Verfasser todesverachtender Pamphlete so multifunktional zu deuten, dass aus seiner Lektüre exegetische Wohlfühl-Ergebnisse resultieren, die verdächtig nach den Bekenntnissen in einer Bibelstunde auf dem Kirchentag klingen – das kann wohl wirklich nur Leuten gelingen, die es gewohnt sind, Texte für Museen zu verfassen.

Raulff stellt den Schriftsteller denn auch ganz neutral als eine Art Hausautor und Ur-Typ des Marbacher Archiv-Geistes vor. Habe doch dieser „Schreiber“ selbst sein ganzes Leben über pausenlos Material gesammelt, gesichtet und geordnet und sei dann auch noch in zweiter Ehe mit Liselotte Jünger an eine professionelle Archivarin geraten, die seinen „Vorlass“ bereits 1994 fix und fertig verpackt in 270 „grünen Marbacher Archivkästen“ abliefern konnte. Sie enthielten etwa 30.000 Briefe, die seither ihrer philologischen Erschließung harren.

Für die Marbacher Gralshüter derartiger Nachlässe sind Jüngers literarische Rumpelkisten zweifellos ein Glücksfall. Hier können sie, wie die Museumsleiterin Heike Gfrereis, plötzlich mit leuchtenden Augen von vertikalen und horizontalen Linien faseln, an denen entlang Jünger sein Werk ausgerichtet habe, oder auch von weißen Blättern, die dieser Autor gar nicht gemocht habe: „Ebenso organisch wie mechanisch, so bildlich wie abstrakt verlagert er Schwerpunkte, verschiebt er Linien, blendet er Erfahrungen aus und schneidet Worte weg, überträgt und übersetzt, schreibt ab, um, neu und wieder“, hat sie zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen Ellen Strittmatter und Sonja Lehmann beobachtet.

In Jüngers Leitzordnern erkennen die Kuratoren denn auch „dehnbare Symbole“ – ein seltsames Wortbild zur gewagten These, Jünger sei als postmoderner Autor neu zu entdecken, auch wenn der depperte Durchschnittsleser bisher nur platte Kriegsverherrlichungen in dessen Werk zu erkennen vermochte. Die Verfahren von Jüngers Textherstellung seien „so postmodern wie sein Begriff von Autorschaft, ohne dass sich seinen Lesern diese Postmodernität aufdrängt“, liest man verblüfft im Kommentar zum Ausstellungsabschnitt mit dem pfiffigen Titel „Ausschneidesysteme“. Das sind, nebenbei gesagt, so die Insider-Gags für Promovierte: Friedrich Kittlers „Aufschreibsysteme“ (1985) lassen auch schön grüßen. Doch wieso sollte ausgerechnet ein Schriftsteller, der seine Tagebücher durch ihre wiederholte stilistische Überarbeitung zu „metallisieren“ suchte, wie er sich 1940 selbst ermahnte, der also nichts als die militärische Panzerung seiner Literatur im Sinn hatte, plötzlich als postmoderner Auflöser klarer Sinngebungen und klarer historischer Kontextualisierungen gelten können? Jüngers manische Umarbeitungen seiner Tagebücher, die bereits mit „In Stahlgewittern“ einsetzen, sind nicht etwa einer spielerischen „Lust am Text“ (Roland Barthes) geschuldet, sondern dem Wahn, mittels einer gründlichen Eliminierung aller möglichen Widersprüche und Brüche das literarische Bild eines perfekten soldatischen Mannes modellieren zu können.

Der euphorische Blick auf das Schreib-Material, den die Kuratoren propagieren, scheint jedoch derartige ideologiekritische Perspektiven komplett auszuschließen. Jedenfalls kann Gfrereis so zu dem erstaunlichen Schluss gelangen, über den verkrampftesten Selbstdarsteller der Literaturgeschichte, dessen beinharte Exerzierhof-Poetologie auf nichts anderes als den durchorganisierten Drill seiner devoten Leser zielte, den verzückten Ausruf zu formulieren: „Jünger ist kein Autor der Klage und der Betroffenheit, er ist ein Autor des heiteren, gelassenen Lebens.“

Tatsächlich schrieb wohl niemand so viel auf wie dieser verbissenste aller deutschen Leitzordner-Literaten. Er war ein strategischer Gebieter über seine Notizbücher, die pausenlos und penibel geführten Schreibhefte und seine entomologischen Tabellen – ein unbeirrter Wort-Kommandeur in Uniform, der nach 1945 selbst noch den arbeitswütigen Zettelkasten-Autor Arno Schmidt in seiner lustvollen Selbst-Bürokratisierung des Alltagslebens locker übertraf, indem er Massen toter Lebewesen sammelte und in Glaskästen anordnete, als handele es sich um symmetrisch aufgestellte Truppen.

