Gemalter Schnee

Harald Hartungs frostiger Gedichtband thematisiert das Alter und den Tod

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harald Hartung legt mit „Wintermalerei“ einen intimen Gedichtband vor, er ruft Erinnerungen wach. In fünf Abschnitten thematisieren 55 Gedichte Tod und Abschied. Grau ist es auf den ersten Blick, farbenlos und ernst wie der Winter. Was könnte dann gemalt werden? „Die Farben auf der Palette / trocknen ein“. Doch das ist nur die eine Seite – das schwer zu akzeptierende Schicksal eines Alten, Freunde sterben zu sehen. Harald Hartung, der 1932 geboren wurde, weiß, was das heißt. Er akzeptiert es mit einer Mischung aus Wehmut und Humor, ohne winselnd, wehleidig oder zynisch zu werden.

Da findet der Tod „als Nebenwirkung“ auf dem Beipackzettel Erwähnung. Der Ausweg? „Das Beste ist Arbeit / Mehr wußten wir nicht“. Das Augenzwinkern Hartungs ist nicht zu übersehen. Der kunstfertige Witz versteckt sich hier zwischen den Zeilen. Doch manchmal überrascht Hartung, weil er die Pointe so einfach in die Strophe stellt: Ein grüner Papagei wird entromantisiert: „Er pickt in den Pulli / er läßt etwas Kot“. Was soll das? Der Witz ist an vielen Stellen schlichter Schutz seines Selbst, Verschleierung und manchmal gar überflüssig. Aufkommende Trauer während des Besuches eines Grabes und der Pflege desselben wird schon in der ersten Zeile des Gedichts „Wir bei ihrem Stein“ unterdrückt und mit dem Ausruf „Der Grabstein war ein Sonderangebot“ überspielt.

„Gedächtnis“ heißt dann auch der zweite Abschnitt des Buches. Hartung wirkt dem Vergessen entgegen und scheint der Erinnerung doch gleichzeitig kaum gewachsen. Tief sitzen die Erlebnisse aus der Kindheit, der Weltkrieg, die Nächte im Luftschutzkeller, ein verblutender Landser mit Bauchschuss, „die Kaserne / war gegenüber“. Der Leser wird zu mimetischer Lektüre verleitet.

Aufreizend subjektiv sind die Denkbewegungen, die Hartung vollführt. Er würdigt eine verstorbene Dichterkollegin. Sein Gedicht „Auf den Tod von Inger Christensen“ ist ein Andenken an die 2009 verstorbene dänische Lyrikerin. Doch der Leser erfährt fast nichts über sie oder gar das Verhältnis zum Autor – er belässt es beinahe bei der Information, dass sie eine Brille trug und wohl gerne Alkohol trank. Frostiges Licht und scharfer Wind schlagen dem Leser ins Gesicht. Man liest nur, was man weiß. Das ist „gemalter Schnee“ – und dieses Zitat aus einem Gedicht Theodor Fontanes steht dem Buch voran (nach Fontanes Gedicht „Mein Herze, glaubt’s, ist nicht erkaltet“: „Doch, was in alter Lieb’ ich fühle, / Verschließ ich jetzt in tiefstem Sinn, / Und trag’s nicht fürder ins Gewühle / Der ewig kalten Menschen hin.“).

Hartung fragt sich, was von uns bleibt, wenn wir sterben. Sind es nur „Mütze und Amulett“, die ein Verunglückter hinterlässt, der im Gletschereis „seit einem Schneesturm konserviert“ ist? Das kann Hartung nicht akzeptieren und räumt an anderer Stelle ein: „Nun gut: in Jahren kommt wohl was zusammen“. Er schließt Erinnerungen in den Band ein, widmet das Buch seinen verstorbenen Eltern und gibt gleichzeitig im Kommentar-Teil kaum Hinweise zur Entschlüsselung. Hartung lässt Paradoxes zu. Nicht alles soll erkannt werden – „süße Amnesie“. Es soll „gemalter Schnee“ bleiben, ein Blick auf das Privateste und dennoch nicht „ins Gewühle getragen“ und der „gaffende[n] Menge“ ausgesetzt. Damit gelingt Hartung der unglaubliche Spagat zwischen Distanz und Nähe, ohne unglaubwürdig oder bedeutungsüberladen und zugleich sinnlos zu schreiben.

Mit „Man lebt noch“ ist der letzte Abschnitt des Buches überschrieben. Hoffnung keimt auf. „Was gab es außer Spesen?“ Die Welt ist weiterhin unterwegs, schließt das Ich in „Nachts im Bad“ aus dem „ferne[n] Autobahngeräusch“. Auch wenn Engel als Druckfehler bezeichnet werden und Wein Trost spenden muss, so erinnert sich Hartung doch an eine Lösung : die Liebe. Sein Herz ist nicht erkaltet. „Wintermalerei“ ist ein Kleinod der Sinnsuche. Wer das Radieren beherrscht, der wird den Kern erkennen.

Titelbild

Harald Hartung: Wintermalerei. Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
79 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307773

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