Der arme Mann und der Sex

Banales Leben der Bohème in Geoff Dyers "Paris XTC"

Von Dirk FuhrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Fuhrig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer den "deutschen" Titel dieses Werks entschlüsselt hat, wird zwangsläufig ein Stück Techno-Literatur erwarten: "Paris XTC" - im englischen Original "Paris Trance" - gibt sich ganz dem Zeitgeist verschrieben, beschwört Massenglück im Rhythmus der Love Parade und drogenreich durchtanzte Nächte.

Klingt gut und soll sich unter dem Label jung und hip verkaufen, unterstüzt durch Klappen-Zitate wie "Tender is the night für das Ecstasy-Zeitalter" oder "Die Stimme seiner Generation". Wer diese Sätze geschrieben hat, kann das Buch nicht gelesen haben - das eine ungemein biedere, konventionelle und konventionell erzählte Liebesgeschichte ist, in der Drogen oder Ähnliches überhaupt nur deshalb eine Rolle spielen, weil sonst die Überschrift nicht zu rechtfertigen wäre. Wir haben hier den kuriosen - und nicht einmal seltenen - Fall eines Texts, bei dem auf dem Schutzumschlag der einzige originelle Gedanke steckt. Überhaupt scheint es so gewesen zu sein, dass der Autor lediglich den effektvoll-fashionablen Titel vor Augen hatte und dann 270 Seiten vollschrieb, die zwar in der Tat in Paris spielen, aber so gut wie nichts mit einem Lebensgefühl der Jahrtausendwende zu tun haben.

All das wäre nicht schlimm - manchmal dürfen Headlines lügen, um Leser zu verführen -, wenn das Werk es wert wäre, auf diese Weise unter die Leute gebracht zu werden. Leider ist Geoff Dyers Roman jedoch von der ersten bis zur letzten Zeile eine Mogelpackung. Ein Stück Banalität, das seine inhaltliche und stilistische Dürftigkeit hinter ein paar Fetzchen Existentialismus (wir sind in Frankreich!) und einigen Hemingway-Anspielungen (der arme Mann und der Sex) zu verbergen sucht. Hinzu kommt eine Übersetzung, die sich ungelenk bemüht, einen vagen Jugendjargon zu imitieren. Dafür ist dem Übersetzer Matthias Müller nichts Dümmeres eingefallen als die unmotivierte Verwendung des Dativs anstelle des Genitivs, sofern man dies tatsächlich als Absicht interpretieren mag.

Zwei junge Englishmen in Paris, Alex und Luke, werden Freunde, arbeiten zusammen in einem Versandlager und geben sich in den Mittagspausen der Leidenschaft des Fußballspiels auf hartem Straßenpflaster hin. Später wird Fußball durch Tischtennis-, Kletter- oder Bierflaschen-mit-dem Daumen-Öffnen-Wettkämpfe ersetzt, in denen die beiden ihre Männlichkeit unter Beweis stellen. Soviel zur spätpubertären Leitmotivik des Buchs.

Weil Luke so ein guter Kicker ist, fallen die bewundernden Blicke der schönen Nicole auf ihn, bald sind sie ein Paar und hausen in einer pittoresken Wohnung im elften Pariser Arrondissement. Dieses Viertel im Osten der französischen Hauptstadt, in den neunziger Jahren zum In-Platz der Künstler und Partyleute geworden, dient dem Autor als wohlfeile Kulisse für ein Leben der Bohème, das traditionellerweise - und in dem Roman "Fiesta" von Ernest Hemingway, auf den Dyer an etlichen Stellen referiert - an den Hängen des Montmartre angesiedelt war. Luke ist nämlich nicht nur Lagerarbeiter, sondern ein verkappter Künstler, der mit der nicht sonderlich ausgefallenen Idee nach Paris kam, dort ein Buch zu schreiben. Das gelingt ihm natürlich nicht, da er sich im Tran des Alltags verstrickt, sich mit dem leichten Broterwerb unter der laxen Aufsicht seines cholerisch-sympathischen Chefs (ach, die Franzosen!) zufrieden gibt und ansonsten vor allem mit Freundin und Freunden im Café oder in Bars herumsitzt.

