Sigmund Freud

Ein Klassiker der Literaturtheorie

Von Joachim PfeifferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Pfeiffer

1. Leben

Sigmund Freud verbrachte den größten Teil seines Lebens in Wien. Am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg (Mähren) geboren, zog er im Jahr 1860 mit seiner Familie vom Land in die Metropole – in die Stadt jener Moderne, zu deren Entfaltung er selbst wesentlich beitrug. Die geistige Atmosphäre der ‚Wiener Moderne’, die vor allem von Kunst, Literatur und Philosophie getragen wurde, gab den Nährboden ab für die „Revolution der Psychoanalyse“, die sich den konservativ-klerikalen Strömungen, dem fanatischen Nationalismus ebenso wie dem Judenhass der damaligen Zeit mutig entgegenstellte. Es war gerade die Gegensätzlichkeit Wiens zwischen fortschrittlichem Liberalismus (der den Juden volle Bürgerrechte gewährte) und geistiger Repression, die Freuds Produktivität antrieb. „Wenn ich die höheren Mächte nicht beugen kann, werde ich die Unterwelt aufwühlen“: Dieses Vergilzitat, als Motto der Traumdeutung (1900) vorangestellt, steht für Freuds unbeugsamen Willen zum Wissen, mit dem er die psychologischen und anthropologischen Gewissheiten seiner Zeit erschütterte.

Freud studierte Medizin, bekam als glänzender Student eine wissenschaftliche Anstellung in einem physiologischen Labor (bei Ernst Brücke), schrieb seine Promotion (1881) und Habilitation (1885). Die Kontakte mit Jean-Martin Charcot in Paris und mit Josef Breuer in Wien führten zu den Hysteriestudien, dem Ursprungstext der Psychoanalyse (sie wurden als erste Abhandlung der Psychoanalyse von Breuer und Freud im Jahr 1895 veröffentlicht). Die erhoffte Professur an der Wiener Universität blieb ihm bis an sein Lebensende versagt. Dazu waren seine Ideen zu unzeitgemäß und der Antisemitismus, der seit dem Börsenkrach von 1873 neue Nahrung erhalten hatte, zu mächtig. Freud eröffnete eine nervenärztliche Praxis, die ihm den Lebensunterhalt sicherte. Zugleich war sie die Erkenntnisquelle vieler seiner Schriften, in denen er sich immer mehr aus dem Bannkreis der Medizin entfernte und, ausgehend von dem Begriff des ‚Unbewussten’, eine neue kritische Theorie des Menschen entwarf, die er am Modell des ‚psychischen Apparats’ konkretisierte: Das Unbewusste, das psychische Produktionen oft sinnlos erscheinen ließ, erwies sich nicht nur als Triebkraft ‚kranker’ Verhaltensweisen, sondern der menschlichen Psyche überhaupt. Die Einsicht, dass „das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“, bezeichnete Freud als dritte schwere Kränkung, die – nach Kopernikus und Darwin – die Wissenschaft dem Menschen zugefügt habe. Mit der Traumdeutung (1900) und den Schriften Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) und Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905) begründete er eine neue Verstehenslehre, die die (unbewusste) Dynamik des Seelenlebens und dessen Kompromissbildungen zu begreifen versuchte. Diese Theorien ergänzte Freud immer wieder in kulturtheoretischen Schriften, die den Ursprung und die Entstehung von Kultur – und deren mögliches Scheitern – kritisch reflektierten.

Das Jahr 1910 markierte einen ersten Höhepunkt der psychoanalytischen Bewegung: Unter Mithilfe Freuds wurde in Nürnberg die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet. Damit war die Wissenschaft vom Unbewussten auch institutionell etabliert. Freud kämpfte von Anfang an darum, das Anwendungsspektrum dieser Grundlagenwissenschaft nach möglichst vielen Seiten hin auszuweiten: Die medizinisch-therapeutische Praxis war für ihn nur eine Umsetzungsmöglichkeit unter anderen; außerklinische Anwendungen im Bereich der Literatur, bildenden Kunst, Religionswissenschaft, Mythenforschung, Ethnologie und Soziologie erachtete er von vornherein als der medizinisch-therapeutischen ebenbürtig.

1938 emigrierte Freud, immer mehr bedroht durch den Nationalsozialismus, nach London, wo er etwa ein Jahr später, am 23. September 1939, starb. So blieb ihm das Schicksal von vier seiner Schwestern erspart, die in Konzentrationslagern ums Leben kamen.

2. Werk

Für Freud war die Kulturtheorie nicht ablösbar von den klinischen und metapsychologischen Aspekten seiner Lehre; im Grunde betrachtete er sie als Anfang und Ziel seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Welch große Rolle die Beschäftigung mit kulturtheoretischen Fragen in seinem Forscherleben spielte, wird aus dem Nachtrag zu seiner „Selbstdarstellung“ ersichtlich: „Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten. Bereits mitten auf der Höhe der psychoanalytischen Arbeit, im Jahre 1912, hatte ich in ‚Totem und Tabu’ den Versuch gemacht, die neu gewonnenen analytischen Einsichten zur Erforschung der Ursprünge von Religion und Sittlichkeit auszunützen. Zwei spätere Essays ‚Die Zukunft einer Illusion’ 1927 und ‚Das Unbehagen in der Kultur’ 1930 setzten dann diese Arbeitsrichtung fort.“

Das Unbewusste ist für Freud nicht nur eine Dimension des Individuums, es beeinflusst auch die kulturellen Entwicklungen, die sozialen Prozesse und die künstlerischen und intellektuellen Schöpfungen. Deswegen berührt die Psychoanalyse auch andere Zweige des Wissens. Die epochale Bedeutung seiner Theorien kommt in der These Michel Foucaults zum Ausdruck, Freud gehöre zu den wenigen „Diskursivitätsbegründern“ des 19. und 20. Jahrhunderts. Foucault versteht darunter Autoren, die neue Redeordnungen als Ursprung unbegrenzter Möglichkeiten des Diskurses begründen – in einem ‚Gründungsakt’, der nicht in den späteren Transformationen aufgeht, sondern heterogen zu ihnen bleibt (darin unterscheiden sie sich von den ‚Wissenschaftsbegründern’ wie Galileo Galilei oder Gregor Mendel): „So wird verständlich, warum man in solchen Diskursivitäten auf die Forderung nach ‚einer Rückkehr zum Ursprung’ als unumgänglicher Notwendigkeit stößt.“ Die Wissenschaft beziehe sich in solchen Fällen auf das Werk ihres Begründers „wie auf primäre Koordinaten“.

