Philosophierende Überlebensakrobaten

Phallogozentrische Zirkelschlüsse und Geschlechtermaskerade in Thomas Bernhards Werk

Von Mireille TabahRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mireille Tabah

„Die Wissenschaft des Gehens und die Wissenschaft des Denkens sind im Grunde genommen eine einzige Wissenschaft“, heißt es in Thomas Bernhards Erzählung „Gehen“ (1971). Seien sie Ich-Erzähler oder Hauptfiguren, Chronisten des leidvollen Lebens, des Verrücktwerdens und oft auch des Todes der Hauptgestalt oder Objekte seines Berichts – Bernhards Protagonisten gehen auf dem Lande oder durch die Großstadt Wien, durch Wälder, Parks oder Straßen. Sie gehen hin und her und auf und ab. Oder sie gehen in eine bestimmte Richtung weiter, mit Vorliebe in eine „Gegenrichtung“, die sie dennoch immer zurück zu ihrem Ausgangspunkt führt. Stellvertretend dafür steht der wegen des Mordes an seiner Frau zu zweiundzwanzig Jahren Haft verurteilte, nun aus dem Zuchthaus entlassene Transvestit aus dem Prosastück „Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?“ (1967). Er ist „am heutigen Tag elf Stunden ununterbrochen […] in einem einzigen Gedanken gegangen, ‚nicht auf und ab‘ sagte er, sondern ‚immer geradeaus, und wie ich jetzt sehe‘, sagte er, ‚doch immer im Kreis. Verrückt, nicht wahr?‘“

Die Fort- und Gegenbewegung ist eine illusorische, die Protagonisten treten buchstäblich auf der Stelle. Nur scheinbar gehen sie von einem ihnen unerträglichen Ort, aus einem nicht länger auszuhaltenden Zustand weg, der sie doch immer wieder einholt und sie in eine noch tiefere Depression, in den Wahnsinn oder in den Selbstmord stürzt. So wird Karrer in „Gehen“ ausgerechnet dann verrückt, nachdem er auf seinem montäglichen Spaziergang vom 9. bis zum 20. Wiener Bezirk in Begleitung seines Freundes Oehlers beim Rückweg nicht in die Klosterneuburgerstraße, in das ebenso geliebte wie schmerzhafte Gebiet seiner frühen Kindheit, zurück, sondern weg von ihr in eine Nebenstraße und in den verhängnisvollen Wirkwarenladen Rustenschachers gegangen ist, in dem er endgültig zusammenbricht.

Umgekehrt stirbt Murau im Roman „Auslöschung“ genau ein Jahr, nachdem er von seinem Zufluchtsort Rom nach Wolfsegg, in das verhasste Territorium seiner Herkunft, zurückkehren musste. Wieder in Rom, kann er nur durch den Tod die Vergangenheit tatsächlich für sich auslöschen: Gescheitert ist wie auch immer bei Bernhard die erhoffte Existenzrettung durch die Niederschrift einer Studie. Jeder Weg weg von fürchterlichen familiären Verhältnissen, weg vom katholisch-nationalsozialistischen Österreich, jeder Ausbruchsversuch aus der erstickenden Atmosphäre des „Denkkerkers“ und „Existenzkerkers“, in dem Bernhards Männerfiguren sich mit stets stockender Arbeit an (geistes-)wissenschaftlichen Abhandlungen über ihren „Herkunftskomplex“ (Hans Höller) und ihre Existenzunfähigkeit hinwegzutäuschen bemühen, führt auf zirkulären Umwegen zum Ausgangspunkt zurück: „Wenn wir gehen, gehen wir von einer Ausweglosigkeit in die andere.“ („Gehen“)