Fast die Hälfte seines langen Lebens war Jünger quasi pausenlos im Krieg: Als hoch dekorierter soldatischer „Jäger“ von Franzosen, Engländern und Indern, die er im Ersten Weltkrieg gerne mit gut gezielten Schüssen „erlegte“, begab sich der vielfach Verwundete in den 1920er-Jahren nahtlos in einen bedingungslosen publizistischen Kampf gegen das demokratische Bürgertum der Weimarer Republik, um sogar noch Adolf Hitlers Partei von rechts als spießige Bande zu verhöhnen. Der Krieg ging für Jünger nach 1918 also auf dem Papier weiter und verlagerte sich in seine publizistischen Vorstöße, Erzählungen und Romane, wie auch Schlak offen einräumt. So ist in Marbach unter anderem folgende Selbstbeschreibung nachzulesen, die der Autor Ende 1932 an die Deutsche Akademie für Dichtung sandte: „Die Eigenart meiner Arbeit liegt in ihrem wesentlich soldatischen Charakter, den ich durch akademische Bindungen nicht beeinträchtigen will.“

Obwohl er von Hitler trotz seiner extremistischen Stänkereien heftig umworben wurde – in der Ausstellung kann man einen Brief von Rudolf Heß bewundern, in dem dieser Jünger im Jahr 1926 mitteilt, der Führer wolle ihn unbedingt kennenlernen – gab sich der Träger des höchsten militärischen Ordens „Pour le mérite“ im Zweiten Weltkrieg in seinen Pariser Tagebüchern als eher distanzierter, aristokratischer Dandy. Dass er Probleme damit hatte, bei einem Abstecher an die Ostfront die dort typischen Massenerschießungen genauso kühl zu beobachten und zu beschreiben, wie er es mit den von ihm selbst in Frankreich dokumentierten Hinrichtungen von Deserteuren und Geiseln vermochte, irritierte ihn. Dass er nicht zur „Bestandsaufnahme“ dort vorbeischaute, als er sich im Kaukasus 1942/43 in einer Region befand, in der gerade mehr als 30.000 Juden ermordet wurden, kommentiert Kiesel in seiner Biografie damit, dass sich Jünger den Anblick „nicht zugemutet“ habe. Wie sensibel. Tatsächlich zitiert Kiesel, der Jünger übrigens dafür rühmt, dass dieser als einer der Ersten angesichts von deutschen Uniformen in Russland „Ekel“ empfunden habe, selbst dessen verräterischen Tagebuch-Eintrag, den der hochdekorierte Uniformträger am 12. Dezember 1942 notierte, um sich dafür zu rechtfertigen, dass er nicht zur Massenerschießung ging: „Gedanke: zu solchem Zutritt müßte man höhere Weihen empfangen als sie unsere Zeit verleiht.“ Das sollte wohl heißen: Für einen weiteren Orden wäre Jünger wohl schon gerne hingegangen.

Auf die Schutzbehauptungen, die dieser Elite-Mitläufer angesichts dieser Erlebnisse nachträglich aufschrieb, sollte man also nicht allzu viel geben – jedenfalls nicht soviel wie Kiesel. Der stolze Wehrmachts-Dandy blieb im Habitus auch hier ganz der stoische Krieger und kalte Beobachter todbringender „Befruchtungen“ des Lebens. Nicht ohne Herablassung schreibt Jünger am 10. Februar 1945 in einem Brief an den befreundeten NS-Juristen Carl Schmitt, den man in einer der Ausstellungs-Vitrinen lesen kann, auch er mache „jetzt im Volkssturm mit“: „Doch macht mir dergleichen sicher weniger als Ihnen aus.“

Nach 1945 unternahm Jünger schließlich Drogenexperimente, reiste ausgiebig um den Globus und begab sich auf Käferjagd, um abermals emsig alles zu notieren, was ihm bei diesen Alters-Grenzüberschreitungen auffiel. Warum ihn der Tod dabei so faszinierte, fragte er sich nie. Schon vor über 30 Jahren hat Klaus Theweleit in seinen „Männerphantasien“ festgestellt, dass soldatische Männer wie Jünger nichts so sehr hassten wie die Psychoanalyse. Ethischen Skrupeln grundsätzlich abhold, wurde dieser Autor, den die Marbacher als einen der „wichtigsten modernen Schriftsteller“ und als „außergewöhnliche Figur der deutschen Geistesgeschichte“ würdigen wollen, zum willigen Sekretär der Massenvernichtung. Selbstdiszipliniert nahm er nicht zuletzt aktiv daran teil, als Connaisseur der Wonnen einer mörderischen Sexualität des Todes. Einer seiner späten Aphorismen bringt diese bizarre Weltwahrnehmung auf den Punkt: „Orgasmus als ‚kleiner Tod‘! Wozu der Umweg.“

Besonders bedeutungsschwanger sollte es wohl wirken, als Jünger bereits 1946, also unmittelbar nach der erzwungenen Beendigung der Shoah, in seinem Tagebuch Søren Kierkegaard zitierte. Vielleicht war das nicht nur „metaphysisch“ gemeint, wie die ergriffenen Kuratoren erläutern, sondern schlicht eine pathetische Form der Schuldabwehr: „Gott schafft alles aus Nichts / und alles – was Gott brauchen will / macht er erst zunichte.“ Der Holocaust als unvermeidlicher Ratschluss des Herrn! Auch in Jüngers Alters-Tagebuchkonvolut „Siebzig verweht“ lautet eine der allerletzten Eintragungen der 1990er-Jahre: „Von Schopenhauer wird die Welt als Spielfeld des blinden Willens betrachtet; sie ist titanisch – zwar ewigem Wechsel unterworfen, doch vergänglicher Natur: ‘Denn alles, was entsteht, / Ist wert, dass es zugrunde geht.’“