2.1 Zwischen szientistischem und hermeneutischem Ansatz

Trotz der großen kulturtheoretischen Bedeutung dieses ‚Gründungsaktes’ haben die Geisteswissenschaften – und vor allem die Germanistik – zunächst eher ablehnend auf Freuds Theorien reagiert. Ein Grund dafür liegt in der seltsamen Ungleichzeitigkeit, die die Entwicklung der Geisteswissenschaften und der Psychoanalyse um die Wende zum 20. Jahrhundert kennzeichnet: Als Freud die Grundlagen zu seinem Theoriegebäude legte, befreite sich die Literaturwissenschaft gerade vom naturwissenschaftlichen Anspruch des Positivismus und griff die diltheysche Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften auf, die den Naturwissenschaften das „Erklären“, den Geisteswissenschaften das „Verstehen“ zuordnete. Diltheys Bemühungen standen quer zu den Versuchen der Literaturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sich in ihrem methodischen Vorgehen die objektivierenden Methoden der Naturwissenschaften anzueignen und sich als strenge Wissenschaft zu etablieren. Es war vor allem Wilhelm Scherer (1841-1886), der sich in der Literaturwissenschaft an naturwissenschaftlicher Methodik orientierte und die Beschränkung auf die Erforschung von Kausalzusammenhängen (insbesondere Biographik, Quellenforschung) einforderte: Eine Totalerkenntnis des literarischen Werks sei durch Ursachenanalyse möglich. Das starke Interesse der frühen Psychoanalyse an der Biographik dürfte auch in den Paradigmen des Positivismus begründet sein, der in der Erforschung biographischer Determinanten einen Weg der Annäherung der Geistes- an die Naturwissenschaften erblickte.

Um 1900, als Freuds Traumdeutung erschien, begannen sich die Geisteswissenschaften vom Positivismus abzusetzen; die Verstehenslehre Diltheys, die von der unüberwindbaren Subjektivität des Verstehensaktes ausging („Erleben“), hatte sich durchgesetzt. Freuds Entscheidung für einen szientistischen (also an den Naturwissenschaften orientierten) Wissenschaftsbegriff musste daher auch wissenschaftstheoretisch die Psychoanalyse in Distanz zu den Geisteswissenschaften bringen. Sein Versuch, „die Psychologie auf einer ähnlichen Grundlage aufzubauen wie jede andere Naturwissenschaft“, mag man, so Jürgen Habermas, als „szientistisches Selbstmissverständnis“ der Psychoanalyse bezeichnen; das Unbewusste jedenfalls lässt sich weder vermessen noch berechnen, es ist nur mittelbar – vor allem über die Sprache – zugänglich. Das wissenschaftstheoretische Dilemma konnte Freud nicht wirklich auflösen; sein Denken schwankte immer wieder zwischen objektivierenden szientistischen und hermeneutischen Ansätzen. Er selbst war sich dieses Problems von Anfang an bewusst, wenn er in den Hysteriestudien konstatiert, „daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Relationen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehendere Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen.“

Die Einsicht, dass auch die psychoanalytische Kur vor allem über sprachliche Rekonstruktionen verlaufe, veranlasste Freud dazu, psychische Störungen nicht mehr als „Krankheitsbilder“, sondern als „Fallgeschichten“, als narrative Konstruktionen zu erfassen. Sind Freuds Fallgeschichten „wie Novellen“ zu lesen, so ist die Psychoanalyse wesentlich eine „Deutungskunst“ und muss in diesem Sinn „des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“. Im Grunde arbeitete Freud sich sein Leben lang an dem Versuch ab, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, Physiologie und Psychologie, Körper und Psyche zu überbrücken. Dass hier die Wissenschaft durchlässig wird für „Novellistik“, dass sie also die Grenze zwischen wissenschaftlicher und literarischer Sprache durchbricht, ist ein durchaus moderner Aspekt von Freuds Lehre.

2.2 Die Erforschung des Unbewussten

Mit seiner Traumdeutung, die 1900, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, erschien (Freud datierte sie um ein Jahr vor), affirmiert sich die Psychoanalyse als hermeneutische Wissenschaft und bekräftigt zugleich die Überzeugung, dass die Subjektivität des Träumenden konstitutiv in den Verstehensprozess mit eingeht: Die Deutung des Traums ist „nur mit Hilfe der Assoziationen, die der Träumer selbst zu den Elementen des manifesten Inhaltes liefert“, befriedigend durchzuführen.

Die umfangreiche Studie, in die Freud viele seiner eigenen Träume aufgenommen hat, ist nicht nur ein Stiftungstext der Psychoanalyse, sondern auch ein methodologischer Referenztext der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Im VII. Kapitel der Traumdeutung führt Freud das Unbewusste als psychoanalytischen Grundbegriff ein – mit weit reichenden Folgen. In seiner Theorie ist dieses Unbewusste am Schnittpunkt zweier Traditionen angesiedelt: einer materialistischen Denktradition einerseits (die ‚mechanistisch’ mit verschiebbaren Energiequanten rechnet) und einer Philosophie des Psychischen, die im Grunde geisteswissenschaftlich-hermeneutisch orientiert ist. Durch freie Assoziationen zu den Elementen des „manifesten Trauminhalts“ (d.h. des erinnerten Traums) kann der Weg zu den „latenten Traumgedanken“ gebahnt werden, die durch die „Traumarbeit“ entstellt wurden.

