„Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet“

Wolfram Wette schreibt über die Geschichte der deutschen „kriegerischen Kultur“

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einflussreiche Autoren von der Statur Joachim Fests, Wolf Jobst Siedlers und Sebastian Haffners, in jüngerer Zeit angelsächsische Historiker wie Christopher Clark haben Versuche einer Rehabilitierung Preußens unternommen. Dabei wird die kriegerische Eigenart des Landes, sein militärstaatlicher Charakter, entweder bestritten oder mit Hinweis auf allerlei Vorzüge, Toleranz oder Rechtsstaatlichkeit, relativiert. Mit der Reichsgründung des Jahres 1871, so jedenfalls Haffner, habe Preußen eigentlich zu bestehen aufgehört, nicht Deutschland sei in Preußen aufgegangen, eher dieses in jenem. So könne das Staatswesen Friedrichs des Zweiten und Bismarcks für schuldhafte Verstrickungen des Deutschen Reiches nicht in Haftung genommen werden. Die Meinung der Siegermächte, mit preußischem Militarismus habe das Elend Deutschlands, in der Folge Europas, begonnen – dieser sei „auszurotten“, wie das Potsdamer Abkommen festhält –, wird von besagten Autoren mehr oder minder deutlich zurückgewiesen.

Wolfram Wette denkt anders: „Militarismus in Deutschland“, zuerst 2008 erschienen, meistenteils wohlwollend aufgenommen und inzwischen als Taschenbuch auch bei Fischer verfügbar, lässt die Geschichte der „kriegerischen“ deutschen Kultur mit dem „altpreußischen Militärstaat“ einsetzen. „Wie die internationale wissenschaftliche Debatte belegt, ist der preußisch-deutsche Militarismus immer wieder als Prototyp beschrieben worden, als das historische Musterbeispiel von Militarismus.“ Allenfalls Japan werde „im gleichen Atemzug“ genannt. Als „militaristisch“ habe eine „staatliche und gesellschaftliche Ordnung“ zu gelten, die „in dominanter Weise von militärischen Interessen und kriegerischen Denkmustern geprägt“ sei. Der ‚deutsche Sonderweg‘ wird bei Wette nicht verfassungs- oder gesellschafts-, sondern militärgeschichtlich akzentuiert: Vom „altpreußischen Militärstaat“ über die Einigungskriege und Reichsgründung, Wilhelminismus und Weltkrieg zum ‚Tag von Potsdam‘ als Schulterschluss nationalkonservativer Eliten, der Offizierskaste zumal, mit den ‚neuen Herren‘ um Hitler.

Wettes Entschluss, preußische und deutsche Geschichte unter Gesichtspunkten der Kontinuität zusammenzufassen, ist dramaturgisch legitim und sachlich wohlbegründet. Diese Pointierung hat jedoch zur Folge, das solche Elemente der nationalsozialistischen Ideenwelt, die sich zur preußischen nicht fügen wollen – „Volksgemeinschaft“ oder „Führerprinzip“, Rassismus oder Kampf um „Lebensraum“ –, in den Hintergrund treten, der militärische Widerstand dito.

Auch wird der sozialdemokratische Militarismus ausführlich gewürdigt – Wette ist als Biograf Gustav Noskes, des heftig befehdeten sozialdemokratischen Reichswehrministers, hervorgetreten –, der sozialistische Militarismus der DDR, die im historischen Kernland Preußens soldatisches Denken von links her forcierte (bis hin zur paramilitärischen Erziehung der Jugend), wird andererseits wenig berücksichtigt. Dies zu bemängeln, grenzt freilich an Hypokrisie, denn jede Darstellung eines Jahrhunderte übergreifenden Phänomens muss Lücken aufweisen, und „Militarismus in Deutschland“ ist dem Gesamteindruck nach vorzüglich gelungen.

Ein nur vermeintlich simples, von Wette virtuos gehandhabtes Kunstmittel sind suggestiv verdichtende Tatsachenfeststellungen, die Kommentare überflüssig scheinen lassen: „Im [Ersten] Weltkrieg wurden in Deutschland 13 ¼ Millionen Menschen mobilisiert. Am Ende des Krieges umfassten die deutschen Streitkräfte etwa 8 Millionen. Etwa 80 Prozent der gesunden Wehrpflichtigen wurden 1918 zum Kriegsdienst eingezogen. Die Zahl der deutschen Kriegstoten machte nicht weniger als 2 Millionen aus. Im Kriege von 1870/71 waren es nur 44.000 gewesen. 40 Prozent der Männer, die im Alter von 18 bis 45 Jahren standen, fielen dem Krieg zum Opfer. Zwischen 180.000 und 600.000 deutsche Soldaten wurden vermisst. Die Zahl der verwundeten Soldaten betrug 4.22 Millionen. […] Der Durchschnitt der Gefallenen war 1918 19 ½ Jahre alt.“ Schlagender lässt sich Krieg mit Zahlen nicht darstellen, die militärische Durchdringung der deutschen Gesellschaft ebenso wenig.

Was deutsche Gegenwart betrifft, neigt Wette der These zu, das militärische Engagement der Bundesrepublik, durch Gerhard Schröders Serbien- und Afghanistan-Kriege forciert, lasse einige Nähe zu preußisch-deutschem militaristischem Denken erkennen. Die Suspendierung der Wehrpflicht, nach Erscheinen des Buches von einem, gleichwohl nicht preußischen, Aristokraten verkündet, wäre aus Sicht Wolfram Wettes kein zwingender Einwand, denn auch Alt-Preußen und die Reichswehr der Weimarer Zeit verzichteten, freiwillig oder nicht, auf die Wehrpflicht. Gleichwohl sieht Wette keinen Anlass zum Alarmismus: In der deutschen Bevölkerung bestehe „ausgeprägter Friedenswille“; „Kämpferkult“ und „kriegerische Mentalität“ seien im heutigen Deutschland sehr wenig verbreitet. Die deutsche Gesellschaft habe nach 1945 eine „bemerkenswerte historisch-politische Lernfähigkeit“ an den Tag gelegt.

Wette urteilt allgemein sehr dezidiert – und dennoch nicht undifferenziert , wenn es um jüngste sicherheitspolitische Weichenstellungen geht. Sein Widerwille gegen die Schröder’sche „Enttabuierung des Militärischen“ oder Peter Strucks unvergängliches Wort von der Verteidigung Deutschlands „am Hindukusch“ tritt offen zu Tage. Gerade dies werden die Leser ihm danken: Wissenschaftliche Seriosität – terminologische Sorgfalt und forschungsgeschichtliche Selbstreflexion inklusive – wird mit (maßvoller) Polemik gewürzt. Dass derart Vieles und Verschiedenartiges auf nicht einmal 240 Seiten Platz findet, ohne dass jemals der Eindruck übermäßiger Verkürzung entsteht, spricht sehr für Wettes schriftstellerische Fähigkeiten – zumal auch solche Probleme gründlich gewürdigt werden, die im Horizont konventioneller Militärgeschichtsschreibung allenfalls peripher aufscheinen, darunter die Stellung der Frauen im und zum Kriege und die riskante Kontinuität der militärische Elite (samt ihrer Mentalität) vom Nationalsozialismus zur jungen Bundesrepublik.

So viel ist sicher: Wenn 20 Jahre nach der Wiedervereinigung und 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Tendenzen zur ‚Normalisierung‘ deutscher Identität und Rehabilitierung deutschen Nationalstolzes bestehen, erweist sich Wettes Misere-Erzählung vom preußisch-deutschen militaristischen Wesen als wirksames Gegenmittel.

Titelbild

Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
309 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783596181490

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