Vorbild als Schreckbild

Thomas Mergels Studie „Propaganda nach Hitler“ handelt von der bundesrepublikanischen Wahlkampfkultur

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Komposita mit „-Kultur“ – beispielsweise „Wahlkampfkultur“ – haftet das Odium des Phrasenhaften an. Trotzdem ist es angebracht, Thomas Mergels „Propaganda nach Hitler“ als Analyse bundesrepublikanischer ‚Wahlkampfkultur‘ zwischen 1949 und 1990 zu etikettieren, denn eine chronologisch fortlaufende Ereignisgeschichte, ob an Namen oder Institutionen befestigt, wird ausdrücklich nicht angestrebt. Mergels Buch handelt nicht von Verlauf, Ergebnis und Folgen einzelner Bundestagswahlkämpfe, sondern von sich fortzeugenden Formen politischer Kommunikation. Nicht ‚harte Fakten‘ stehen im Vordergrund, sondern die Praxis staatlichen, demokratischen Lebens.

Der erste Hauptabschnitt ist eigentümlich deutschen Traditionen politischer Kommunikation gewidmet. Als wichtigste Charakteristika firmiert das Bestreben der bürgerlichen Revolutionäre von 1848, darüber hinaus einiger Landesherren, Wahlkampf als Unterricht in Staatsbürgerkunde auszugestalten, sowie die Suche nach dem einen, besten Kandidaten, der zur Fortentwicklung des Staatswesens als Ganzen am meisten beizutragen verstünde. Seit den preußischen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts hatte in Deutschland die Überzeugung Bestand, dass politische Mitwirkung ohne politische Bildung fatal wirken müsse: Der Aufstand des Vierten Standes in der Französischen Revolution habe ein abschreckendes Beispiel gegeben. So konnte in Deutschland vor und während der Kaiserzeit die kuriose Situation entstehen, dass die demokratischen Institutionen schwach ausgebildet waren – Thomas Mergel spricht ausdrücklich nicht von ‚Demokratie‘ –, doch die wahlberechtigten Bürger im europäischen Vergleich über politische Zusammenhänge ungewöhnlich gut informiert waren.

Dass Analphabetismus im kaiserzeitlichen Deutschland keine Rolle mehr spielt – ganz anders als zum Beispiel beim österreichischen Nachbarn – tut sein Übriges. Alle Stimmbürger – und viele, denen das Wahlrecht vorenthalten bleibt: die Frauen – können lesen, sodass die Grundvoraussetzung für den Zugang zu politischer Information gegeben ist. So bringen Reichstagswahlen Millionen von Flugschriften und politischen Fibeln übers Land. Allein eine Demokratiegeschichtsschreibung ‚von unten‘, die nach Verankerungen der Institutionen in lebensweltlicher Praxis forscht, kann solche Zusammenhänge sichtbar machen, und damit ist Mergels Ziel für „Propaganda nach Hitler“ bezeichnet.

Der zweite und dritte Hauptteil befasst sich mit Einzelaspekten politischen „Marketings“, darunter der im Vergleich mit kommerzieller Werbung, aber auch angelsächsischer Wahlkampfkultur auffälligen Dominanz des gesprochenen und geschriebenen Wortes, der ausgeprägten „Sachlichkeit“ deutscher politischer Kommunikation. Auch an dieser Stelle wirken die protestantische Wortreligion und pädagogische Ambitionen des deutschen Staatswesens nach; letztere verstärkt durch das Bemühen, nach 1945 kein zweites Mal Propaganda zuzulassen, die ungefiltert in Eingeweide und Beine fährt. Gerade Amerika, Vorbild durch ungebrochene demokratische Tradition und treibende Kraft der reeducation, gerät zum Schreckbild politischen Marketings, das ungeniert nicht auf Inhalte, sondern auf Personen setzt, die suggestive Kraft der Massenmedien nutzt und Berufszweige hervorbringt, die ausdrücklich das eine Ziel verfolgen, die öffentliche Meinung zu manipulieren: „Personalisierung“, „Medialisierung“ und „Professionalisierung“ – so Mergels Redeweisen – sind sämtlich bereits in der Propaganda des Nationalsozialismus nachzuweisen. Dennoch gehören sie zum Kernrepertoire des demokratischen Betriebs – gerade in großen, komplexen Gesellschaften, die in besonderem Maße auf professionell verdichtende politische Kommunikation angewiesen sind.

