Georg Büchner als Visionär des postideologischen Zeitalters

Simonetta Sanna interpretiert „Dantons Tod“ als Flaschenpost fürs 21. Jahrhundert

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die immerwährende Zeitgenossenschaft Georg Büchners sei längst zum Topos geworden, stellte Dietmar Goltschnigg, einer der besten Kenner der Rezeptionsgeschichte Büchners, unlängst fest. „He is one of us“, heiße es beispielsweise 1981 in einer U.S.-amerikanischen Rezension, und so tönt es seit etwa 1900 unentwegt. Simonetta Sanna, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der sardischen Universität Sassari, gewinnt diesem Topos nun eine neue Wendung ab. Denn anders als frühere Leser spricht sie Büchner tendenziell die Zeitgenossenschaft seiner eigenen Epoche ab. Hatte der Kritiker aus Amerika vor dreißig Jahren noch gemeint, Büchner sei „a modern, even a post-modern writer“ gewesen, so streicht Sanna das „modern“ beherzt durch; jedenfalls wenn man „modern“ als Kennzeichnung des ideologischen Zeitalters sieht, wie man die Epoche vom ausgehenden 18. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert füglich nennen kann.

Büchner habe, „noch ehe sich die Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts überhaupt herauskristallisiert haben“, diese bereits gedanklich überwunden. Ein starker antiideologischer Impuls zeichne sein Werk insgesamt aus, besonders aber „Dantons Tod“, das mit der Französischen Revolution eines der für die moderne Ideologiebildung grundlegenden Ereignisse zum Thema habe. Als „visionärer Autor“ habe Büchner in den Auseinandersetzungen der Revolution alles Folgende bis hin zum Kalten Krieg vorausgesehen und eine friedlichere Alternative für ein postideologisches Zeitalter entworfen.

Gewissermaßen als „Flaschenpost“, eine Metapher, der sich Autoren von Paul Celan bis Heiner Müller gern bedienten, habe Büchner eine Botschaft an zukünftige Generationen gesandt, die wir heute lesen könnten. Es sei dem Autor wie seinem Protagonisten klar gewesen, dass die politische Utopie, die in dem Stück von Camille Desmoulins und Hérault-Sechelles ausgemalt wird, keinen Ort in der Wirklichkeit hatte. „Wer soll denn all die schönen Dinge ins Werk setzen“, fragt Danton resigniert. Der „bedenkenlose politische Realismus“, den die Gruppe um Robespierre, besonders sein Adlatus St. Just vertritt, behält in dem Stück die Oberhand, und er dominierte auch noch für fast anderthalb Jahrhunderte nach Büchners Tod. Allerdings werfe er einen „Schatten auf die Mittel wie auf die Ziele des gesamten revolutionären Wegs“, so dass die Leser oder Zuschauer gezwungen würden, sich auf „die Suche nach einer eigenen dritten Perspektive“ zu machen.

Diese Suche ist die „nach dem unbekannten, ewig verweigerten X“, wie es in dem Stück genannt wird, also diejenige nach einer humaneren Wahrheit jenseits der Antinomien, zwischen denen sich die Charaktere des Stücks aufreiben. Es gehe darum, die Alternative zwischen „guillotiniert werden“ und „guillotinieren lassen“ als falsche Alternative aufzuzeigen und sie damit zu verwerfen; stattdessen sollten die Rezipienten „am Prozess der Veränderung der Wahrnehmung“ teilnehmen, schreibt Sanna.

Dass man sich dieser Zumutung kaum entziehen kann, zeigt der andauernde Streit der Interpretationen. Mit diesem Stück sei nicht fertig zu werden, weil es das „Wirklichkeitsprinzip, was von der Politik beherrscht wird“, negiere. Formal sei das so umgesetzt, dass die Ästhetik der „erhabenen Tragödie“, die vor allem die Robespierristen in Szene setzen wollten, aufgegeben sei zugunsten eines Konstrukts unabgeschlossener Ganzheit, das in dem Drama als „babylonischer Turm“, als „Gewirr“ oder Labyrinth codiert werde. Der zweite Herr sagt in dem Stück an der Stelle, wo vom ‚Babel-System‘, wie es Sanna nennt, die Rede ist: „gehen Sie ins Theater, ich rat es Ihnen“, und dies ist wohl als metaliterarische Selbstreflexion zu verstehen.