Es ist für die Literaturwissenschaft von besonderem Interesse, dass Freud diese Traumarbeit vor allem auf sprachliche Prozesse zurückführte: die der Verdichtung und Verschiebung, der Metaphorisierung und Metonymisierung, der Rücksicht auf Darstellbarkeit, der sekundären Bearbeitung. Im VII. Kapitel der Traumdeutung („Zur Psychologie der Traumvorgänge“) schreibt Freud: „Die gleiche Würdigung haben wir bei der Traumdeutung jeder Nuance des sprachlichen Ausdrucks geschenkt, in welchem der Traum uns vorlag; ja, wenn uns ein unsinniger oder unzureichender Wortlaut vorgelegt wurde, als ob es der Anstrengung nicht gelungen wäre, den Traum in die richtige Fassung zu übersetzen, haben wir auch diese Mängel des Ausdrucks respektiert. Kurz, was nach der Meinung der Autoren eine willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammengebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text.“

Die scheinbaren „Mängel des Ausdrucks“, die willkürlich „zusammengebraute Improvisation“ wie einen heiligen Text behandeln: Das Interesse für das scheinbar Sinnlose bildet offensichtlich eine wichtige Voraussetzung für Freuds Verstehenslehre. Auch in seiner Abhandlung Das Unbewußte (1915) verteidigt und rechtfertigt er den Begriff des Unbewussten – und seinen Versuch, das Sinnlose verständlich zu machen: „Gewinn an Sinn und Zusammenhang ist aber ein vollberechtigtes Motiv, das uns über die unmittelbare Erfahrung hinaus führen darf“. Allerdings führt dieser hermeneutische Ansatz zugleich zu einer Dezentrierung des Sinns und einer Entmächtigung des Bewusstseins, da nun der Ort des Sinns sich vom Bewusstsein zum Unbewussten hin verlagert. Paul Ricœur bezeichnet diese Wende als „anti-phänomenologisch“: „das Bewußtsein hört auf, das am besten Bekannte zu sein, und wird selber problematisch; nunmehr besteht ein Problem der Bewußtheit, des Bewußtwerdens, anstelle der sogenannten Evidenz des Bewußtseins. Diese Anti-Phänomenologie nun muß uns selbst als eine Phase der Reflexion erscheinen, als das Moment ihrer Entblößung. Der topische Begriff des Unbewußten ist dann das Korrelat dieses Nullpunktes der Reflexion.“

Freud hat den modellhaften Entwurf einer Dichotomie von Bewusstem und Unbewusstem („topisches Modell“) auch in seinem späteren Werk nicht aufgehoben, auch wenn er ihn mit einem zweiten Modell (Es, Ich, Über-Ich) überlagert.

Die Annahme eines Unbewussten (wie immer es strukturiert sein mag) gehört zu den grundlegenden Prämissen einer psychoanalytisch orientierten Literaturinterpretation. Freud ging selbst davon aus, dass sich das Literaturmodell am Traummodell orientieren lasse, dass Traum und Dichtung denselben Mechanismen folgten und dass beide eine Art Kompromissbildung zwischen Wunsch und den ihn modifizierenden Abwehrmechanismen darstellten. Diese Analogie ist von grundlegender Bedeutung, impliziert sie doch, dass im Kunstwerk die unbefriedigende Wirklichkeit einer Kritik (und damit einer Korrektur) unterzogen und somit den unbewussten Wünschen des Rezipienten zum Durchbruch verholfen werden kann. Das literarische Werk stellt somit keine reine Anpassungsleistung dar, keine Flucht vor der Realität, sondern (auch) einen Widerstand gegen ihre Zwänge – wenn auch über die Umwege sprachlicher Verdichtungs- und Verschiebungsmechanismen. Die Literatur steht, so gesehen, gegen das Realitätsprinzip, mit dem sie Kompromissbildungen eingeht.

Freud zieht in seiner Traumdeutung für seine Argumentation immer wieder literarische Texte heran, die er in einen psychoanalytischen Deutungszusammenhang stellt. Literarische und mythologische Texte haben bei ihm nicht nur illustrierende, sondern auch heuristische Funktion: Literatur ist für ihn eine wichtige Quelle psychoanalytischer Erkenntnisse. So liefert ihm der Ödipus-Mythos, besonders in der dramatischen Version des Sophokles, die Grundlage für das Basistheorem der ödipalen Strukturierung menschlicher Psyche: Der Ödipuskomplex ist für ihn das Nadelöhr menschlicher Sozialisation und der Ausgangspunkt von Kulturentstehung überhaupt. Auf dieser Grundlage interpretiert er auch William Shakespeares Hamlet und erklärt dessen Zögern, den Mörder seines Vaters zu töten, mit dem unbewussten Tötungswunsch gegenüber dem Vater. Hamlet ist ein Zauderer, weil er in sich dieselben Impulse entdeckt wie in dem Mörder, an dem er sich rächen will. In der Literatur findet Freud also Modelle für die Struktur der menschlichen Psyche, für ihre Entwicklungsdynamik und ihre Triebschicksale. Die Verwendung von literarischen Beispielen parallel zu vielen Traumtexten liefert schon in seinem frühen Werk eine Grundlage für die „Traumanalogie“, die einen Ausgangspunkt der psychoanalytischen Textinterpretation darstellen wird. Bezeichnenderweise operiert Freud in seiner Hamlet-Deutung mit Phantasiestrukturen; es geht ihm nicht um Rückschlüsse auf die Autorpsyche.

2.3 Das Problem des Biographismus

Allerdings gewinnt in der Folgezeit das biographische Interesse die Oberhand; an die Stelle von Form- und Inhaltsanalysen treten verstärkt Aufsätze zur Psychologie des Autors (Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Johann Wolfgang von Goethe, Leonardo da Vinci); auch andere Mitglieder der „Psychologischen Mittwochsgesellschaft“ (Vorläufer der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“) verfassen produktionstheoretische Studien, die häufig – in Anknüpfung an die psychiatrische Pathographie des 19. Jahrhunderts – pathographisch orientiert sind. Sie werden zumeist in der Imago, der 1907 gegründeten „Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften“ veröffentlicht.