Eugen Gürster-Steinhausen erfasste dieses Prinzip, das Jüngers Geschichtsbild seit Beginn der Shoah bis zu seinem Ableben offensichtlich ungebrochen weiter bestimmte, bereits 1946 in einem Essay über den Autor als „Prophet des deutschen Nationalismus“, der seinerzeit in der „Neuen Rundschau“ noch im Stockholmer Exil erschien, heute längst vergessen ist und von auch den Marbacher Philologen gewissenhaft ignoriert wird. „Auf den Mamorklippen“ war auch für Gürster-Steinhausen kein Buch des „Widerstands“, sondern bloß der Beginn einer Phase des Jünger’schen Schreibens, in dem Hitler nicht etwa explizit verurteilt wurde, sondern bloß als „eine jener undefinierbaren Naturerscheinungen“ auftritt, „deren sich ein dunkles Schicksal zu bedienen liebt“. Jünger klammere sich nunmehr „an die vage Idee eines essentiell geistigen Schicksals, vor dem wir aber doch alle mehr oder weniger unverantwortlich sind und schuldlos“.

Während man nach alledem benommen aus dem Museum taumelt und in die weite Neckar-Ebene blickt, stellt man sich einmal mehr die Frage, warum es eigentlich gerade das Bundesland Baden-Württemberg ist, das sich seit Jahrzehnten so besonders um das Andenken Jüngers verdient gemacht hat. Hier gibt es ein vom Ministerpräsidenten finanziertes Ernst-Jünger-Stipendium und sogar einen Ernst-Jünger-Preis für Entomologie. Ulrich Raulff rühmt das Ernst-Jünger-Haus in Wilflingen als eines der schönsten deutschen Dichter-Museen, das im nächsten Jahr pünktlich zu Jüngers Geburtstag am 29. März neu eröffnet werden soll. Zu seiner Bewahrung engagiert sich eine Ernst-Jünger-Stiftung, seinerzeit maßgeblich mit einer Million DM von der Kreissparkasse Biberach finanziert – um weitere Spenden wird gebeten.

Tatsächlich aber ist der extreme Antidemokrat Jünger seit seiner spektakulären Hofierung durch Helmut Kohl und François Mitterrand in den 1990er-Jahren längst zum Staatsschriftsteller schlechthin avanciert. Die Marbacher Ausstellung, die am 7. November unter anderem von Martin Walser, der als berüchtigter Bodensee-Bürger und kühner Abschmetterer der „Auschwitz-Keule“ für den erkrankten Frank Schirrmacher (F.A.Z.) eingesprungen war, und Bernd Neumann, dem Bundesbeauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (CDU), eröffnet wurde, wird bis zum 27. März 2011 in Marbacher Literaturmuseum zu sehen sein. Jünger, setzte Walser der Stoßrichtung der Ausstellung in seiner Ansprache die Krone auf, sei in die Nähe Franz Kafkas zu rücken. In seiner Rede, die in der „Süddeutschen Zeitung“ abgedruckt wurde, erinnerte sich Walser merkwürdiger Weise an eine linkische Visite bei Kafkas Freundin Dora Diamant, zu Beginn der 1950er-Jahre im Londoner Stadtteil Chelsea. Was hat der bizarr misslungene Besuch des Kafka-Dissertanten Walser bei einer jüdischen Exil-Überlebenden der Shoah, die einen der bedeutendsten jüdischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts liebte, mit dem Gedenken an den deutschen Militär-Betonkopf Ernst Jünger zu tun?

Wohl nur soviel, dass Walser hier einmal wieder versuchte, die Sphären von Opfer und Täter zu verwischen. Es handelt sich um das, was man eine Deckerinnerung nennt, eine bezeichnende Schuldabwehr-Überlagerung in Walsers Gedächtnis: Jünger stand buchstäblich auf der anderen Seite des Massengrabs im Kaukasus, er war bei denjenigen Schützen, die auch Dora Diamant ermordet hätten, wenn sie es nicht 1936 geschafft hätte, vor den Nazis in die Sowjetunion zu fliehen, um von dort aus nur eine Woche vor dem deutschen Überfall auf Polen das sichere England zu erreichen. Jünger aber erscheint Walser, dem es nun auf einmal wie Schuppen von den Augen fällt, plötzlich in einem neuen Licht: Kiesels Jünger-Biografie habe ihn erleuchtet, denn das „deutsche Elend“, dass „wir immer nach den Meinungen gehen“, wo wir doch nicht solche Meinungen, sondern „Haltungen“ einüben sollten, anstatt den „Nebelwerfern“ der „Medien“ zu glauben, habe es verschuldet, dass man den sensiblen Jünger, der im Ersten Weltkrieg einen Nervenzusammenbruch erlitt und schluchzend zusammenbrach, zeitlebens verkannte und allen Ernstes dem „Faschismus zugesellen“ wollte. Der frühere DKP-Sympathisant Walser kann und darf es hier, bei der Gelegenheit, endlich sagen: Bertolt Brecht war zu Beginn der 1930er-Jahre weniger „freundlich“ als der „radikale“ Jünger: „Einfach weil Jünger immer als er selber schreibt, während Brecht das im Namen der Partei tut.“

Damit ist es endlich heraus: Ähnlich wie schon Daniel Kehlmann in seiner Eröffnungsrede zum Brecht-Festival 2008 in Augsburg entdeckt auch Walser in seiner Marbacher Sonntagsrede nicht etwa in Jünger, sondern in dem verblendeten Linken Bertolt Brecht den bösesten Literatur-Ideologen des 20. Jahrhunderts – während Walser, wenn er heute an Jünger denkt, natürlich gleich auf Kafka und Dora Diamant kommt. Wenn das so weitergeht, werden demnächst noch die Memoiren Albert Speers mit dem Tagebuch von Anne Frank auf eine Stufe gestellt: Die revisionistischen Perversionen des Kulturbetriebs und seiner Eliten kennen keine Grenzen mehr.