Die Regeneration ihres Körpers und ihres Denkens, die Bernhards Protagonisten sich von ihren Wanderungen erhoffen, gelingt ihnen immer nur vorläufig und endet stets in einer noch „größere[n] Deprimation“ („Gehen“). Davon zeugt besonders eindrucksvoll die Erzählung „Ja“. Die gemeinsamen Spaziergänge des Ich-Erzählers und der Perserin durch den Lärchenwald, bei denen sie über Robert Schumann und Arthur Schopenhauer und über die fürchterlichen Zustände in Österreich ihre Gedanken austauschen, hilft ihnen nur eine Zeit lang über ihre Niedergeschlagenheit hinweg: Die Perserin begeht den angekündigten Selbstmord, der Ich-Erzähler kann sich nur vorläufig vor dem eigenen Zusammenbruch retten, indem er über den Tod seiner Geh- und Gesprächspartnerin schreibt. Doch auch das Schreiben ermöglicht nur ein vorübergehendes Überleben, wie Muraus Tod in „Auslöschung“ zeigt. Der Wahnsinn oder der Tod sind die einzige Erlösung aus dem Teufelskreis, in dem sich Bernhards Gestalten bewegen.

Das zirkuläre Gehen des Geistesmenschen symbolisiert die Ohnmacht des menschlichen Geistes überhaupt. Zwar setzt das Gehen das Denken erst in Gang, doch das Denken bewegt sich im Kreis wie die Figuren auf ihren Spaziergängen. Jedes Denken ist sinn- und zwecklos, weil die Begriffe, die die dem Geistesmenschen zur Verfügung stehen, ausnahmslos „falsch“ sind; denn „alles [ist] immer etwas ganz anderes, als es für uns ist“, sagt Oehler in „Gehen“. „Und immer etwas ganz anderes, als es für alles andere ist“. Also ist das, was wir Wissenschaft, Ästhetik oder Philosophie nennen, nur eine „so genannte“, eine Pseudo-Wissenschaft, -Ästhetik oder -Philosophie: „Sehen sie“, sagt Oehler, „wir können, gleich was für eine Frage, stellen, wir können die Frage nicht beantworten, wenn wir sie wirklich beantworten wollen, insofern ist überhaupt keine Frage auf der Begriffswelt zu beantworten.“

Es handelt sich hier nicht nur um eine Anspielung auf Ludwig Wittgensteins Zurückweisung aller metaphysischen, per definitionem „sinnlosen“ Scheinaussagen über die Welt. Der postmoderne Relativismus, der sich bei Bernhard in solchen Passagen kundtut, ist die Antwort des Autors auf den Totalitäts- und Absolutheitsanspruchs des abendländischen Denkens, das Jacques Derrida als „Logozentrismus“ und in Anlehnung an Jacques Lacans Subjekttheorie, nach der in der logozentrischen beziehungsweise symbolischen Ordnung der Phallus der primäre Signifikant ist, genauer als „Phallogozentrismus“ bezeichnet hat („La Carte postale“, 1980). Dem abendländischen Denken gilt der Logos im Sinne von – dem männlichen Geschlecht zugeschriebenem – Verstand, Begriff oder Gedanken als Mittelpunkt jedes Denksystems und Ursprung der binären Oppositionen – Geist/Natur, Form/Materie, Subjekt/Objekt, Mann/Frau –, die die Welt hierarchisch strukturieren.

Gerade dieser für Ordnung, Orientierung und Sicherheit bürgenden Denkweise, die alle traditionellen Diskurse über Ganzheit, Vollkommenheit und nicht zuletzt über die transzendentale Freiheit und Autonomie des Subjekts prägt, frönen Bernhards Geistesmenschen in der Kälte und Einsamkeit des „Denkkerkers“, aus dem sie vergeblich zu fliehen suchen. Immer geht es ihnen darum, die endgültige wissenschaftliche, ästhetische oder philosophische Studie hervorzubringen, die alle metaphysischen Fragen beantworten soll, immer sind sie auf jene Erkenntnis des Absoluten manisch fixiert, die der „männliche“ Logos gewährleisten und die ihnen eine feste, „männliche“ Identität garantieren soll.

