Nietzsche vor der Rechtschreibreform

Jubiläen beflügeln Verlage zu außerordentlichen Leistungen, zum Beispiel Werkausgaben

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Editionsgeschichte seiner Werke ist lang und bitter, voller Entstellungen, Fälschungen und Verkürzungen. Es mussten erst zwei italienische Gelehrte, Giorgio Colli (Mailand) und Mazzino Montinari (Florenz) kommen, damit die Bemühungen um Friedrich Nietzsche auf ein angemessenes Niveau gehoben werden konnten. Ursprünglich wollten Colli und Montinari, bald nach dem zweiten Weltkrieg, eine Auswahl von Nietzsches Hauptschriften für den italienischen Buchmarkt vorbereiten. Die kritische Prüfung der gängigen deutschen Editionen führte sie jedoch nach Weimar, wo sie - mit Unterstützung der Archive und Forschungsstätten der DDR - erst einmal den deutschen Nietzsche aus den Quellen erarbeiteten. Die Weimarer Manuskripte, die seit 1897 in der "Villa Silberblick" lagerten, galten lange Zeit als unzugänglich oder gar als verschollen, der Autor selbst, als angeblicher Vordenker der Nazis, als persona non grata; doch Mazzino Montinari gelang es, die Nachlassverwalter in der DDR von der Notwendigkeit einer europäischen Großedition zu überzeugen.

Der Walter de Gruyter Verlag in Berlin konnte für die "Kritische Gesamtausgabe" gewonnen werden, die Verlage Adelphi (Mailand) und Gallimard (Paris) finanzierten die italienischen bzw. französischen Parallelausgaben. Seit 1967, seit dem Start der Kritischen Gesamtausgabe, kamen jährlich im Schnitt zwei Bände heraus, ein vergleichsweise rascher Takt, denkt man an andere Werkausgaben ähnlichen Ranges und Umfangs. Etwa 30 Text- und Apparatebände sollten es insgesamt werden, umfangreiche "Nachberichte" zu allen Abteilungen, Zitatnachweise, diverse, auf Dokumente gestützte Chroniken der entsprechenden Lebensphasen und eine Konkordanz der "Nachgelassenen Fragmente" eingerechnet.

Nietzsches Briefe waren da noch gar nicht berücksichtigt. Bei den von Nietzsche selbst veröffentlichten Arbeiten dienten die Erstdrucke als Vorlage, sowie die von ihm abgesegneten Neuausgaben. Schwieriger waren die Probleme beim Nachlass zu bewältigen: Probleme bei der Entzifferung der letzten Fragmente und bei der Bestimmung ihrer Chronologie, die zeitliche und sachlich schwierige Zuordnung der Nachlassfragmente zu den einzelnen Werken verzögerten die Herausgabe.

Die philologische und historische Bedeutung der Ausgabe wurde rasch erkannt. Hier hatte man erstmals einen authentischen Text, der den fragwürdigen Vorgaben Peter Gasts widersprach, dem ehemaligen Mitarbeiter von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster. Die kritische Ausgabe von Colli/Montinari machte die Entstellungen Peter Gasts und Elisabeth Förster-Nietzsches rückgängig; sie präsentierte einen Text, in dem das "Philosophiren" und "Interpretiren" mit einfachem "i" erfolgte, die "Tragoedie" des Sokrates als "nothwendige Consequenz" erschien und die "griechische Tragoedie" durch Selbstmord starb. Sie präsentierte einen Nietzsche quasi vor der Rechtschreibreform.

Die rasch und stetig erscheinende "Kritische Gesamtausgabe" initiierte eine große und umfassende europäische Nietzsche-Renaissance - ein Modephilosoph war geboren, der besonders intensiv in Deutschland, Italien und Frankreich (unter anderem durch Michel Foucault) rezipiert wurde. Diese neue Rezeption erbrachte kein völlig neues Nietzsche-Bild, aber den "endgültigen Erweis der Unhaltbarkeit aller Interpretationen, die die sich auf ein 'Hauptwerk', den 'Willen zur Macht' stützen" (Montinari). Auf der Basis der Gesamtausgabe erschien 1980 die "Kritische Studienausgabe" in 15 Bänden, unter Verzicht auf die Jugendarbeiten und die rein philologischen Schriften. Diese Studienausgabe, eine Gemeinschaftsleistung von dtv und de Gruyter, besteht aus 13 Textbänden, einem Kommentarband und einem Band mit einer Chronik zu Nietzsches Leben, einer Konkordanz, einem Verzeichnis der Gedichte und einem Gesamtregister. Jedem Einzelband ist ein instruktives Nachwort beigegeben, das die jeweiligen Einzelschriften in den Kontext des übrigen Werkes einordnet.