2. War Ernst Jünger wirklich im „Widerstand“ gegen den Nationalsozialismus?

Die befremdliche Jünger-Renaissance ist also beileibe nicht nur ein Phänomen, das sich auf das Musterländle beschränkt. Wenn Germanisten über die Literatur dieses Autors schreiben, teilen sie uns sowieso schon seit Langem und ganz besonders gerne mit, man könne und dürfe über solche Werke nicht „moralisch“ urteilen. Wer sich also nicht als „unwissenschaftlich“ argumentierender „Gutmensch“ lächerlich machen wolle, solle den beachtlichen Beitrag zur Literaturgeschichte der Moderne, den Jünger nun einmal geleistet habe, doch bitteschön besser nicht mit ideologiekritischem Genörgel anzweifeln, heißt es allerorten in der „Forschung“.

Gleichzeitig fällt allerdings auf, wie viel Energie dieselben Deuter manchmal dennoch darauf verwenden, Jüngers extreme nationalistische und faschistische Orientierung in den 1920er-Jahren kleinzureden, als unerheblich abzutun und mittels eines ominösen Begriffs einer dekadenten Ästhetik umzuwerten. Ganz so unerheblich scheint die Beurteilung von Jüngers historischer Rolle also dennoch nicht zu sein. Karl Heinz Bohrer, Verfasser der Studie „Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk“ (1978) ist da schon konsequenter in seiner kompletten Ignoranz biografischer Zusammenhänge. In seinem Gespräch mit Stephan Schlak, das man dem Marbacher Katalog entnehmen kann, brüstet er sich jedenfalls damit, dass er den „ästhetischen Diskurs so radikalisiert“ habe, dass „er sich von adäquaten soziologischen Begriffen nicht begleiten ließe“: „Das war auch ein Instinkt, der mir sagte: Diese Historiker und Soziologen, so interessant sie sein mögen – mit meiner theoretischen Neugier für ästhetische Phänomene haben sie nichts zu tun.“

Dieser rhetorische Trick ist nichts weiter als ein germanistisches Totschlagargument gegen jegliche politische Kritik von Texten. Es handelt sich um einen hermeneutischen Passepartout, der es erlaubt, jede historische Beleuchtung von Jüngers soldatischer Literatur reflexhaft als indoktrinäre linke „Denunziation“ eines großen „Stilisten“ abzutun. Im Grunde könnte man es mittels dieser Zauberformel sogar genauso gut versuchen, einmal Hitlers „Mein Kampf“ (1925) als „genuines Dokument der Moderne“ zu diskutieren, um im gleichen Atemzug stirnrunzelnd davon abzuraten, den in dem Machwerk vorformulierten eliminatorischen Antisemitismus allzu ernst zu nehmen. Versperre man sich mit derlei „ideologiekritischen Scheuklappen“ doch die Sicht auf die „bemerkenswerte Ästhetik“ jenes „einzigartigen literarischen“ Dokuments.

In der Einleitung seiner 2007 erschienenen, viel beachteten Jünger-Biografie wehrt sich Kiesel gegen Hans-Ulrich Wehlers Polemik, der Verfasser von „In Stahlgewittern“ sei einer der „intellektuellen Totengräber der Weimarer Republik“ gewesen. Kiesels betont besonnene Entgegnung passt auffällig gut zu jenen politischen Schwerpunktsetzungen der „Extremismus“-Bekämpfung, wie man sie aus den Verlautbarungen der CDU und neuerdings besonders auch der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Kristina Schröder zur Genüge kennt: „Die Weimarer Republik ist nicht an Ernst Jünger zugrunde gegangen, und der Anteil, den er als Repräsentant der antiparlamentarischen Rechten an ihrem Untergang gehabt hat, wird nicht größer sein als der Anteil, den die zahlreichen prominenten Vertreter der antiparlamentarischen Linken gehabt haben dürften“.

Einerseits solle man Jüngers Anteil an den Verfehlungen der extremen Rechten jener Zeit also „nicht überschätzen“, andererseits wiederholt Kiesel jedoch schon wenige Zeilen später eine weitere Behauptung, die sich in der Jünger-Forschung hartnäckig hält. Demnach war der Schriftsteller in Wahrheit ein geschickter Widerständler gegen den späteren Nationalsozialismus, ging also mit der „Bewegung“, von der „Deutschland vollends ins Unheil und zu bespiellosen Verbrechen getrieben wurde, keineswegs konform“.

