Deutsch-Südwest und Darfur

Über Wolfgang Benz‘ Sammelband „Vorurteil und Genozid“, der „ideologische Prämissen des Völkermords“ untersucht

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter Wolfgang Benz‘ Auspizien ist ein Sammelband zu „ideologischen Prämissen“ des Völkermords im 20. Jahrhundert erschienen. Nicht wenige Beiträger stammen aus dem Umfeld von Benz‘ Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Zwei Aufsätze sind dem Holocaust gewidmet (Bernward Dörner, Yehuda Bauer), darüber hinaus wird der „Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg“ behandelt (Annette Schaefgen), der von Stalin „organisierte Hungertod in der Ukraine 1932/1933“ (Svetlana Burmistr), der nationalsozialistische Völkermord an Sinti und Roma (Peter Widmann), das „Pol-Pot-Regime in Kambodscha“ (Angelika Königseder), die genozidale Rhetorik und Praxis der jugoslawischen Kriege in den 1990er-Jahren (Holm Sundhaussen) sowie der „Völkermord in Ruanda 1994“ (Dominik J. Schaller).

Zwei Aufsätze zum afrikanischen Geschehen bilden den Rahmen: Jürgen Zimmerer behandelt „Bevölkerungsökonomie, Rassenstaat und Genozid in Deutsch-Südwestafrika“, Juliane Wetzel widmet sich der Frage, ob die jüngsten Vorgänge in Darfur unter Kategorien des Völkermords darzustellen sind. Mittig wurde ein Aufsatz Wolfgang Benz‘ platziert. Er führt den Nachweis, dass die „Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ bei allen Exzessen nicht billigerweise als Völkermord eingestuft werden kann – anders als die vorausgegangenen, von Reichssicherheitshauptamt, SS und Wehrmacht exekutierten Versuche, die jüdische Bevölkerung Polens und der Sowjetunion auszurotten und deren slawische Bevölkerung zu versklaven.

Yehuda Bauers Essay über „Holocaust und Genozid heute“ – meinungsstärker, politischer, auch subjektiver im Duktus als die übrigen, mehr wissenschaftlich profilierten Beiträge – bildet den Abschluss des Bandes.

Wolfgang Benz‘ Einleitung führt zum Thema hin, einen gehaltvollen, die Einzelbeiträge synthetisierenden Rahmen schafft sie jedoch nicht: ‚Genozid‘ erfährt keine begriffliche Füllung, zumindest nicht über die Minimaldefinition der Vereinten Nationen (1948) hinaus, die auf den Vorsatz zielt, eine „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten“. Die fehlende ‚Systematik‘ der Darstellung erweist sich aber beinahe als Segen: Zusammenhänge werden nicht herbeigezwungen, sie drängen sich von der Sache her auf: Ob Serbien, Ruanda oder die nationalsozialistische Agitation gegen Kommunismus und „Weltjudentum“ – oft werden Bedrohungsszenarien entworfen, die ‚Normalbürger‘ zu Mördern um der Selbsterhaltung willen degenerieren lassen: ‚Angriff ist die beste Verteidigung‘ – diese Wendung zeigt einen fatalen Beigeschmack von Wahrheit.

Auch tritt das Konstruierte jener ethnischen Identitäten hervor, die zur ideologischen Grundlage genozidaler Umtriebe werden – am schlagendsten durch das Beispiel der Hutu und Tutsi: Ihre Ethnogenese setzt im 19. Jahrhundert ein, befördert durch bürokratische Interventionen europäischer Kolonisatoren – und deren schieres Unverständnis für ‚Ruandas‘ Gesellschaftsstruktur. Noch im 20. Jahrhundert sind die Grenzen zwischen beiden Ethnien fließend, dennoch werden sie herrschaftstechnisch – mit mörderischer Konsequenz – nutzbar gemacht.

Nicht wenige Beiträge sind – diesseits der „ideologischen Prämissen der Völkermords“ – mit der Rekonstruktion des oft genug kontroversen Tathergangs befasst, so im Fall des jungtürkischen Völkermords an den Armeniern. Auch im Fall des deutschen Kolonialkriegs wider die eingeborene Bevölkerung Namibias, ‚Deutsch-Südwests‘, ist eine gründliche Darlegung des Geschehens unverzichtbar. Im kollektiven Bewusstsein der Deutschen spielt der ‚erste Völkermord‘ der modernen (deutschen) Geschichte immer noch eine untergeordnete Rolle. Jürgen Zimmerers Beitrag zum Thema charakterisiert die verschiedenartigen Attitüden der deutschen Elite, betreffend das rechte Verhalten ‚Eingeborenen‘ gegenüber – pragmatisch gemäßigte und eliminatorische. Letztere setzten sich durch.

Zu den frappierendsten Einsichten zählt diese, dass genozidale Ideologien einer Gesellschaft ‚von oben‘, durch die Bildungseliten, eingepflanzt werden können. Holm Sundhaussen zeigt, wie serbisch-orthodoxer Klerus und wohlakkreditierte Intellektuelle der Belgrader Akademie der Wissenschaften in den 1980er-Jahren die Rede vom „kulturellen Genozid“ an der serbischen durch die übrigen Nationalitäten des jugoslawischen Vielvölkerstaates, zumal Muslime, aufbringen – zu Zeiten, als die große Mehrheit der jugoslawischen Bürger nationalen Hassgefühlen abgeneigt ist und den Fortbestand des Bundesstaats wünscht. Hier fällt ein fahles Licht auf allgemein ehrenhafte Konzepte wie ‚Intellektueller‘, ‚Dissident‘ und ‚Anti-Kommunismus‘. Immerhin stellte Titos charismatisch-repressive, seit den 1970er-Jahren zwischen Ansprüchen der Teilrepubliken lavierende Herrschaft, so grausame Züge sie im Einzelnen zeigte, seit langem die erste, bis dato die letzte stabile staatliche Ordnung am westlichen Balkan dar.

Wenn der Völkermord ideologischer Rahmung bedarf, vorgängiger oder nachgetragener Rechtfertigungsmuster, kommt Intellektuellen – nicht nur am Balkan – eine wichtige Rolle zu. Wer die politische Wirksamkeit und ‚Gesellschaftsrelevanz‘ literarischer wie geisteswissenschaftlicher Tätigkeit in Abrede stellt, wird anhand dieses Bandes eines Besseren belehrt, wenngleich in bestürzender Weise.

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Wolfgang Benz (Hg.): Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völkermords.
Böhlau Verlag, Wien 2010.
295 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783205785545

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