Freud selbst versucht sich immer wieder von der Pathographie alten Stils abzugrenzen, wenn er z.B. in seiner Leonardo-Arbeit die Annahme einer Kausalität im Psychischen außer Kraft setzt: „Aber selbst bei ausgiebigster Verfügung über das historische Material und bei gesichertster Handhabung der psychischen Mechanismen würde eine psychoanalytische Untersuchung an zwei bedeutsamen Stellen die Einsicht in die Notwendigkeit nicht ergeben können, daß das Individuum nur so und nicht anders werden konnte. […] Wir müssen hier einen Grad von Freiheit anerkennen, der psychoanalytisch nicht mehr aufzulösen ist. Ebensowenig darf man den Ausgang dieses Verdrängungsschubes als den einzig möglichen Ausgang hinstellen wollen. Einer anderen Person wäre es wahrscheinlich nicht geglückt, den Hauptanteil der Libido der Verdrängung durch die Sublimierung zur Wißbegierde zu entziehen.“ Freud vertritt sogar die These, dass „auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist“.

2.4 Die Funktion des Ästhetischen

1908 publiziert Freud in einer literarischen Zeitschrift (Neue Revue) einen grundlegenden Aufsatz, den man als Basistext der psychoanalytischen Literaturinterpretation bezeichnen könnte. Der Text mit dem Titel Der Dichter und das Phantasieren hält sich zunächst an das (damals dominierende) produktionsästhetische Interesse und versucht den dichterischen Schaffensprozess zu erklären, geht dann jedoch auch zu wirkungsästhetischen Fragestellungen über und gelangt zu ersten Ansätzen einer Theorie des Ästhetischen. Freuds Ausgangspunkt ist die Analogie von dichterischer Produktion und kindlichem Spiel: „Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt“. Wenn Freud die Verwandtschaft von Spiel und Dichtung konstatiert, stellt er sich in eine Reihe mit prominenten Autoren wie Immanuel Kant oder Friedrich Schiller. An die Stelle des kindlichen Spiels tritt beim Erwachsenen, so Freud, der Humor – und vor allem der Tagtraum. Der Tagtraum und das Phantasieren gleichen dem Traum, insofern sie eine Wunscherfüllung darstellen: „Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit“. In einem weiteren Schritt gelangt Freud dann über den Tagtraum zur Dichtung; auch der dichterische Text korrigiert die „unbefriedigende Wirklichkeit“ und wird von Erinnerungen an das Spiel der Kindheit gespeist. Im Rückbezug auf das (erinnerte oder phantasierte) Glück liegt die wichtigste Triebquelle der dichterischen Tätigkeit, und in der sekundären Bearbeitung des Phantasiematerials besteht die List, den (verbotenen) Wünschen doch noch zur Erfüllung zu verhelfen: „Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung seine Erfüllung schafft“. Dichten ist also für Freud immer auch Wirklichkeitskorrektur – nicht nur ein Wirklichkeitssurrogat oder eine Illusion, wie er an anderer Stelle schreibt.

Trotz der Nähe von Tagtraum und Dichtung übersieht Freud nicht die Unterschiede, die beide voneinander trennen: Während der Tagträumer seine Phantasien vor den Anderen eher verbirgt, macht der Dichter seine literarischen Phantasien kommunizierbar und verhilft den Rezipienten zum Lustgewinn. Dieser Lustgewinn wird von Freud als „Verlockungsprämie“ oder „Vorlust“ bezeichnet; er findet seinen Grund in der ästhetischen Gestaltung, in der Ars poetica, die das Verbotene einerseits verhüllt, andererseits die „Befreiung von Spannungen in unserer Seele“ ermöglicht. Alle ästhetische Lust, so stellt er fest, trägt den Charakter solcher Vorlust. Auch wenn die Einseitigkeit dieser Ästhetiktheorie kritisiert wurde (siehe 3.), darf man nicht übersehen, dass mit Freuds Aufsatz über die dichterische Phantasie die erste psychoanalytische Erklärung für die Funktion des Ästhetischen vorliegt.

2.5 Die Ars poetica des Witzes

In seinem Traktat Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten aus dem Jahr 1905 wendet sich Freud dezidiert der Ausdrucksseite der Sprache, also ihrer ästhetischen Qualität zu. Wie schon in der Traumdeutung analysiert er die Prozesse, die der Herrschaft des Subjekts entzogen sind: Verfahren der Verschiebung, Verdichtung, Symbolisierung, Mehrdeutigkeiten. Im Grunde ist dieser Text literaturtheoretisch aufschlussreicher als die Arbeiten, die sich direkt auf Literatur beziehen. Sarah Kofman hält diese Studie für „das philosophischste Werk Freuds“; der Witz werde hier zum unentbehrlichen Hilfsmittel für die Erforschung des Unbewussten. Gleich zu Beginn betont Freud, dass der Witzcharakter „in der Form, im Wortlaut seines Ausdruckes“ zu suchen sei, weniger in den Gedanken. Dies gilt natürlich vor allem für die Wortwitze, die mit phonetischen Gemeinsamkeiten, mit Doppel- und Mehrdeutigkeiten ihr Spiel treiben. So z.B. in folgendem jüdischen Badewitz: Zwei Juden treffen sich in der Nähe eines Badehauses. Da fragt der eine: „Hast du genommen ein Bad?“ Worauf der andere die Gegenfrage stellt: „Wieso? Fehlt eins?“ Dieser Witz spielt mit dem Doppelsinn des Wortes ‚nehmen’, das auch im Sinn von „wegnehmen“ verstanden werden kann. Ersetzt man den Ausdruck „ein Bad nehmen“ durch „baden“, dann ist die Wirkung des Witzes zerstört. Dieser Witz enthält im Übrigen noch eine zweite (ironische) Ebene: Juden machen sich hier selbst über die Klischees lustig, die über sie verbreitet werden.

In einem anderen Beispiel, das Freud von Georg Christoph Lichtenberg übernommen hat, wird deutlich, wie sehr psychisches Geschehen mit Sprachprozessen Hand in Hand geht. Freud hatte schon in den Hysteriestudien das Phänomen beschrieben, dass die Hysterikerin einen figurativen sprachlichen Ausdruck in konkrete (körperliche) Bedeutung transformiert, indem sie z.B. Redensarten wie „Stich ins Herz“, „Schlag ins Gesicht“ oder „etwas herunterschlucken“ somatisch transformiert und damit die Empfindungen wiederbelebt, denen der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt. Diese Ausdrucksweisen „mögen gegenwärtig zumeist so abgeschwächt sein, daß ihr sprachlicher Ausdruck uns als bildliche Übertragung erscheint, allein sehr wahrscheinlich war das alles einmal wörtlich gemeint, und die Hysterie tut recht daran, wenn sie für ihre stärkeren Innervationen den ursprünglichen Wortsinn wieder herstellt“.