Was denn nun? Einerseits soll dieser Autor unter den rechtsextremen Kräften seiner Zeit bloß eine kleine, unerhebliche Leuchte gewesen sein – gehörte aber andererseits sowieso gar nicht dazu, obwohl er in seinen Büchern damals noch die „totale Mobilmachung“ predigte und sich selbst zeitweise sogar weiter rechts einordnete als Hitler? Tatsächlich hatte Jünger in seiner Lebensphase als NS-Besatzer in Paris lose Kontakte zu den Verschwörer-Netzen des 20. Juli 1944 – doch deren aktive Beteiligung an der Durchführung der Shoah ist historiografisch längst nachgewiesen, und Jüngers Randfigurendasein in dieser zweifelhaften aristokratischen Gesellschaft dürfte wohl ebenso wenig als „Widerstand“ einzustufen sein wie derjenige der berüchtigten „Eliten“ aus dem Auswärtigen Amt, welches der Marburger Historiker Eckart Conze zusammen mit Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann soeben – wenig überraschend – als „verbrecherische Organisation“ ‚enttarnt‘ hat, die den Holocaust von Anbeginn mitplante und -durchführte.

Mehr noch: Jünger war nicht nur gegen eine Ermordung Hitlers – nein, er war nicht einmal für eine bloße oppositionelle Haltung zu gewinnen, wie Kiesel in seiner Biografie zu berichten weiß. Bereits am 12. Mai 1933 teilt Jünger in einem Brief mit: „In der letzten Zeit erscheinen allerlei Leute bei mir, um mich in irgendwelche Oppositionskreise einzubeziehen. Ich lehne das natürlich ab. Unsere Opposition liegt nicht diesseits, sondern jenseits der augenblicklichen Ereignisse.“ Man fragt sich angesichts des Zeitpunkts der Bemerkung und des großen Geweses, das Germanisten um die angebliche Distanz Jüngers vom Nationalsozialismus ab 1933 in der Regel machen, natürlich schon, was noch alles hätte passieren müssen, bis sich ein Jünger endlich entschlossen hätte, sich in die politische Opposition zu Hitler zu begeben.

Vielmehr freute er sich offensichtlich, im Frühjahr 1940 beim Einmarsch nach Frankreich an seine alte Wirkungsstätte zurückkehren zu dürfen. Fragte er doch einen inspizierenden General: „Darf man denn hoffen, das man noch ins Feuer kommt?“ Auch noch am 21. Juli 1944, also direkt nach Stauffenbergs gescheiterter Mission am 20. Juli, beeilte sich der hochdekorierte „Ritter“ zu notieren, er habe ja auch schon in seinen „Mamorklippen“ angedeutet, „dass durch Attentate wenig geändert und vor allem nichts gebessert“ werde. Dazu Kiesel: „Jünger war der Meinung, dass die restlose Niederlage des Nationalsozialismus nicht durch die Beseitigung des ‚Führers‘ verhindert oder verschleiert werden dürfe, wenn man nicht Mythen und Residuen nationalsozialistischen Denkens schaffen wolle.“ Der Biograf meint: „Ein bedenkenswertes Argument“. Tatsächlich belegt dieses Zitat doch bloß einmal mehr, dass auch Jünger sich höchstens um das Für und Wider einer „restlosen Niederlage“ des Nationalsozialismus bekümmerte, nicht aber um eine möglichst baldige Beendigung der in jenen Tagen nach wie vor auf Hochtouren weiter stattfindenden Shoah. Und Kiesel zeigt mit seinem Kommentar einmal mehr, dass auch er aus lauter Verständnis für seinen Lieblings-Schriftsteller bis heute offenbar kaum begriffen hat, worum es im „Dritten Reich“ im Sinne eines „Widerstands gegen Hitler“ zu allererst hätte gehen müssen, wenn ein solcher den Namen hätte verdienen sollen.

Übrigens wird die Polarität zwischen „rechter“ und „linker“ politischer Gesinnung, zwischen der Kiesel Jünger ab Ende der 1920er-Jahre irgendwie nur noch als seltsam neutralen Kommentator wahrnehmen zu können glaubt, heute auch oft dazu benutzt, um die Pluralität von Jüngers Leserschaft zu unterstreichen und den Autor dadurch zu nobilitieren. So heißt es im Nachwort zu dem Band „Im Haus der Briefe. Autoren schreiben Ernst Jünger 1945-1991“, den Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Anja S. Hübner herausgegeben hat: „Von 1945 bis Ende der fünfziger Jahre“ sei Jünger eine der „Leitfiguren“ der „deutschen Literatur“ gewesen, nachdem er „bereits seit Ende der zwanziger Jahre durch seine autobiographischen Bücher zum Ersten Weltkrieg zu den bekanntesten Schriftstellern in Deutschland gehört hatte, gelesen nicht nur von Anhängern auf der Rechten, sondern auch von Gegnern auf der Linken“. Wie heißt es doch so schön bei Ernst Jandl: „manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum“.

