Müdigkeitsgesellschaft

Byung-Chul Han über Depression, Burn-Out und ADHS als Leitkrankheiten unserer Zeit

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Jedes Zeitalter hat seine Leitkrankheiten“, stellt der Philosoph Han im ersten Satz seines nur rund 70.000 Zeichen kurzen Essays fest. Hatten wir es im vergangenen Jahrhundert mit Erkrankungen durch die Infektion mit Bakterien und Viren zu tun, entstehen die „Leitkrankheiten“ des 21. Jahrhunderts in unserem Nervensystem: Depression, Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität, Burn-Out. Han nennt sie nicht „psychisch“, sondern „neuronal“.

Aber sie wären keine Leitkrankheiten, entsprächen ihnen nicht auch gesellschaftliche Muster: Das „immunologische“ 20. Jahrhundert der Viren und Bakterien basierte auf einer scharfen Trennung zwischen dem gesunden Innen und dem feindlichen Außen; politisch: dem Kalten Krieg. Die „neuronale Gewalt“ unserer Zeit entstehe dagegen aus einem „Zuviel des Gleichen“, aus einem „Terror der Immanenz“; politisch: der Globalisierung.

Es handelt sich Han zufolge um den Übergang von der Foucault’schen Disziplinargesellschaft, charakterisiert durch „Spitäler, Irrenhäuser, Gefängnisse, Kasernen und Fabriken“, zu unserer heutigen Leistungsgesellschaft mit ihren „Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors“.

Als treibende Kraft dieser Transformation versteht Han plausiblerweise den Wettbewerb mittels Produktivitätssteigerung: Gegenüber dem Befehle empfangenden und ausführenden „Gehorsamssubjekt“ ist das sich selbst ausbeutende „Leistungssubjekt“ ökonomisch wesentlich effektiver.

Es bleibe zwar der Disziplin verpflichtet; seine Überforderung rühre aber nicht mehr von äußeren, sondern von verinnerlichten Maßstäben her: „An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor.“

Wer unter die Räder der Leistungsansprüche komme, reagiere mit „destruktivem Selbstvorwurf“ und „Autoaggression“, werde mithin depressiv. „Das Leistungssubjekt befindet sich mit sich selbst im Krieg. Der Depressive ist der Invalide dieses internalisierten Krieges.“

Han ergänzt diese Diagnose: Das Leistungssubjekt, dem jeglicher, das „nackte Arbeiten“ transzendierende „Sinnhorizont“ fehle, sei einem Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen hilflos ausgesetzt. Struktur und Ökonomie der Aufmerksamkeit veränderten sich dadurch radikal, die Wahrnehmung werde „fragmentarisiert und zerstreut“. Die für Kulturleistungen unabdingbare Fähigkeit zur tiefen Aufmerksamkeit gehe verloren.

Parallel zur Wahrnehmung fragmentarisiere sich auch das Soziale mit der Folge von Vereinzelung und „Bindungsarmut“. „Die Sorge um das gute Leben, zu dem auch das gelingende Zusammenleben gehört, weicht immer mehr der Sorge ums Überleben.“

Nach diesen, wenn auch nicht neuen, so doch relevanten Thesen fällt der Text zum Ende hin stark ab und mündet schließlich in eine blumig-verklärte Rezeption von Peter Handkes „Versuch über die Müdigkeit“ (1989). Dort findet sich in der guten „fundamentalen Müdigkeit“ all das Menschliche versammelt, das in der hektischen Aktivgesellschaft untergeht. „Diese Müdigkeit stiftet eine tiefe Freundlichkeit und macht eine Gemeinschaft denkbar, die weder der Zugehörigkeit noch der Verwandtschaft bedarf. Menschen und Dinge zeigen sich verbunden durch ein freundliches Und.“ Und die Müdigkeit kann noch mehr: „Sie stiftet den Geist.“ Wirklich? Jedenfalls will die quasi-religiöse Utopie der friedlich-vereinigenden Müdigkeit mitsamt ihrem schöpferischen Tiefenpotential so gar nicht zu den scharfen soziologischen Befunden des Anfangs passen.