Auch der Witz kann, analog der Hysterie, den vergessenen konkreten Sinn eines Ausdrucks wiederbeleben, indem er mit dessen ursprünglicher Bedeutung spielt. Hier das von Freud angeführte Beispiel Lichtenbergs: „Wie geht’s?“, fragte der Blinde den Lahmen. – „Wie Sie sehen“, antwortete der Lahme dem Blinden. In diesem Witz, so führt Freud aus, erhalten die „abgeblassten“ Worte – wie in der hysterischen Inszenierung – wieder ihre volle ursprüngliche Bedeutung. Denn: „Worte sind ein plastisches Material, mit dem sich allerlei anfangen läßt. Es gibt Worte, welche in gewissen Verwendungen die ursprüngliche volle Bedeutung eingebüßt haben, deren sie sich in anderem Zusammenhange noch erfreuen“.

Die rhetorischen und ästhetischen Techniken des Witzes scheinen mehr mit der Poesie verwandt zu sein als der Traum, schon deswegen, weil der Witz von vornherein auf Darstellbarkeit und Mitteilbarkeit zielt. Vor allem durch sprachliche Verfahren ermöglicht der Witz die Aufhebung von Hemmungen und Verboten, das Aussprechen von tabuisierten sexuellen oder aggressiven Inhalten. Die Ars poetica des Witzes bedient sich dabei relativ bewusstseinsnaher Entstellungen, die aber trotzdem das Durchbrechen der Zensur ermöglichen und auf diese Weise zur „Aufwandsersparnis“ beitragen: Der Witzproduzent erspart sich jenen Hemmungsaufwand, der zur Unterdrückung bestimmter aggressiver oder sexueller Tendenzen nötig wäre – und diese „Ersparnis“ vermittelt er auch dem Rezipienten, der die ersparte Energie mit Lustgewinn „ablachen“ kann. So gelingt dem Witz eine ähnliche Überlistung der Zensur wie dem Traum, er verwendet jedoch bewusstseinsnähere sprachliche Verfahren der sekundären Bearbeitung – und ist deshalb der Ars poetica literarischer Texte verwandter.

Der Witz kann die Hemmung durch Verschiebung, Entstellung, Vieldeutigkeit und Lust am Sprachspiel aufheben – Verfahren, die wir in der Literatur insgesamt antreffen. Diese Verwandtschaft wird noch unterstrichen durch Freuds Feststellung, dass auch die „unsinnigen“ Witze und die Wortspiele (mit ihren Klangassoziationen, die sich von der Bedeutung ablösen) Lust hervorrufen und zu einer Entlastung von der „ernsthaften Verwendung der Worte“ und ihrer „Anstrengung“ führen –eine implizite Rehabilitation jener Unsinnspoesie und symbolistischen oder surrealistischen Wortspielerei findet hier statt, die für Julia Kristeva die Revolution der poetischen Sprache ausmachen. Freud verteidigt damit die Kraft des „Semiotischen“ (Kristeva), jene präverbale Sprachanarchie, die zur Befreiung von der Macht der Diskurse befähigt.

2.6 Das Unheimliche

Freuds Aufsatz über das Unheimliche (1919) geht ebenfalls von einer subtilen sprachlichen Analyse aus und beschäftigt sich mit einem von der Literaturwissenschaft bis heute vernachlässigten Gegenstand: Lange wurde die Literatur des Phantastischen und Unheimlichen aus der wissenschaftlichen Beschäftigung ausgeschlossen, da man sie dem Trivialen zuordnete – obwohl doch viele Autoren (von Goethe und Schiller über Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann, Theodor Storm bis zu Hugo von Hofmannsthal und Patrick Süskind) keinerlei Berührungsängste mit diesem Bereich hatten. Freud tadelt diese Ausschließung: Die wirkungsästhetische Kategorie des „Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden“ werde von den meisten Ästhetiken ignoriert, so schreibt er, weil sie sich „lieber mit schönen, großartigen, anziehenden, also mit den positiven Gefühlsarten, ihren Bedingungen und den Gegenständen, die sie hervorrufen, als mit den gegensätzlichen, abstoßenden, peinlichen beschäftigen“. Implizit fordert Freud hier eine Ästhetik des Hässlichen und des Schreckens, deren Existenzrecht er einklagt. An vielen sprachlichen Einzelbeispielen verdeutlicht Freud dann, dass das Wort ‚unheimlich’ mit seinem Gegenteil, dem Wort ‚heimlich’, zusammenfallen kann: Genauer gesagt, gibt es unter den vielfachen Bedeutungsnuancen von ‚heimlich’ auch eine, in der das Unheimliche des Heimlichen (im Sinn des Versteckten, Verborgenen) hervortritt. Das Unheimliche ist dann „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“. Nach Freuds Auffassung erweckt das Unheimliche gerade deswegen so große Angst, weil es als Wiederkehr verdrängter infantiler Inhalte (des ursprünglich Vertrauten) oder im Wiederbeleben überwunden geglaubter animistischer Denkformen (Allmacht der Gedanken, Wiederkehr der Toten, Magie und Zauberei) entsteht. Freud liefert also eine ontogenetische (individuelle) und eine phylogenetische (menschheitsgeschichtliche) Erklärung. Das Unheimliche aus verdrängten Komplexen erweist sich allerdings in der Literatur als wesentlich resistenter als das aus überwundenen Denkformen stammende, es bleibt in der Dichtung „ebenso unheimlich wie im Erleben“ und kann auch durch die „Realitätsprüfung“ des Rezipienten nicht in seiner unheimlichen Wirkung abgeschwächt werden.