3. Sekt, Wein, Bier und Rum satt: Helmuth Kiesels Edition der „Tagebücher 1914-18“

Das zentrale Buch Jüngers, aus dem alles weitere folgte und an dem sich nach wie vor die Geister scheiden, ist das 1920 erstmals erschienene fiktionalisierte „Tagebuch eines Stoßtruppführers“, „In Stahlgewittern“. Es ist ein Text, an dem jeder, der noch halbwegs bei Groschen ist, auf Anhieb erkennen kann, wes Geistes Kind sein Autor war – wobei die verschiedenen stilistischen Nuancierungen und Vertuschungen der siebenfachen Überarbeitung, die das Buch im Laufe der Jahre erfuhr, überhaupt keinen nennenswerten ideologischen Unterschied ausmachen. Bereits aus der Erstausgabe spricht ein offensichtlich mordlüsternes „Frontschwein“ zu uns, ein junger Mann um die 20, der den Krieg begeistert begrüßt und alles menschliche Leid, das die Materialschlacht von 1914-1918 in seiner unmittelbaren Umgebung an der Front schon bald darauf fordert, einfach kaltblütig ignoriert.

Auf geradezu schizophrene Weise glaubte Jünger, den Grabenkrieg als Geburtsstunde eines neuen, heroischen Menschen wahrnehmen zu können. Dabei war es genau dieser einzelne Kämpfer, den der „Große Krieg“ endgültig in seiner früheren militärischen Bedeutung ausgelöscht, zerfetzt und zur im Grabenmatsch durch Tonnen von Eisen und Dynamit zerquetschten Made degradiert hatte. Dennoch taucht in den frühen Schriften Jüngers immer wieder die Vorstellung auf, dass sich der Soldat gegen dieses Schicksal wappnen könne. So denkt sich etwa der Protagonist aus der Erzählung „Sturm“ (1923): „Lenkten nicht Fixsterne seine Bahn, Ehre und Vaterland, oder war sein Leib nicht gehärtet durch die Lust am Kampfe wie durch ein Schuppenhemd, so trieb er als Molluske, als zuckendes Nervengeflecht im Hagel aus Feuer und Stahl.“

Gürster-Steinhausen stellt in seinem erwähnten Essay aus der „Neuen Rundschau“ von 1946 fest, in Ernst Jünger habe jener Typus des Schriftstellers, der den Krieg als unvermeidlichen und integralen Teil des menschlichen Lebens verstanden habe, seine „reinste Verkörperung“ gefunden. Jünger habe zeitlebens nichts anderes als mehr oder weniger elegant formulierte Paraphrasen der Macht-Philosophie Friedrich Nietzsches, Oswald Spenglers und Adolf Hitlers geliefert. Er sei ein Adept eines unbedingten Kriegs-Darwinismus gewesen, der sich in Jüngers Diktum aus dem – neuerdings von Walser und seit jeher von unzähligen Germanisten immer wieder hoch gelobten – Buch „Das abenteuerliche Herz“ (1928) kristallisiere: „Betrachte das Tier, als ob es ein Mensch wäre, und den Menschen als ein besonderes Tier“.

Walser erkennt in diesem Werk neuerdings eine Literatur, die „alles, was bei uns zwischen 1933 und 1945 geschrieben und gedruckt wurde, aufwiegt“. Doch Gürster-Steinhausen ordnet Jüngers Darwinismus etwas anders ein: „Für den Angehörigen einer Nation wird die feindliche Menschen-Gruppe zu etwas, das vernichtet werden muß, damit die eigene Art weiterleben kann. […] Wir dürfen annehmen, das Ernst Jünger Hitler als Mensch verachtet, aber als Werkzeug im Dienste totaler Mobilisierung zu schätzen gewusst hat. Manchmal ist irgendein Satz Jüngers nur durch die Verschlamptheit der sprachlichen Formulierung unterschieden. Ein Gedanke Hitlers wie der folgende: ‚Das Volk empfindet den Verzicht auf die Vernichtung des anderen als Unsicherheit in bezug auf das eigene Recht’ könnte von Jünger dem Sinne nach gebilligt, würde von ihm aber auf jeden Fall in besserer Prosa formuliert werden.“

Aus heutiger Sicht muss man allerdings konstatieren, dass auch das letztere Zugeständnis noch zweifelhaft ist. Denn Jüngers Stil in seiner aufgesetzten und noch dazu dilettantischen Maniriertheit schlichtweg unerträglich. Wie man sich seine mordgierige Literatur, deren Magna Charta „In Stahlgewittern“ darstellt, dennoch schön reden kann, demonstrierte etwa Heimo Schwilk in seinem erstmals 1988 erschienenen und nunmehr in einer überarbeiteten Neuausgabe vorliegenden, opulenten Band „Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten“. Darin wehrt er sich gegen eine Kritik von Jüngers durchweg blumig formulierter Kriegspropaganda: „Man hat dabei meist übersehen, dass die Ikonographie dieser Schreckensbilder nicht auf den Voyeur, sondern auf das ungläubige Erstaunen des Beobachters verweist, ein Erstaunen, das vor den Bildern eines sinnlosen Sterbens umschlagen muß in den Zweifel – oder in den fatalistischen Glauben an neue Formen, die sich unter Schmerzen bilden werden. Erst unter dem Appell eines von einer täglichen Realität des Todes provozierten Lebens wird die Frage nach dem Sinn des Krieges unüberhörbar existentiell. Sie hat Jünger nie mehr losgelassen.“