Hans Text offenbart weitere, teilweise grundlegende Schwächen. Die „Leistungsgesellschaft“ bringt ihre Leitkrankheiten kausal (mit) hervor: Depression, Burn-Out, AHDS sind Folge des heiß- und zugleich leerlaufenden „Imperativs der Leistung“. Wie aber liegt der Fall bei viralen und bakteriellen Infektionen, den vermeintlichen Leitkrankheiten der „Disziplinargesellschaft“ bis 1989? Keiner wollte ernsthaft behaupten, die Gebote der Disziplinargesellschaft würden Virusinfektionen verursachen. Es handelt sich also um einen metaphorischen Bezug, nicht um einen kausalen. Han verwendet „bakteriell“ und „neuronal“ jedoch als gleichwertige Attribute. Offenbar hat er seine eigene Begrifflichkeit der „Leitkrankheiten“ gedanklich nicht durchdrungen, was bereits den Ausgangspunkt des Essays in Schieflage bringt. Erstaunlich, dass dies dem größtenteils begeisterten Feuilleton (ZEIT, FR, FAZ) anscheinend verborgen blieb.

Überhaupt: Müsste nicht der Gebrauch von medizinisch-pathologischen Metaphern selbst als veränderlich reflektiert werden? Dann würde sich eventuell auch die von Han im Begriff „neuronal“ stillschweigend vorgenommene Naturalisierung der eigentlich psychischen Krankheiten erhellen. Schließlich bezeichnet die Medizin mit „neuronal“ üblicherweise Krankheiten des zentralen Nervensystems wie beispielsweise Alzheimer.

Ungeachtet eigener argumentativer Unschärfen (Wieso ist Leistung das „neue Gebot“, wo doch gerade festgestellt wurde, dass die neue Gesellschaft nicht mehr über disziplinarische Gebote und Verbote funktioniere?) kanzelt Han rigoros einige der Größen seines Faches ab. Es entsteht der unangenehme Eindruck, manche Autoren würden überhaupt nur erwähnt, um sie anschließend mit möglichst großspuriger Geste abzutun. Vor allem gegenüber Hannah Arendt lässt Han eine maßvolle, differenzierte Haltung völlig vermissen. Und die würde einem Autor gut zu Gesicht stehen, der zwar den Mut zum apodiktischen Stil beweist, dem aber dabei Schmunzel-Sätze unterlaufen wie dieser: „Dem gesellschaftlich Unbewussten wohnt offenbar das Bestreben inne, die Produktion zu maximieren.“

Abstrus wird Hans „Viel Feind, viel Ehr‘“-Spielchen dann im Fall von Alain Ehrenberg. Aus dessen Studie „Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart“ bezieht Hans Essay mehr wichtige Einsichten, als in Anführungszeichen gesetzt sind. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, Ehrenberg auf nicht nachvollziehbare oder im besten Fall haarspalterische Weise zu kritisieren.

Dass Ehrenberg einen übermäßigen Anspruch an die persönliche „Verantwortung und Initiative“ des Subjekts als Depressionsursache erkennt, findet Han irrig. Nur warum? Er selbst schreibt schließlich, „Projekt, Initiative und Motivation“ brächten „Depressive und Versager“ hervor. Auch seine durchaus plausible Feststellung, der „Exzess der Arbeit“ ginge mit einem „Gefühl der Freiheit“ einher, spricht doch sehr für Ehrenbergs Hinweis auf die subjektiv empfundene Verantwortung.

Hans selbstbewusster Gestus verliert auch im Weiteren hin und wieder die Bodenhaftung: Wie ist etwa zu verstehen, das Subjekt der Gegenwart sei „ frei von äußerer Herrschaftsinstanz, die es zur Arbeit zwingen oder gar ausbeuten würden“, „Täter und Opfer“ seien bei der Ausbeutung „nicht mehr unterscheidbar“? Auf welche Arbeitswelt soll diese erstaunliche Feststellung zutreffen?

Das Fazit zu „Müdigkeitsgesellschaft“ fällt somit durch und durch zerrissen aus. Manches an dem Text ist eine Zumutung, einiges ist unscharf, anderes Elfenbeinturm-Gemurmel. Und doch ist zumindest die erste Hälfte des kurzen Essays gesättigt an pointierten Thesen, die ungemein bezeichnend für unsere Zeit und daher lesens- und bedenkenswert scheinen.

Titelbild

Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010.
68 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783882216165

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