„Amerikanisierende“ Tendenzen setzen sich in Deutschland zumal in den 1980er-Jahren durch: Obwohl der Übergang vom sozial-liberalen Jahrzehnt des freiheitlichen ‚Sozialismus‘ à la Willy Brandt zum „Weiter so, Deutschland“ Helmut Kohls durchaus keine konservative „geistig-moralische“ „Wende“ herbeiführte, da weder außen- noch innenpolitisch grundstürzende Neuerungen durchgesetzt wurden, können die 1980er-Jahre dennoch als bundesrepublikanische Schwellenzeit gelten, zumal mit der Wiedervereinigung eine markante Umgründung des Staates ins Haus stand: „Seit etwa Mitte der achtziger Jahre änderte sich […] die Kultur des Wahlkampfs in der Bundesrepublik, und das ist ein Grund, warum diese Studie 1990 endet. Denn hier änderte nicht nur ein Staat seine Form grundlegend, sondern auch die Bedingungen der politischen Kommunikation wandelten sich. […] Mit der Einführung des dualen Systems von privaten und öffentlich-rechtlichen elektronischen Medien entstand der Politik ein Aufmerksamkeitsproblem, denn die neuen Medien waren in viel höherem Maß unterhaltungsorientiert. […] Das zwang die Politik dazu, selber stärker unterhaltungsorientiert zu werden.“

In dieser Sicht zeigt die ‚Berliner Republik‘ sich gerade nicht ‚protestantischer und östlicher‘ als ihr Bonner Vorgängerstaat, wie rheinische und bayerische Wortführer eines politischen Katholizismus vorhergesagt und befürchtet hatten, vielmehr ist der pädagogische Impetus, der die politische Kommunikation nach Bonner Art ausgezeichnet hatte – und recht präzise protestantischen Traditionen entspricht –, zusehends zurückgetreten, wodurch sich die deutsche Wahlkampfkultur der Tendenz nach ‚verwestlicht‘ und „amerikanisiert“. Verstärkend tritt, ebenfalls seit den 1980er-Jahren, das Phänomen der ‚Politikverdrossenheit‘ und des Misstrauens gegenüber Parteien als solchen hinzu: „Beide Faktoren für das Aufmerksamkeitsproblem – die abnehmende Akzeptanz der Parteien und der Wandel der medialen Strukturen – wandelten die Strategien des politischen Marketings. Im Mittelpunkt steht seither vor allem, wie man den Bürger überhaupt für die Wahl interessiert“.

Trotz allem wird, wie Mergel hervorhebt, der Vorrang des ernst und bedächtig gesprochenen Wortes nicht vollständig aufgegeben: In manchen Nuancen scheint die didaktische Prägung deutscher Wahlkampftraditionen immer noch auf, eine weit reichende „Boulevardisierung“ der politischen Kommunikation nach amerikanischer oder – postdemokratisch-burlesk – italienischer Art ist in Deutschland nicht festzustellen. Auch stützen sich Wahlkämpfe hierzulande auf die Parteien. Diese stellen strukturell und ideologisch einigermaßen stabile Größen dar und wirken einer exzessiven „Personalisierung“ des Wahlkampfs entgegen. Angela Merkel, die jeder „medialen Passform“ entbehrt, verkörpert – Medialisierung hin oder her – die stolze Nüchternheit der deutschen politischen Klasse in eindrucksvoller Weise.

Thomas Mergel widmet „Propaganda nach Hitler“ weder Wahlkämpfern noch Gewählten, nicht Politikern noch Politik-Beratern, sondern dem Wähler: „Mein Vater Leo Mergel hat mich das erste Mal zum Wählen mitgenommen – eine Regensburger Landratswahl um 1970. Er hat mir die Grundzüge der politischen Willensbildung erklärt, in meiner wilden Zeit mit mir über den Staat gestritten, auch mit seiner eigenen Skepsis gegenüber der Demokratie nie hinter dem Berg gehalten. Als Angehörigem einer Generation, die nach den Erfahrungen von Diktatur und Krieg die Demokratie mühsam lernen musste, diese dann aber mit viel Energie zu ihrer Sache gemacht hat, handelt das Buch irgendwie auch von ihm. Seinem Gedächtnis ist es gewidmet.“

Titelbild

Thomas Mergel: Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949 - 1990.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
415 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835307797

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