Am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann konkretisiert Freud dann seine Theorie des Unheimlichen: Augenangst, Fragmentierungsphantasien, das Auftreten eines Automatenmenschen und der Wahn Nathanaels erschaffen eine unheimliche Gemengelage, deren angstvolle Atmosphäre Freud mit der Wiederkehr frühkindlicher Ängste erklärt. Im Grunde ist in den Text ein Subtext eingeschrieben, der nur in Analogie zur Traumsymbolik verständlich wird: Der Eindruck des Unheimlichen erklärt sich allererst aus dem Umstand, dass das Augenausreißen als symbolisches Äquivalent der Kastration seine unheimliche Wirkung entfaltet. Freuds Interpretation entdeckt also im manifesten Text eine Tiefenschicht, die die Zuordnung zusammenhanglos scheinender Elemente des Textes (Augenangst, Tod des Vaters, Automate, Sandmann als Störer der Liebe) erlaubt.

Freuds Text über das „Unheimliche“ enthält nach wie vor eine der wenigen Theorien – neben denen von Roger Caillois und Tzvetan Todorov –, die ein wirkungsästhetisches Erklärungsmodell des Phantastischen und Unheimlichen liefern.

3. Wirkung

Für die Literaturwissenschaft blieb das freudsche Modell der Traumdeutung bestimmend, wonach die Deutung den Weg der Traumarbeit gewissermaßen zurückgeht und vom manifesten zum latenten Text (Subtext) zu gelangen versucht. Dabei interessiert sich die Deutung vor allem für die sprachlichen Mechanismen wie Polysemie, Verdichtung und Verschiebung, Auslassungen und Leerstellen. Freud vergleicht den manifesten Traum mit einer alten Bilderschrift, deren Sinn sich erst in der Rekonstruktionsarbeit erschließt: „Wenn wir daran denken, daß die Darstellungsmittel des Traumes hauptsächlich visuelle Bilder, nicht Worte sind, so wird uns der Vergleich des Traumes mit einem Schriftsystem noch passender erscheinen als der mit einer Sprache. In der Tat ist die Deutung eines Traumes durchaus analog der Entzifferung einer alten Bilderschrift, wie der ägyptischen Hieroglyphen. Es gibt hier wie dort Elemente, die nicht zur Deutung, respektive Lesung bestimmt sind, sondern nur als Determinativa das Verständnis anderer Elemente sichern sollen. Die Vieldeutigkeit verschiedener Traumelemente findet ihr Gegenstück in diesen alten Schriftsystemen ebenso wie die Auslassung verschiedener Relationen, die hier wie dort aus dem Zusammenhang ergänzt werden müssen.“ Das Modell der Traumschrift ist also die ‚Bilderschrift’: Die Traumlogik liegt vor der Sprache der Vernunft, sie ist den Primärprozessen verhaftet, die sie in Gang setzen.

Es sind zunächst vor allem geisteswissenschaftlich ausgebildete Psychoanalytiker wie Hanns Sachs, die sich dem Grenzgebiet zwischen Literatur und Psychoanalyse zuwenden. Sachs vergleicht in seinem Aufsatz Gemeinsame Tagträume (1924) literarische Texte mit gemeinsamen Tagträumen Jugendlicher. Entscheidend ist für ihn der soziale Aspekt, der sowohl das Kunstwerk (als große soziale Leistung, dem Mythos vergleichbar) als auch die gemeinsamen Tagträume Jugendlicher auszeichnet, die sich vom ‚asozialen’ Individualtraum unterscheiden: Der gemeinsame Tagtraum erscheint dabei als Vorform der komplexen Autor-Leser-Beziehung; er macht aus dem (eigentlich narzisstischen) Traum einen kommunizierbaren Text.

Hanns Sachs führte die Ansätze Freuds in kulturwissenschaftlicher Richtung weiter und gab zusammen mit Otto Rank die Imago heraus, eine „Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften“. Im Vorwort des ersten Heftes betonen die Herausgeber die große Bedeutung der Kategorie des ‚Unbewussten’ für alle Kulturphänomene: „Da das Unbewußte an der Entstehung aller psychischen und Kulturgebilde, an Religion und Sitte, an Sprache und Recht mitgearbeitet hat, ist ihre völlige Durchleuchtung ohne Kenntnis der Arbeit des Unbewußten unmöglich. […] Eine wirkliche Seelenkunde, die den aus den Tiefen des Unbewußten immer neu hervorsprudelnden Phantasien den ihnen gebührenden weiten Geltungsbereich zuweist und sie durch alle ihre Schichtungen und Bedeutungswandlungen hindurch auf ihre eigentlichen Wurzeln zurückzuführen vermag, muß deshalb alle Geisteswissenschaften befruchten und ihnen neue Probleme und neue Lösungen bringen.“

Trotz solcher Ansätze verhielt sich die Germanistik lange Zeit eher ablehnend gegenüber der Psychoanalyse; deswegen war es ein epochales Ereignis, als der Schweizer Literaturhistoriker Walter Muschg 1930 in seiner Antrittsvorlesung mit dem Titel Literaturwissenschaft und Psychoanalys forderte, die Literaturwissenschaft müsse sich endlich auf die Psychoanalyse einlassen, nachdem sich die Schriftsteller (wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Franz Kafka, Alfred Döblin und besonders die Dichter Frankreichs) schon längst mit ihr auseinandersetzten. Er greift darin vor allem die These Freuds von den Tagträumen als Ersatz des kindlichen Spiels und als Vorstufe dichterischer Arbeit auf und versteht literarische Texte als Manifestationen unbewusster Prozesse, als Projektionen „seelischer Tatsachen und Vorgänge nach außen“.

