Die Entzifferung des Unsichtbaren

Michael Ondaatje erzählt vom Leben in zwei Kulturen

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem flauen Bücherherbst zählt Michael Ondaatjes neuer Roman "Anils Geist" zu den Großereignissen. Er hat eine spannende Handlung, und er ist brillant erzählt. Ähnlich wie "Der englische Patient" enthält er ein gegen die lineare Zeit gespieltes Puzzle aus nachgeholten Vorgeschichten und fragmentierten Lebensskizzen. Die dichte Atmosphäre - Ondaatje ist schließlich auch Lyriker! - des auf Sri Lanka spielenden Romans nimmt den Leser sofort für sich ein.

Der Roman geht, stark begradigt, etwa wie folgt. Die Heldin, Anil Tissera, ist Gerichtsmedizinerin, sie lebt in den USA und hat Sri Lanka, wo sie aufgewachsen ist, seit den Tagen ihrer frühen Jugend nicht wiedergesehen. Dorthin kehrt sie nun im Auftrag einer Menschenrechtsorganisation zurück - mit einer prekären Aufgabe. Sie soll nachweisen, dass in dem blutigen Bürgerkrieg, der das Land seit den frühen 80-er Jahren zerreißt, nicht allein regierungsfeindliche Gruppen, sondern auch die Regierung selbst planmäßig Verbrechen inszeniert und morden lässt. Zu ihrer Unterstützung - oder Bewachung? - haben die Behörden ihr seltsamer Weise einen Archäologen namens Sarath an die Seite gestellt, der ihr und dem Leser lange Zeit ein Rätsel bleibt. Auf seine persönliche Loyalität kann Anil sich verlassen, aber ob er tatsächlich an derAufdeckung von Verbrechen der Regierung interessiert ist, erfährt sie nicht.

Anils und Saraths Unternehmen beginnt erfolgreich. Auf einem Gelände, zu dem nur Regierungsbeamte Zutritt haben, entdecken sie eine vergrabene Leiche, die sie obduzieren; an ihr wollen sie exemplarisch den Beweis führen, dass die Regierung an Morden beteiligt ist. Anil und Sarath gelingt es nachzuweisen, dass das Opfer nicht dort ermordet wurde, wo man es fand, und mit den subtilen Methoden der forensischen Medizin ermitteln sie auch die Region, in der der Mord geschah. Das schwerste Problem stellt die Identifikation des Opfers dar. Saraths einstiger Lehrer, ein Archäologieprofessor, der sich in den Dschungel zurückgezogen hat, empfiehlt ihnen einen Mann namens Ananda, der ein perfekter Maskenbildner ist und einem skelettierten Schädel sein ursprüngliches Gesicht wiederzugeben vermag. Anandas einstiger Beruf war es, Buddha-Statuen in einer kultischen Zeremonie die Augen zu verlebendigen; nachdem seine gesamte Familie ermordet worden war, wurde er zum Alkoholiker, jetzt arbeitet er in einer Mine. Es ist schwierig, ihn zur Vollendung der Gesichtsmaske des Toten zu gewinnen, aber es gelingt. Das Opfer wird von den Bewohnern seines Dorfes identifiziert, der Nachweis eines Mords im Auftrag der Regierung kann geführt werden. Ob er tatsächlich erfolgreich geführt wird, darf hier so wenig verraten werden wie bei einem Kriminalroman die Auflösung - so es denn eine gibt.

Neben der kriminalistischen erzählt "Anils Geist" noch eine weitere Geschichte. Es ist die Geschichte von Anils Wiederbegegnung mit Sri Lanka, mit den Überlebenden ihrer Familie, mit der einst vertrauten Umgebung und Kultur, die sie vor langer Zeit verlassen hat und in die sie als Fremde wieder eintaucht. Doch auch ihre Vergangenheit in den USA, das Studium, eine gescheiterte Liebesgeschichte, ragen fremd in ihre Gegenwart hinein. Anil kommt in ein Land, in dem ein anomischer Terror herrscht, dessen Hintergründe sie nicht durchschaut. Die Suche nach einem Toten, das Bemühen, ihm ein Gesicht zu geben, die Zusammenarbeit mit einem Archäologen, all das hat noch ganz andere als kriminalistische Dimensionen. Wie sehr man sich auf der Suche nach den Wurzeln der eigenen Kultur verirren kann, zeigt die Geschichte von Saraths Professor, der, ein international bekannter Gelehrter, am Ende seines Lebens Schriftzeichen entziffert, die außer ihm niemand auch nur zu sehen vermag.

Michael Ondaatje verließ Ceylon als 12-jähriger mit seiner Mutter und ging in London zur Schule; mit 19 Jahren folgte er seinem Bruder nach Canada, wo er noch heute lebt. Weder in seiner Lyrik noch in seinen fünf Romanen neigt Ondaatje zu irgendwelchen Bekenntnissen, und "Anils Geist" ist keinesfalls ein autobiographischer Roman. Aber von den Problemen des Lebens in zwei Kulturen erzählt er noch eindringlicher als "Der englischePatient"; es sind Probleme, die Ondaatje kennt.

Gegen Ende des Romans wird Anil von Saraths Bruder, einem Chirurgen, der seit Jahren nichts anderes tut, als Tag und Nacht die Opfer des Terrors zusammenzuflicken, gefragt, ob sie sich daran erinnere, wie amerikanische Filme und englische Bücher für gewöhnlich enden: "Der Amerikaner oder der Engländer besteigt ein Flugzeug und reist ab. Und das war's. Die Kamera verschwindet mit ihm. Er fährt nach Hause. Der Krieg ist also mehr oder weniger zu Ende. Das genügt dem Westen an Wirklichkeit."

Ondaatjes Roman endet anders. Er verliert Anil aus dem Blick und zeigt in Großaufnahme Ananda, wie dieser in uraltem Zeremoniell einer Buddha-Statue bei Sonnenaufgang die Augen bemalt. Ist der Erzähler, im Gegensatz zu Anil, die in die USA fliegen wird, in seine ursprüngliche Kultur zurückgekehrt? Gelingt Rückkehr? Das Kapitel trägt die Überschrift "Ferne", die Frage bleibt offen, es ist gut so, "Anils Geist" ist ein großartiger Roman.

Titelbild

Michael Ondaatje: Anils Geist.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
328 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3446199179

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