Bernhard hat für die lebensfeindliche Rationalität des phallogozentrischen Denksystems eindrucksvolle Bilder gefunden. Am einprägsamsten sind der mörderische Kegel, den Roithamer in „Korrektur“ für seine Schwester gebaut hat, und das ebenso tödliche Betonhaus, in dem in „Ja“ der Mann der Perserin diese verlässt. Die phallogozentrische Denkweise aber führt die männlichen Protagonisten selbst zum unvermeidlichen Scheitern nicht nur ihrer Studie, sondern überhaupt ihrer Existenz. Die Idee einer ganzheitlichen Weltordnung, in welcher der Einzelne sich an fest hierarchisierten Gegensätzen orientieren und eine stabile Identität aufbauen könne, hat sich für Bernhards Geistesmenschen erledigt: „Wie doch alles zerbröckelt ist, wie sich doch alles aufgelöst hat, wie sich doch alle Anhaltspunkte aufgelöst haben, wie jede Festigkeit sich verflüchtigt hat […], wie die Wissenschaft, die heutige Wissenschaft […] alles hinausgeworfen und hinauskomplimentiert und hinausgeblasen hat in die Luft […]: alle Begriffe sind Luft, alle Anhaltspunkte sind Luft […].“ „Gefrorene Luft, alles ist nur mehr gefrorene Luft…“ („Frost“, 1963)

In seiner Bremer Rede von 1965 stellt Bernhard die Kälte als eine geschichtliche Erfahrung dar und bringt sie bezeichnenderweise mit der Entwicklung der europäischen Wissenschaft in Zusammenhang: „Wir stehen auf dem fürchterlichsten Territorium der ganzen Geschichte. […] Alles hat sich verändert, weil wir es verändert haben […]. Wir sind von der Klarheit, aus welcher unsere Welt plötzlich ist, unserer Wissenschaftswelt, erschrocken; wir frieren in dieser Klarheit.“

Bernhards Geistesmenschen sind „Überlebenskünstler“ in der Kälte, in die das abendländische Denken die Menschheit geführt hat; dies ist des Autors Version der „Dialektik der Aufklärung“. Die ureigenste Kunst des Überlebenskünstlers besteht nun darin, so lange im Kreise zu denken, wie es ihnen die einkalkulierte Illusion ermöglicht, ihr durch die tödlichen familiären, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse in Österreich und auf der ganzen Welt gefährdetes Ich durch geistige Aktivität aufrecht zu erhalten. Solche bewusst eingesetzte, weil Existenz rettende Selbsttäuschung verlangt vom Geistesmenschen eine wahrhaft unmenschliche Geistesanstrengung und Selbstdisziplinierung. Er gleicht einem Seilakrobaten, der über jenem Abgrund tanzt, den die postmoderne „Auflösung aller Begriffe“ („Verstörung“, 1967) und die entsprechende Absurdität aller Wahrheitsansprüche in der „begriffslosen Begriffswelt“ („Frost“) aufgerissen haben.

Bei solchen äquilibristischen Kunststücken hängt das Überleben von der Fähigkeit des Denkers ab, rechtzeitig mit dem Denken aufzuhören, also vor der endgültigen, verrückt machenden oder tödlichen Einsicht in die Unmöglichkeit, auf die letzte, entscheidende Frage nach dem Sinn des Seins anders als in der Negative zu antworten: „[…] ist die Frage beantwortet, endgültig beantwortet, existiert der, der die Frage gestellt hat, nicht mehr […]. Indem wir nicht alles bezeichnen und dadurch niemals absolut denken können, existieren wir und gibt es außer uns Existenz, sagt Oehler. Aber fragen Sie nicht, was die Existenz außer uns ist, sagt Oehler. Sind wir so weit gekommen, wie wir jetzt (in Gedanken) gekommen sind, sagt Oehler, müssen wir die Konsequenzen daraus ziehen und diese (oder den) Gedanken, der oder die es ermöglicht hat (oder haben), daß wir so weit gekommen sind, abbrechen.“ („Gehen“)

Doch immer wieder unterschätzt der Bernhard’sche Geistesmensch die Folgen der körperlichen und vor allem geistigen Erschöpfung, in die er sich mit immer stärkerer Denkintensität hineingesteigert hat: „Die Intensität ist immer noch mehr zu steigern, kann sein, einmal überschreitet diese Übung die Grenze zur Verrücktheit“ („Gehen“) oder zum Tod. Die unvermeidliche „Nervenanspannung“, die mit der lebensnotwendigen Praxis konzentrierten Denkens verbunden ist, darf „immer nur bis zu dem Grade der Erschöpfung“ („Gehen“) ausgehalten werden, in dem der Denkende seine Kunst noch beherrscht und die Nervenanspannung nicht in den Nervenzusammenbruch oder in den Selbstmord übergeht. Die Abdankung aller starren Begriffe und imaginären Wahrheiten, die eine, wenn auch illusorische, Identität und Stabilität verschaffen, kann der Geistesmensch nur so lange überspielen, den Sturz in den Wahnsinn oder den Selbstmord kann er nur so lange aufschieben, wie er sich an der von ihm bewusst gepflegten Illusion festzuklammern vermag, dass gerade das Denken, genauer: die dichotomisierende und hierarchisierende Denkordnung der phallogozentrischen, abendländischen Kultur ihn am Leben erhalten kann.