Damit ist natürlich zunächst einmal alles und nichts gesagt – und es ist genau jene semantische Vernebelungstaktik, die den Deutern immer wieder dazu verholfen hat, die Frage auszublenden, was es denn nun genau gewesen sein möge, das Jünger da „nie mehr losgelassen“ hatte. Tatsächlich hat in diesem Zusammenhang die raunende Rede davon, dass sich jemand wie Jünger nach 1945 „selbst treu geblieben“ sei, etwas Beängstigendes. Ein typisches Dokument einer solchen Lobrede wäre etwa Frank Schirrmachers Brief an Jünger, wie man ihn in dem Band „Im Haus der Briefe. Autoren schreiben Ernst Jünger 1945-1991“ nachlesen kann. 1991 schreibt der Leiter des Literaturblatts der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nach Wilflingen, das Werk Jüngers sei ein „Dokument der Weltliteratur“, um herauszustreichen: „Oft weiß man nicht, was man mehr bewundern soll, den intellektuellen Gehalt oder die Disziplin und Konsequenz einer Lebensführung, die über Jahrzehnte sich selbst treu blieb.“

Neuerdings aber läuft man wieder einmal zu ganz neuer Form auf, um diesen Autor mit unlauteren Suggestionen sogar fast schon zu so etwas wie einem „Antikriegs“-Autor zu machen, und eben nicht nur in Marbach. Jörg Magenau etwa folgte dieser allgemeinen Stimmung prompt, als er in seiner Rezension von Kiesels neuer Tagebuch-Edition, die in der „taz“ erschien, diese dreiste Verkehrung der Tatsachen ohne Weiteres nachvollzog: „Die Kriegstagebücher sind – wie auch ‚In Stahlgewittern‘ – ein grandioses Antikriegsbuch, auch wenn das der Absicht ihres Verfassers zuwider läuft.“

Es sind immer wieder die gleichen absurden Denkfiguren, die gleichen rhetorischen Taschenspielertricks für die Freunde philologischer Tatsachenverkehrungen: „Ernst Jünger war in Wahrheit ein gelassener, postmoderner Autor, auch wenn man das seinen Texten überhaupt nicht anmerken kann.“ Oder: „Tatsächlich war Jünger ein geheimer Antikriegsautor, obwohl er die ganze Welt in seinen Büchern in Schutt und Asche gelegt sehen wollte.“

Auch Kiesel stößt uns in seinem – vom Feuilleton bereits erwartungsgemäß als überaus luzide gelobten – Nachwort zur Erst-Edition des sagenumwobenen Schützengraben-Diariums Jüngers gleich zu Beginn mit der sensationellen Erkenntnis vor den Kopf: „Wie aus dem Tagebuch hervorgeht, zog Jünger nicht etwa aus nationaler Begeisterung in den Krieg, sondern um der Schule zu entkommen.“ Es war also alles bloß eine Folge kindlicher Abenteuerlust? Natürlich nicht – denn nur um aus dem Gymnasium zu türmen, macht keiner begeistert beim größten Menschenschlachten der bisherigen Geschichte mit, lässt sich sieben Mal verwunden, protokolliert die eigenen Mordtaten auch noch stolz für die Nachwelt und betont am Ende seines Tagebuchs ausdrücklich, dass er mehr „Nationalgefühl“ als mancher andere besessen habe: „Ich bin im Geiste des Preußischen Offizierskorps erzogen und mit Leib und Seele Soldat.“

Entsprechend hilflos laviert Kiesel denn auch in seinem eigenwilligen Kommentartext herum. Es wirkt alles andere als überzeugend, wenn er Jünger einerseits „nach traditionellen europäischen Vorstellungen“ ganz „zweifellos“ als „Held“ qualifiziert, andererseits aber auch einräumen muss, dass der Autor zugleich „ein ‚Funktionär‘ jener Institution“ gewesen sei, „die Millionen von Männern mit notfalls brutalen Mitteln dazu zwang, ihr gewohntes Leben und lang gepflegte Vorstellungen von Sittlichkeit aufzugeben, zu töten oder sich töten zu lassen, Zivilisten zu verjagen und ganze Landstriche zu verwüsten“. Wenn man schon Kategorien wie das „Heldentum“ im Zusammenhang mit diesem Krieg überhaupt noch erwähnen will, so entsprach ihm Jünger bestimmt nicht nach „traditionellen europäischen“ Kategorien – sondern allein nach denen der deutschen Totenkopf-Ideologie, deren Maximen er ganz offensichtlich von Anfang an bedingungslos folgte.

Tatsächlich demonstriert Jüngers Tagebuch unmissverständlich, welchen ‚Spaß‘ sein Autor als vorbildlicher Vorkämpfer am Krieg gehabt haben will und vielleicht sogar wirklich hatte – je nachdem, welchen Grad von Selbstinszenierung man in diesen unmittelbaren Alltagsbeschreibungen von vorderster Front anzunehmen für nötig hält. Die Entbehrungen des Kriegs halten sich Jüngers Darstellungen zufolge jedenfalls in engen Grenzen: Beinahe auf jeder Seite dieses Tagebuchs ist von fröhlichen Besäufnissen mit erlesenem Sekt, Wein, Bier und Rum die Rede, es gibt ständig ausgiebige Austern-Festessen hinter der Front, wobei die sich anschließenden „Orgien“ oft nur lakonisch angedeutet werden oder ihren Widerhall in plötzlich verschämt in französischer Sprache eingestreuten Befürchtungen finden, der Diarist könne sich mit der Syphilis oder dem Tripper infiziert haben.