Zur Unabgeschlossenheit neige Büchners Drama deswegen, weil es sich insgesamt schematisierender Kategorien, von denen freilich die Figuren durchaus sprechen, verweigere. Nicht zuletzt werde dies durch eine Annäherung der Antagonisten erreicht. Die Analogien zwischen Dantonisten und Robespierristen überwögen die Differenzen „bei weitem“, schreibt Sanna. Danton fragt: Was liegt daran, ob man an der Guillotine, am Fieber oder am Alter stirbt, so wie St. Just fragt: Was liegt daran, ob die Menschen an einer Seuche oder an der Revolution sterben? Die blutigen Finger deuten auf Robespierre genauso wie auf Danton. Robespierre meint, wir ringen alle im blutigen Schweiß, die Dantonisten ringen den ganzen vierten Akt hindurch im „Todesschweiß“.

Das „dem babylonischen Turm innewohnende ‚System‘ der Anti-Systematik sei „bislang unbemerkt geblieben“, schreibt Sanna und insistiert: „Für Augen und Ohren, die fähig sind, zu ‚sehen‘ und zu ‚hören‘ und folglich die ‚dünne Kruste‘ der Differenzen zu durchdringen, sind also nicht die Asymmetrien handlungsleitend, sondern die Analogien zwischen den Personen. […] Wenn nämlich die Antisymmetrien den ideologischen Diskurs begründen, dann ist ihre Widerlegung im ‚Danton‘ integraler Bestandteil einer radikal antiideologischen Sicht […]. In der ästhetischen Perspektive des ‚babylonischen Turms‘ stellt die noluntas [das Nichts-Wollen, der Verzicht auf ein heroisches Ich] eine provisorische Lösung des dramatischen Knotens dar. Allerdings führt sie zum Opfer, nicht dazu, das Fortschreiten der Geschichte hin zur Katastrophe aufzuhalten.“

Dass das Stück keine Lösungen anzubieten hat, resultiere aus seinem historischen Standort, von wo aus Büchner die Überwindung der Ideologien zu Beginn des 21. Jahrhunderts (wenn das mal so wäre!) noch nicht erkennen konnte. „Es fehlt uns was“, meint Danton in dem Stück, was das aber sein könnte, bleibt ihm und Büchner unbekannt. Daher rühre der utopische Charakter der Gegenpositionen, die zu einer „Nicht-Zeit“ und an einem „Nicht-Ort“ angesiedelt würden, ihre Verkörperung aber in der Trias der fiktiven Frauenfiguren Julie, Lucile und Marion erhielten. Marion lebe im erfüllten Augenblick, aber gesellschaftlich dezentriert; auch Julie und Lucile lebten in einer abweichenden Raum-Zeit-Dimension, seien anders als Marion aber „dynamisch“ angelegt: Julies Weg führt aus einer halböffentlichen Sphäre in den einsamen Tod im Zimmer; Lucile dagegen führt der Weg aus der Privatheit des Zimmers zu einem öffentlichen Tod.

Das Stück sei zwar antiutopisch in dem Sinn, dass das Fehlende nicht benannt oder dargestellt werden konnte, aber die Frauen sprächen immerhin jenes „Gegenwort“ (Paul Celan) der „Eintracht“, das Büchner den „Asymmetrien“ der Geschichte und deren Kämpfen entgegensetzen wollte, wie Sanna vermutet: „Die Frauencharaktere erkennen mit anderen Worten die von der Geschichte erzeugten Brüche nicht an“; in ihnen kommt die Fantasie des Autors zu Wort und „nimmt friedlichere Alternativen vorweg“. Sie sind durch Dialogbereitschaft und Anteilnahme charakterisiert, setzten sich mit ihren Besonderheiten auseinander und seien daher bereit, auch die der anderen zu erkennen sowie anzuerkennen.