Bernhards philosophierende Überlebensakrobaten sind als solche immer auch Artisten, die ihre (Un-)Geschicklichkeitsübungen im Meistern der Denk- und (Über-)Lebenskunst ja nicht nur in den Theaterstücken des Autors vorführen. „Theatralität“ ist die zentrale Textstrategie bei Bernhard überhaupt. Deren Hauptfunktion ist, die dargestellten Denk- und Sprechvorgänge als künstliche Konstrukte bewusst zu machen: „In meinen [Bernhards] Büchern ist alles künstlich, das heißt, alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich auf einer Bühne ab“ („Der Italiener“,1989). Durch die Hervorhebung des Spielcharakters der „Vorgänge äußerer wie innerer Natur“ in der Erzählprosa und dem Theater Thomas Bernhards wird eine Überkünstlichkeit erreicht, die sich unmissverständlich als solche zu erkennen gibt. Indem der Autor seine Protagonisten derart überdeutlich zum Gegenstand der Inszenierung macht, stellt er ihre Gedanken, Reden und Akte zugleich als performance heraus. Das heißt: er zeigt nicht bloß, wie inszenatorisch, sondern dadurch auch wie rollenfixiert sie sind. Performance ist für Theater- und genereller Kulturtheoretiker bekanntlich „restored behavior“, nämlich die Reinszenierung soziokulturell normierter Handlungen, durch die sich „Identität“ konstituiert – wobei Sprechakte, in und mit denen Gedanken sich vollziehen, als Handlungen zu betrachten sind. In diesem Sinne lässt sich das monomanische Festhalten von Bernhards Geistesmenschen an der starren Begriffswelt der abendländischen Kultur als zwanghaftes Wiederholen und Zitieren hegemonialer Muster des Denkens, eben als kulturelle Performanz, lesen. Der Diskurs des Geistesmenschen wird als Effekt des herrschenden (phal-)logozentrischen Diskurses aufgedeckt. Dabei wird dessen totalitärer und imaginärer Charakter nicht nur durch das unvermeidliche Scheitern der Studie und den endgültigen Sturz jener Figuren, die die Suche nach dem Absoluten nicht rechtzeitig aufgeben, nachgewiesen, sondern auch gerade durch die übertriebene Theatralität und Künstlichkeit ihrer Performanz. Bei Bernhard ist die Reinszenierung hegemonialer Sprech-, Denk- und Verhaltensnormen immer auch deren „verstörende“ Reartikulation und Subversion durch Bewusstmachung ihres Konstruktcharakters.

Alles Konstruierte lässt sich per definitionem dekonstruieren – also eben als kulturelle Symbolisierungspraktik aufdecken, die innere und äußere Konflikte nur scheinbar überwindet und Identität imaginär herstellt –, indem die ungelösten Widersprüche, die durch kulturelle Repräsentationen und Konstruktionen überdeckt sind, aufgezeigt und ad absurdum geführt werden. Denken heißt in diesem Sinne, ganz anders als bei der üblichen Denkweise des Geistesmenschen, die Kategorien des (phal-)logozentrischen Denkens, das die Welt in ein hierarchisches System von Oppositionspaaren ordnet, aufzulösen: „Wer denkt, löst auf, hebt auf, katastrophiert, demoliert, zersetzt, denn denken ist folgerichtig die Auflösung aller Begriffe […]“ (Rede anlässlich der Büchner-Preisverleihung).