Einen wirklichen Durchbruch erlebte die psychoanalytische Literaturinterpretation – nach ihrem langen Moratorium während des Nationalsozialismus – erst nach 1968, als die Studentenrevolte Bewegung in das Methodenspektrum der Germanistik brachte und alte werkimmanente Methoden zugunsten ‚exopoetischer’ Ansätze (Soziologie, Marxismus, Psychoanalyse) relativierte. Mit der gesellschaftstheoretischen Ausrichtung der Geisteswissenschaften (die jetzt als Gesellschaftswissenschaften verstanden wurden) erhielt auch die Psychoanalyse neue Beachtung. Die 1970er Jahre stellen eine Blütezeit der psychoanalytischen Literaturwissenschaft dar: Jean Starobinski untersuchte in seiner Studie L’œil vivant (1961/70) die Affinität von Literatur und Psychoanalyse (am Beispiel von Pierre Corneille, Jean Racine, Jean-Jacques Rousseau, Stendhal u.a.). Peter von Matt entwickelte in seinem Text Literaturwissenschaft und Psychoanalyse (1972/2001) ein heuristisches Modell, in dem er von der Traumanalogie des literarischen Textes ausging. Anstatt von ‚latenten Traumgedanken’ zu sprechen, verwendet er den Begriff des „psychodramatischen Substrats“ – auch um das Missverständnis zu vermeiden, es handle sich um die psychische Struktur des Autors. Mit diesem Begriff bezeichnet er eine überindividuelle Struktur, die als „abstrakte Statik“ des Werks fungiert und in der Interpretation als Substruktur des Textes erschlossen werden kann. Von Matt erläutert diesen Grundbegriff am Beispiel des schillerschen Tell-Dramas und der überraschenden Zusammenhanglosigkeit zwischen Tells Mord an Gessler (als Einzeltat) und dem Rütlischwur (als Kollektivaktion) – diese Zusammenhanglosigkeit ist umso auffälliger, als sie von Schiller gegen die historischen Quellen gestaltet wurde. In Rückgriff auf Freuds Totem und Tabu (1912/13) stellt von Matt die These auf, dass Schillers Drama das Schuldbewusstsein von der „Brüderhorde“ zunächst auf Tell und dann auf die Figur des Parricida umlenke. Die „Brüder“ dürfen zunächst von Tells Mord an Gessler nichts wissen, deshalb distanziere sich Tell so entschieden vom Verbrüderungsritual auf dem Rütli: „Für das psychodramatische Substrat des Tell-Stücks will das nun besagen, daß dieses am Schluß notwendigerweise freigesetzte oder ausbrechende Schuldbewußtsein auf irgendeine Weise aufgefangen oder im voraus ökonomisch umgeleitet werden muß. Das Stück muß ja nun einmal triumphal schließen und nicht mit einem allgemeinen Katzenjammer. Ein solcher Katzenjammer ist jedoch, dem Modell gemäß, unvermeidlich, wenn der Brüderclan gemeinsam Gessler tötet. Folglich hat es ein einzelner zu tun; stellvertretend für alle andern muß er die Vatergestalt töten, aber jene andern dürfen davon gar nichts wissen. Und so verhält es sich mit Tell; deshalb distanziert er sich so entschieden vom Verbrüderungsritual auf dem Rütli und gilt schließlich trotzdem als Befreier von allen.“

Der Dramentext enthalte ein Muster, das die Bewältigung von kollektiven Schuldgefühlen vorführt – wobei es nicht um die Autorpsyche geht, sondern um das dem Text zugrundeliegende ‚psychodramatische Substrat’.

Fast zu gleicher Zeit setzte auch Carl Pietzcker bei der Traumanalogie des literarischen Werks an, genauer bei Freuds Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren, in dem Freud eine Funktionsbestimmung der literarischen Form vornimmt: Für Freud ist die Form nur Vorlustlieferant, der uns zur Wunschbefriedigung verlockt. In seinem Aufsatz Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk (1974) greift Pietzcker Freuds Kunsttheorie auf und führt sie kritisch weiter. Er akzentuiert den Unterschied zwischen (Tag-)Traum und Kunstwerk, wenn er darauf hinweist, dass das literarische Werk in stärkerem Maß den Forderungen nach Kommunizierbarkeit und Verständlichkeit unterliege. Die Rekonstruktion der Kunstarbeit – Aufgabe der psychoanalytischen Literaturwissenschaft – muss zudem historische und sozialpsychologische Aspekte mit einbeziehen: Wenn Bedürfnisse und Realität nicht geschichtslos verstanden werden, kann auch deren Vermittlungsarbeit (die Kunstarbeit) nur unter Einbeziehung historischer Überlegungen analysiert werden. Während in Freuds Aufsatz das Lustprinzip dominiert, wird dieses bei Pietzcker relativiert, um dem Werk als Kompromissbildung zwischen Lust- und Realitätsprinzip Rechnung zu tragen.

Der Paradigmenwechsel von der Text- zur Leserorientierung, der im Entwurf einer Rezeptionsästhetik (Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser) in den 1970er Jahren zum Ausdruck kam, machte sich auch in der psychoanalytischen Literaturwissenschaft bemerkbar; neben älteren Ansätzen (wie der empirischen Rezeptionsforschung Norman N. Hollands, der unterschiedliches Rezeptionsverhalten gegenüber literarischen Texten analysierte) entwickelten sich neue Paradigmen, die den Text in seiner kommunikativen Struktur untersuchten und im Akt des Lesens den Aspekt der „Gegenübertragung“ hervorhoben. Jeder Text lässt sich, so die These, als Übertragungsangebot begreifen, auf das der Leser/der Interpret seinerseits mit Gegenübertragungen reagiert (z.B. mit Projektion, Identifikation). Wenn der Interpret seine „Gegenübertragung“ als spezifische Reaktion auf das Übertragungsangebot des Textes begreift, kann er zu einer neuen (selbst)kritischen Lektüre gelangen. Gerade für den wissenschaftlichen Leser kann es wichtig sein, sich seine Gegenübertragungsreaktionen bewusst zu machen, um verfälschende Reaktionen auf den Text zu vermeiden oder zumindest unter Kontrolle zu halten. Gegenübertragungsanalyse bedeutet dann, dass sich die Interpretierenden ihrer Faszination, Verunsicherung oder Abwehr gegenüber dem Text bewusst werden – nicht, um die Gegenübertragung auszuschalten, sondern um sie als Erkenntnisinstrument zu nutzen. Ausgehend vom psychoanalytischen Übertragungs- und Gegenübertragungskonzept wurde so ein Interpretationsmodell geschaffen, das die hermeneutische Theorie Hans-Georg Gadamers von der Vorurteilsstruktur des Verstehens (das ‚Vorurteil’ geht nach Gadamer konstitutiv in den Verstehensakt ein) um die unbewussten Anteile des Vorverständnisses bzw. des Verstehenden erweitert.

