Das Zauberwort heißt Menschlichkeit

Michael Ondaatjes neuster Roman "Anils Geist

Von Gesa HinrichsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gesa Hinrichsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt gute Geschichtenerzähler und solche, die es lieber lassen sollten. Michael Ondaatje ist ein Geschichtenerzähler, der es hoffentlich noch lange nicht lassen wird. Er ist ein Autor, der die Gabe besitzt, den Leser in seinen Bann zu ziehen, indem er ihm die Gestalten seiner Bücher langsam aber mit sanfter Gewalt näher bringt. Ondaatje konzentriert sich auf einige wenige Figuren, um die er eine zeitlich kurze und räumlich beschränkte Geschichte entwickelt. Die wesentlichen Dinge spielen sich in der Vergangenheit und der Erinnerung der Protagonisten ab. Der Lauf der Handlung ist ungefähr so stringent wie unsere Gedankengänge, doch gelingt es Michael Ondaatje all diese Fäden am Ende zu einem kompakten Knäuel aufzuwickeln, ohne einen einzigen zu verlieren.

Spätestens seit "Der englische Patient" hat sich der kanadische Autor holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung Weltruhm erschrieben. Ähnlich wie in diesem bilderreich gestalteten und weit verzweigten Roman geht Ondaatje in seinem jüngsten Buch "Anils Geist" vor. Er lässt vier Menschen stellvertretend für die Leiden einer gesamten Gesellschaft sprechen, den Leiden der Menschen im Bürgerkrieg auf Sri Lanka. "Von der Mitte der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts bis in die frühen neunziger Jahre befand sich Sri Lanka in einer Krise, an der im wesentlichen drei Gruppierungen beteiligt waren: die Regierung, die regierungsfeindlichen Aufständischen im Süden der Insel und die separatistischen Guerillas im Norden. [...] 'Anils Geist' ist ein Roman, der in dieser politischen und historischen Zeitspanne spielt", so Michael Ondaatje in der Vorbemerkung. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass die Figuren und die Handlung des Romans frei erfunden sind, dennoch habe es zweifellos Vorkommnisse gegeben, die denen des Buches ähnelten.

Der Roman erzählt die Geschichte Anil Tisseras, einer Rechtsmedizinerin, die von einer Menschenrechtskommission nach Sri Lanka geschickt wird, um über die dortigen Verhältnisse zu berichten. An ihrer Seite arbeitet der Archäologe Sarath Diyasena, dessen Position zu der Regierung und zu den Unruhen bis zum Schluss des Buches nicht eindeutig ist. Weiter tritt der Künstler und Mienenarbeiter Ananda Udugama auf, dessen Frau in den Unruhen des Bürgerkrieges verschollen und vermutlich ermordet worden ist. Und schließlich ein Skelett mit Namen "Seemann". Seemann ist das Opfer, das für viele Opfer sprechen kann. "Dieser Repräsentant all dieser verlorenen Stimmen. Ihm einen Namen zu geben hieß die übrigen zu benennen." Anils Aufgabe ist es nun herauszufinden, wie sich der Mord an Seemann zugetragen hat, wer hinter all diesen Morden steht.

Fünfzehn Jahre, nachdem sie ihr Heimatland verlassen hatte, kehrt die forensische Pathologin nun mit nur halbem Herzen wieder zurück. Nichts als Tod und Chaos erwarten sie, Verwandte oder Bekannte gibt es keine mehr. Auf sich gestellt kämpft sie sich durch eine Gesellschaft, die ihr nicht wohl gesonnen ist. Auch besteht ihre einzige Verbindung zur westlichen Welt in ihren Erinnerungen. Die Affäre mit Cullis, einem verheirateten Schriftsteller, hat sie beendet, kurz bevor sie die Staaten verließ. Anil trägt ähnliche Züge wie die Krankenschwester Hana aus "Der englische Patient". Eine kontrollierte Frau, die sich ihre Aufgabe darin gesucht hat, anderer Menschen Leben zu retten bzw. ihren Tod zu ergründen. Es ist eine idealistische Wahrheitsliebe und aufopfernde Selbstvergessenheit, die Anil auszeichnen. Überhaupt ist die Konstellation der Figuren zueinander ähnlich gestaltet wie in Ondaatjes letztem Roman. Es ist das Skelett, dass das zu entdeckende Geheimnis in sich birgt. Doch ist es nicht die Quelle, aus der die Geheimnisse hervorgebracht werden. Andere Menschen, Erinnerungen und Künste müssen herangezogen werden, um schließlich die Wahrheit ans Tageslicht zu befördern.