Es ist sicherlich anzunehmen, dass in diesen zeitnahen Eintragungen Jüngers keineswegs nur der Anspruch von „Authentizität“, sondern bereits der bewusste Versuch der heroischen Selbststilisierung dominierte. Dennoch frappiert, wie viel Glück dieser Mann gehabt haben muss, der schließlich über hundert Jahre alt wurde und uns auch nach 1945 mit unzähligen weiteren Selbststilisierungen martern konnte, in denen nicht einmal Spurenelemente eines schlechten Gewissens aufscheinen. Paradigmatisch ist da eine vergleichsweise harmlose Radfahrer-Stelle aus dem „Tagebuch 1914-1918“: „Auf dem Wege nach Becquigny fuhr ich leichtsinnigerweise einen steilen Weg hinunter, ohne an die Lenkstange zu fassen. Das Rad hüpfte über einen Stein, machte rechts um und ich sauste mit wahnwitziger Geschwindigkeit in den Dreck. Ein Bauer kam herbeigesprungen: ‚Etes-vous blessé, Monsieur?‘, aber ich war schon wieder aufgesprungen.“

So ist es dauernd: Direkt neben Jünger krepieren die fettesten Granaten, er betastet danach meist nur kurz und erstaunt seinen Körper und stellt fest, dass zwar um ihn herum alle tot, er aber einmal wieder unverletzt geblieben ist. „Als ich vor der Tür stand […], platzte über mir ein Schrapnell und ich hatte das Vergnügen in dem pfeifenden Sprengkegel zu stehen, ohne dass mich eine Kugel traf. Am Mittag aß ich mit Boje Rindfleisch im eigenen Saft und Kartoffen [sic!].“ Das Sterben der Anderen beschreibt der Beobachter derweil mit seinem auch hier schon betont kalten Blick: „Ein Mann bricht plötzlich blutüberströmt zusammen. Kopfschuß.“ Und zack, „man wirft einige Schaufeln voll Sand über die Blutlache und es wird gescherzt und gelacht wie vorher“. Es scheint ihn wirklich nichts zu berühren, nichts zu traumatisieren.

Dabei ist es richtig, dass im Tagebuch sogar Momente des Zweifels am Krieg aufscheinen, die in der fiktionalen Überarbeitung von 1920 rigoros getilgt wurden und den Leser zunächst aufhorchen lassen. So notiert Jünger am 1. Dezember 1915 überraschenderweise, es scheine ihm, dass die „Kultur und alles Große langsam vom Kriege erstickt“ werde: „Der Krieg hat in mir doch die Sehnsucht nach den Segnungen des Friedens geweckt.“ Sofort im nächsten Satz ruft sich der militaristische Autor allerdings schon wieder streng zur Ordnung: „Doch genug der Waschstubenphilosopie! […] Es geht ins Gefecht, das wird wieder einmal gut tun.“

Wohltuend ist da die analytische Redlichkeit, mit der Helmuth Lethen dieses Buch gelesen hat. Im Gespräch mit dem Kurator Schlak, das man im Marbacher Katalog nachlesen kann, weist er immer wieder auf solche entlarvenden Textstellen hin und widerspricht damit freundlich den subtilen Versuchen seines Gegenüber, eine Revision des bislang vorherrschenden Jünger-Bilds nahezulegen. „Wie können normale Männer so etwas tun?“, lautet die übliche Frage, die man sich seit Christopher Brownings 1992 erschienener Studie über „Ganz normale Männer“ im NS-Vernichtungskrieg und der „Wehrmachtsausstellung“ (1995) immer wieder gestellt hat. Stattdessen beschließt der junge Historiker Schlak sein Gespräch mit der wohl provokant gemeinten Frage: „Können wir Ernst Jünger 2010 in die Zone der Empfindsamkeit entlassen?“

Lethens knappe Antwort darauf ist gleichzeitig ein gutes Schlusswort für den vorliegenden Artikel – auch wenn sie nur den Anfang eines notwendigen Nachdenkens markiert, dem man in Marbach eher mit geschmäcklerischen Inszenierungen aus dem Weg gegangen ist: „Nein. Aber wir sollten die Abgründigkeit seines Menschenbilds in unsere Anthropologie einbürgern.“

Anmerkung der Redaktion: Eine stark gekürzte Version des Essays erschien bereits in KONKRET 12/2010. Die oben abgebildeten Fotografien wurden dankenswerterweise (in chronologischer Reihenfolge von oben nach unten gezählt) von Marion Malinowski (1,2,3,6,7) und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (4,5,8) zu Verfügung gestellt. Für den erhellenden Hinweis auf den Beitrag von Eugen Gürster-Steinhausen dankt der Autor Hans-Joachim Hahn (Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig).

Titelbild

Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie.
Siedler Verlag, München 2007.
717 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783886808526

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Stephan Schlak / Heike Gfrereis / Detlev Schöttker / Ellen Strittmatter: Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2010.
283 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783937384696

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Titelbild

Heimo Schwilk (Hg.): Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
336 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783608938425

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Titelbild

Im Haus der Briefe. Autoren schreiben Ernst Jünger 1945-1991.
Herausgegeben von Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Anja S. Hübner.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
151 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783835308664

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Titelbild

Helmuth Kiesel (Hg.) / Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914-1918.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
450 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783608938432

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