Eine entscheidende Weiterentwicklung der freudschen Psychoanalyse geht auf Jacques Lacan (1901-1981) zurück, dessen Paradigmenwechsel auch zu einer Neubestimmung literaturpsychologischer Forschung führte. Lacans Arbeiten stellen eine Neulektüre Freuds unter den Vorzeichen strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorien dar.

Es sind vor allem zwei Grundgedanken Lacans, die für die psychoanalytische Literaturinterpretation wichtig geworden sind. Zunächst die Theorie vom imaginären Charakter der menschlichen Selbstfindung im Spiegelstadium des Kindes: Das Kind bildet, so Lacan, zum ersten Mal ein Ich aus, wenn es seine Gestalt als ganze im Spiegel erblickt. Diese Wahrnehmung einer Ganzheit und Einheit (die von der Mutter zustimmend bestätigt, „gespiegelt“ wird), ist jedoch eine nur imaginäre, die zu einer „wahnhaften Identität“ führt: Deswegen ist die Subjektgenese nach Lacans Auffassung von Allmachtsphantasien geprägt und ständig vom Zerfall bedroht.

Eine stabilere Subjektkonstitution erfolgt erst mit dem Eintritt in die Sprache – doch auch hier ist die Stabilität trügerisch, da die Sprache aus einem unendlichen Verweisungssystem von Zeichen besteht, das der Struktur des menschlichen Begehrens entspricht. Hieraus folgt das zweite Theorem Lacans, dass nämlich das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert, ja sogar ein Produkt der Sprache sei. Diese Auffassung hängt mit Lacans Zeichentheorie zusammen: In Absetzung von Ferdinand de Saussure geht er davon aus, dass es eine feste Verbindung von Signifikant und Signifikat nicht gebe; schon gar nicht richte sich der Signifikant nach einem vorgegebenen Signifikat, im Gegenteil: „Das Signifikat, das ist der Effekt des Signifikanten“. In der Umkehrung der Relation von Signifikant und Signifikat besteht die größte Eigenwilligkeit Lacans und zugleich seine entschiedene Distanzierung von der saussureschen Linguistik.

Hinter diesem Paradigmenwechsel steht das psychoanalytische Modell eines endlosen Verschiebungsvorgangs, der durch das „Gesetz des Vaters“ (das ödipale Gesetz) ausgelöst werde: Die primäre Liebe zur Mutter wird verboten (Inzestverbot, ‚symbolische Kastration’), wodurch ein endloser Substitutionsprozess, ein Prozess unstillbaren Begehrens ausgelöst werde. Der Prozess der Verschiebung verweist stets auf andere Signifikanten und damit auf die Unmöglichkeit eines stabilen Sinns. Das Unbewusste gleicht der Sprachstruktur, weil das Begehren die Struktur eines unendlichen Verweisungssystems hat. Dieser Prozess unendlicher Signifikation führt jedoch nicht in die Bedeutungsanarchie, da der ‚Phallus’ (die symbolische Repräsentation des Penis) zum ‚privilegierten Signifikanten’ wird, zum Signifikanten des Mangels schlechthin, dem keinerlei Signifikat mehr entspricht. So patriarchalistisch dieser Ansatz erscheinen mag, so ersetzt er doch den ‚Geschlechtsbiologismus’ Freuds durch eine Sprachsymbolik. Diese Verschiebung auf die Sprach- und Symbolebene hat sich für die psychoanalytische Literaturwissenschaft als ausgesprochen fruchtbar erwiesen. Zahlreiche Interpretationen im Gefolge Lacans haben die Literaturwissenschaft bereichert, angefangen mit der Kleist-Studie von Helga Gallas (1981), die zu einer Art Referenzlektüre für poststrukturalistisch-psychoanalytische Literaturinterpretation wurde. In Gallas’ Deutung erscheinen die Pferde als Phallussubstitute, als Signifikanten der imaginären Ganzheit des Ich. Das eigentliche Objekt des Begehrens ist immer abwesend und wird durch eine unendliche Kette von Substituten ersetzt.

Die Rückführung (auch) des Geschlechts auf eine Sprachfunktion ließ den lacanschen Ansatz im Bereich der literaturwissenschaftlich orientierten Gender Studies produktiv werden – bis hin zu jenen dekonstruktiven Lektüren, die im Anschluss an Judith Butler die kulturelle Konstruiertheit der Kategorie ‚Geschlecht’ hervorheben und ihre subversive Destabilisierung vorantreiben. Diese Ansätze stellen sicher eine der wesentlichen Korrekturen des freudschen Modells dar.

Auch in Filmtheorien macht sich eine besondere Affinität zur Psychoanalyse bemerkbar, die u.a. in den frühen Wechselbeziehungen zwischen Film und Psychoanalyse begründet ist. Die Traumlogik der filmischen Bilder, die Nähe von Film und Traum legen psychoanalytische Deutungsversuche nahe.

Das hermeneutische Interpretationsmodell Freuds verträgt sich schlecht mit anti-hermeneutischen Richtungen; deswegen ging seit den 1990er Jahren das Interesse an psychoanalytischer Literaturwissenschaft zurück zugunsten poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Ansätze, die sich freilich mit der lacanschen Theorie eher verknüpfen lassen. Die psychoanalytische Literaturwissenschaft verbindet sich ihrerseits mit neuen Ansätzen und Fragestellungen, gerade auch mit solchen, die ihr sozialkritisches Profil schärfen: Fremdheit, Rassismus, Ethnozentrismus, Postkolonialismus sind Begriffe, die sowohl ihre Reduktion auf individualpsychologische Fragestellungen als auch auf reine Zeichentheorie verhindern. Damit erweitert sie ihr Anwendungsspektrum ganz im Sinne Freuds, der von Anfang an die Verbindung der Psychoanalyse mit verschiedensten Disziplinen gefordert hatte.

Anmerkung der Redaktion: Der Essay ist eine gekürzte Fassung von Joachim Pfeiffers Beitrag „Sigmund Freud (1856-1939)“ in: Matias Martinez / Michael Scheffel (Hg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. Verlag C. H. Beck, München 2010. S. 11-32. Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Joachim Pfeiffer ist Mitherausgeber der "Freiburger literaturpsychologischen Gespräche" . Zusammen mit Hans-Martin Lohmann hat er das 2006 erschienene Freud-Handbuch herausgegeben.