Das Leben auf Sri Lanka ist grausam und moralisch kompliziert. Aus allen Richtungen gibt es Verschwörung und Mord, Beschwerden von Menschenrechtsorganisationen stoßen nur auf taube Ohren, und das einzige, was in diesem Land auf dem neuesten Stand zu sein scheint, sind die Waffen. "Der Terror erreichte 88 und 89 seinen Höhepunkt, aber er fing lange vorher an. Alle Seiten mordeten und versteckten Beweise ihres Tuns. Alle Seiten. Es ist ein nichterklärter Krieg, und keine Partei will es sich mit den ausländischen Mächten verderben. Das Ergebnis sind Todesschwadronen. Nicht wie in Mittelamerika. Es war nicht nur die Regierung, die gemordet hat." Immer wieder gibt Ondaatje diese oder ähnliche Erklärungen, die er meist Sarath in den Mund legt.

Sarath ist ein wahrheitsliebender Mann, der im Gegensatz zu Anil mit den Machenschaften der Regierung vertraut ist. Wo ihr emotionales Handeln richtig erscheint, hält er sie zurück und zur Mäßigung an, obwohl seine Wahrheitsliebe mindestens so ausgeprägt ist wie die Anils. "Als Archäologe glaubte Sarath an die Wahrheit als Prinzip. Das heißt, er hätte sein Leben für die Wahrheit gegeben, wenn sie von irgendeinem Nutzen gewesen wäre." Sein jüngerer Bruder Gamini stellt den Gegenpol zu Sarath' Leben dar. Er beschäftigt sich nicht mit den Toten, sondern als Arzt mit den Verwundeten egal welcher Seite. Er ist es auch, der dem Kriegstreiben wiederum eine andere Färbung verleiht, ihm waren die Menschen suspekt. "Er wollte mit niemandem zu tun haben, der einen Krieg befürwortete. [...] Man war nicht besser und nicht schlechter als der Feind. Er glaubte nur an die Mütter" und die vertrauensvolle Fürsorge füreinander. Gamini hat sein Leben dem Leben anderer geopfert und sich selbst dafür aufgegeben.

Den Kontrast zu diesen Menschen zeichnet Ondaatje nun in Ananda, dem Trinker und Künstler, der sich aus allem heraushält, um keinen Ärger zu bekommen. Vielleicht ist er von allen Charakteren der Weitsichtigste, da er die Lage erkannt und erfasst hat. Nur ist die Botschaft, die Ondaatje an das Ende seines Romans stellt und die auch Ananda hier gewahrt, eine andere: "Die süße Berührung der Welt", der Glaube in die Sache und eine geradezu fanatische Menschheitsliebe und Barmherzigkeit sind die Dinge, die bleiben.

So bilderreich Ondaatje seinen Roman auch gestaltet, so sehr er dem Leser die bezaubernde Natur und Kultur des Landes nahe bringt, so sind es doch vor allem die unvermittelt eingestreuten Gedankenfetzen und Erinnerungsstücke, die dieses Buch auszeichnen. Unvermittelt tauchen neue Personen auf, werden kursivierte Passagen in den Handlungsverlauf eingebunden, und erst nach einiger Zeit stellt sich die Gewissheit ein, bald eine Erklärung zu erhalten. Ondaatje appelliert an den aufmerksamen Leser, sich Nebensätze und ihre Verästelungen zu merken, keine Person zu vergessen, da er sie wieder in die Handlung einbinden wird. Es gibt keine Lückenfüller, jeder erfüllt in diesem wohlkonstruierten Netz seinen Zweck.

Lang ist die Liste der Danksagungen, die Michael Ondaatje an das Ende seines Buches setzt, und intensiv muss die Arbeit des Autors an diesem Roman gewesen sein. So detailliert beschreibt er die Möglichkeiten der Pathologie und der Archäologie, so aufmerksam ist seine Beobachtung der Grausamkeiten und Greueltaten, die sich in seinem Geburtsland ereignet haben. Es ist faszinierend, mit welcher Leichtigkeit es ihm gelingt, die historischen Fakten in einen Roman zu verpacken, ohne ihn schwer und trübsinnig werden zu lassen. Sieben Jahre ist es her, seit "Der englische Patient" erschien, sieben Jahre, die das Warten auf dieses Buch gelohnt haben.

Titelbild

Michael Ondaatje: Anils Geist.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
328 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3446199179

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