In einer "Vorbemerkung" raunt der Autor vielsagend: "Zwischen dem Ort, der auf den folgenden Seiten als Paris bezeichnet wird, und der französischen Stadt dieses Namens besteht nur eine vage und eher zufällige Ähnlichkeit." Damit versucht er eine falsche Fährte zu weisen, weg von den scheinbaren Äußerlichkeiten eines bestimmbaren literarischen Orts und hinein in ein Koordinatensystem für das Leben und für die Kunst. Auf jeder Seite ist die Anstrengung zu spüren, den Allerweltsgestalten Luke und Nicole, Alex und dessen Freundin Sahra so etwas wie Tiefe und Geheimnis zu geben. Viele Sätze atmen schwer an ihrer Bedeutung: "Gehen wir die Gleise entlang. - Was meinst Du, wo die hinführen? - In dieser Welt gibt es nur einen Weg, den du entlanggehen kannst. Wo führt er hin? Frag nicht: Geh ihn."

In der bis zum Überdruss detaillierten Darstellung alltäglicher Vorgänge, vom Obsteinkauf über das Zuschrauben von Senfdosen bis zum Abwasch, soll so etwas wie ein metaphysischer Funke auftauchen. Dyer zeigt seine Figuren bei ihren intimsten Verrichtungen, sei es beim Streit über Bettdecken-Anteile und unordentliche Schubladen, sei es beim Verrichten der Notdurft. Der Nach-Duft einer weiblichen Darmentleerung wird für Alex zu einem süßen Parfum, womöglich berauschender als Ecstasy. Sex findet vornehmlich in Form des vermeintlich Provozierenden statt: Nach einem Analverkehr zwischen Luke und Nicole wird die Frage gestellt, ob der Schwanz auch sauber blieb; beim gemeinsamen Wasserlassen werden scheinbare Hardcore-Fantasien heraufbeschworen, die wohl als Verbeugung vor der Altherren-Erotik des Vorbilds Hemingway gemeint sind.

Genauso kleinbürgerlich wie ihr Liebesleben ist der Umgang der Protagonisten miteinander. Zwar handelt es sich um junge Leute Mitte der Zwanziger, doch verhalten sie sich wie alternde Paare nach der dritten Eheberatung. Die Männer sind für die Hahnenkämpfe zuständig, die Frauen sitzen im Auto hinten. Überhaupt wird viel verreist in diesem Buch. Bei den zwei Pärchen-Partien in die Umgebung von Paris kommt die Sinn-des-Lebens-Frage dann so richtig auf den groben Landhaus-Tisch, in Form von gruseligen Wanderungen im Nebel und im Kontakt mit den Schrecken der Natur: Ein armes Reh verblutet vor aller Augen in einer Jagdfalle - ein Ausflug ins Survival-Camp, eine Art Manager-Kontrastprogramm zur abstumpfenden Urbanität. Selbsterfahrungs-Kitsch, nicht mehr.

"Paris XTC" ist der erste Roman Geoff Dyers, der auf Deutsch erschienen ist. Vor zehn Jahren hat der 1958 geborene Autor ein Buch über das Leben im Londoner Stadtteil Brixton geschrieben, danach eins über das Leben mit dem Jazz und eins über das Leben von D. H. Lawrence. "Paris XTC" ist der Versuch, die zum Scheitern verurteilten Lebensentwürfe einer Generation zu beschreiben, die solche Entwürfe nicht hat. Daran ist Dyer gescheitert mit diesem viel sagen wollenden und doch so unendlich nichtssagenden Buch, das kaum inhaltliche und keinerlei sprachliche Reize besitzt: Ekstase für Arme.

Titelbild

Geoff Dyer: Paris XTC. Roman. Aus d. Engl. v. Matthias Müller.
Argon Verlag, Berlin 2000.
270 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3870244925

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