In den Frauenfiguren realisiere sich der Schritt aus der Zeit, von dem auch Büchners Rosetta in „Leonce und Lena“ träume, weil sie zwar nicht die Handlung, wohl aber die Zeit anhalten würden. Insofern verkörperten sie den Gehalt des Stücks insgesamt, denn genau das sei der „Kern der Botschaft sowie der Poetik und Ästhetik des Werks“, den bislang niemand wahrgenommen hätte, wie Sanna selbstbewusst meint. Die „Umsetzung von Linearität in Zirkularität“ verwandle die gerichtete Straße in ein unabgeschlossenes „Labyrinth“, das „Zeit und Raum […] zu umschließen“ vermöge: „Was sich dergestalt abzeichnet, ist in Wahrheit eine Verräumlichung der Zeit“, die zu einem „unausschöpflichen Reservoir der Ewigkeit gegen die Zeit“ werde, wie es Gilbert Durand in den 1960er-Jahren sagte. Es sei dies das innerste Prinzip von Büchners Ästhetik, die „eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt“, wie es im „Lenz“ heißt, feiere, oder eben die „Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend“, in den Menschen „sich jeden Augenblick neu gebiert“, wie Camille Desmoulins in „Dantons Tod“ schwärmt.

So sehr man Sanna zu folgen bereit ist, solange sie dem vielfach umkreisten, von Büchner noch nicht benannten postideologischen Ideal des Pluralismus nachspürt, an dieser Stelle ist allerdings ein Punkt erreicht, wo die Auslassungen ihrer ansonsten dem Text sehr eng folgenden Lesart problematisch werden. Camille fragt an der zitierten Stelle seine Frau Lucile, ob sie verstanden habe, was er sage, und was sie dazu meine. Nein, sie habe nichts verstanden und sie meine auch nichts, sie sehe ihn einfach „so gern sprechen“. Diese Dümmlichkeit korrespondiert mit der Asozialität von Marions Leben im erfüllten Augenblick, und wenn diese beiden als utopische Figuren gemeint sind, so wirft dies kein gutes Licht auf Büchners Traum vom glücklichen Leben, das mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gesprochen eher der Existenz von Lotophagen gliche als der allseitig entwickelter Menschen. Aber vielleicht ist dem „unglücklichen Bewusstsein“ (Hegel) der Moderne tatsächlich nur zu entkommen, wenn man in die Zeit vor dem Sündenfall und die damit verbundene Erkenntnislosigkeit regrediert. Freilich hieße das, um Heinrich von Kleists Bild zu gebrauchen, „die Reise um die Welt“ nicht zu machen und zu sehen, ob das Paradies „vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist“, sondern umzukehren, und vorne wieder herein zu wollen: Alzheimer als Chance?

Auf der strukturellen Ebene ist Sannas Betonung der Überlagerung von Differenz und Analogie, von Symmetrie und Asymmetrie, von Konvergenz und Antinomie sicher sinnvoll, auch wenn diese Lesart nicht ganz so neu ist, wie sie glaubt. Die chaotisch anmutende, auf der Oberfläche eher Desorientierung als „schnelle und einfache“ Schlüsse anbietende ästhetische Ordnung nach dem Modell des „babylonischen Turms“ ist schon früher verschiedentlich in die Diskussion eingebracht worden (beispielsweise 2002 von Ingo Breuer oder 2003 von Helmut Müller-Sievers, die in der Bibliografie bezeichnenderweise fehlen). Als Lektüreschlüssel für „eine breitere Leserschicht“ ist Sannas Buch gleichwohl gut geeignet, auch wenn die Terminologie gelegentlich etwas ungenau wirkt (was sind eigentlich „Dynamiken“, seien es „künstlerische“ oder „historische“?); ein besseres Lektorat hätte auch verhindern können, dass die im Auftrag der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur in Marburg erarbeitete „historisch-kritische Ausgabe“ „Sämtlicher Werke und Schriften“ auf den Status einer lediglich „kritischen Ausgabe“ zurückgestuft und mehrfach irreführend als „Marbacher Ausgabe“ bezeichnet wird.

Titelbild

Simonetta Sanna: Die andere Revolution. Dantons Tod von Georg Büchner und die Suche nach friedlicheren Alternativen.
Wilhelm Fink Verlag, München 2010.
157 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770550388

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