Giorgio Colli erlebte das Erscheinen dieser Edition nicht mehr - er starb 1979. Mazzino Montinari, Collis Schüler, führte die Kritische Gesamtausgabe allein weiter. Er starb 1986 im Alter von 58 Jahren an einem Herzinfarkt, von den acht geplanten Kommentarbänden zur Gesamtausgabe konnte er immerhin drei noch fertigstellen. Die editorisch-philologische Leistung der beiden Italiener setzt bis heute Maßstäbe. Sie hatten sich vorgenommen, die zahllosen Lektürenotizen, Exzerpte, versteckten Zitate, Übersetzungen und Paraphrasen minutiös nachzuweisen. Ihr Weg führte zu Nietzsches Bibliothek und von seinen Aphorismen zu seinen Quellen und Kontakten. Etwa zur gleichen Zeit, Ende der 60-er, Anfang der 70-er Jahre, als das monumentale Projekt der Nietzsche-Rekonstruktion durch Colli und Montinari bereits erkennbar war, machte sich auch der junge Germanist Peter Pütz an seine erste große Nietzsche-Monographie, der zahlreiche Publikationen zu Nietzsche und der Nietzsche-Rezeption (unter anderem Thomas Manns) folgen sollten. Später besorgte Pütz eine Werkausgabe in zehn Einzelbänden, die zum 100. Todestag des Philosophen in einer Kassette vorliegt. Diese Ausgabe beruht auf den noch zu Lebzeiten Nietzsches erschienenen Texten; sie berücksichtigt neben den Befunden Collis und Montinaris auch die Karl Schlechtas, der in den fünfziger Jahren die viel zitierte dreibändige Hanser-Ausgabe herausgegeben hat.

Peter Pütz legt das sogenannte Hauptwerk vor, verzichtet aber auf die Nachlassbände der "Kritischen Gesamtausgabe". Er ordnet das Werk drei Phasen zu: Die erste umfasst "Die Geburt der Tragödie" (1872) sowie die "Unzeitgemäßen Betrachtungen" (1873 - 76). Die zweite Phase setzt ein mit "Menschliches, Allzumenschliches" (1878) und reicht über die "Morgenröte" (1881) bis zur "Fröhlichen Wissenschaft" (1882). Die dritte Phase schließlich, in der Nietzsche versuchte, sein "Wahrheitspathos" zu überwinden, setzt mit der "Fröhlichen Wissenschaft" ein und umfasst auch den "Zarathustra" (1883 - 1885). Jedem Band ist ein Nachwort, ein Anmerkungsteil, eine Zeittafel und eine Bibliographie (ggf. auch ein Register) beigegeben. Nachwort und Anmerkungsteil sind unterschiedlich in Umfang und Qualität: relativ profund und ausführlich zu den "Unzeitgemäßen Betrachtungen" etwa, eher schmal und aufs Notwendigste reduziert bei "Menschliches, Allzumenschliches". Zusammengenommen würden diese Nachwörter und Materialien eine eigene Monographie ergeben. Am Leitfaden der Genese des Œuvres wird auch die geistige Biographie des Philosophen entwickelt. Pütz ist hier noch sehr der Metaphorik Nietzsches und des 19. Jahrhunderts verpflichtet: Pütz beschreibt Nietzsche nicht als Systematiker, sondern als Schriftsteller, der in Widersprüchen denkt und spricht, verweist zugleich aber darauf, dass der emphatische Begriff der "Einheit" auch für diesen "Zerrissenen" einen hohen Stellenwert habe und ein erstrebenswertes Ziel bezeichne. Pütz illustriert dies etwa an Nietzsches "fast [sic!] unerträglichen Ausfällen gegen Frauen" und seinem "tiefen Respekt" vor dem "Weibe".

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Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke, 10 Bände.
Goldmann Verlag, München 2000.
75,70 EUR.
ISBN-10: 3442909740

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