Dies betrifft nicht nur die grundlegende Relativierung des „transzendentalen“, mit sich selbst identischen, à priori freien, selbstreflexiven und selbstverantwortlichen Subjekts idealistischer Prägung in der Gestalt des Geistesmenschen, sondern im Zusammenhang damit auch die herkömmliche Hierarchisierung von Mann und Frau. Gerade da, wo der Autor sich selbst und seine Protagonisten als monströse Patriarchen inszeniert, stellt sich seine Übertreibungskunst als subtile Parodie des Phallogozentrismus heraus. Die Überlegenheit des „männlichen“ Geistes über die herkömmlicherweise mit dem „Weiblichen“ assoziierte Natur und Körperlichkeit, durch welche die Herrschaft des Mannes über die Frau in der abendländischen Kultur gerechtfertigt wird, ja Männlichkeit überhaupt entpuppt sich bei Bernhard als Maskerade. Die patriarchalischen Geschlechterverhältnisse werden dabei als Performanz entlarvt, deren Funktion die Stabilisierung des gefährdeten Ichs des – mit Ausnahme der Perserin in „Ja“ und von Maria in „Auslöschung“ – männlichen Geistesmenschen und die Konsolidierung seiner Macht ist.

Dies lässt sich an mehreren Beispielen nachweisen. Unbarmherzig bemühen sich Bernhards Geistesmenschen, sich gegen eine Welt durchzusetzen, die von der Vergänglichkeit der Natur und des Körpers, von Chaos und Zerfall, Krankheit und Tod geprägt ist, indem sie ihre bedrohliche Umwelt durch weibliche Repräsentationen ersetzen, die von ihnen besessen und beherrscht, ausgegrenzt und vernichtet werden, ja indem sie oft buchstäblich über Frauenleichen gehen. Bernhards Männerfiguren üben eine scheinbar uneingeschränkte Herrschaft über Frauen aus, die sie rücksichtslos für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren, demütigen und quälen – am krassesten in den Theaterstücken: Man denke etwa an Caribaldi in „Die Macht der Gewohnheit“, an den „Weltverbesserer“, an Rudolf Höller aus „Vor dem Ruhestand“, an den „Theatermacher“ Bruscon oder an Professor Schuster in „Heldenplatz“.

Wie Bruscon seine Theatertruppe, insbesondere aber seine kränkelnde Frau, die im ganzen Stück kein einziges Wort spricht, und seine Tochter (allerdings auch den „geistlosen“ Sohn) mit der Einübung seiner ‚genialen‘ „Weltgeschichtskomödie“ martert, tyrannisiert sein Pendant Caribaldi seit 22 Jahren seine Zirkustruppe und Ersatzfamilie mit der alltäglichen Probe von Franz Schuberts „Forellenquintett“. Das Hören und Üben vollkommener Musik steht dabei als Sinnbild für richtiges Zuhören, das heißt für Welterkenntnis. Insbesondere aber seine Enkelin, Seiltänzerin und Mädchen für alles im großväterlichen Zirkus, quält Caribaldi mit einer gut dosierten Mischung aus Liebkosungen, erniedrigenden Aufträgen und erschöpfenden Turnübungen. Die Hassliebe – Liebe zu dem ihm am nächsten stehenden Familienmitglied, Hass auf das für ihn „naturgemäß“ geist- und willenlose „schwache Geschlecht“ –, die er für die eigene Tochter, auch sie eine Seilakrobatin, empfand, reproduziert nun Caribaldi in seinem Verhältnis zur Enkelin. Durch einen klassischen Projektionsmechanismus sollen deren Leiden die Schuld des Großvaters am Tode der eigenen Tochter kompensieren: Kaum war diese, nachdem die Raubtiere des Zirkus sie zerfleischt hatten, „zusammengeflickt“, hatte sie, wohl auf Befehl des Vaters, wieder ihren Seiltanz ausgeführt und war abgestürzt. Die seelischen Schäden, die der Tod der Mutter bei seiner Enkelin verursacht haben müssen, spielen für Caribaldis Schuldgefühl keine Rolle: Für ihn existiert sie nur als perfekt seiltanzende Marionnette.

Selbst der verstorbene jüdische Professor Josef Schuster aus „Heldenplatz“ hat seiner Frau und seinen Töchtern gegenüber die dem Ehemann und Vater soziokulturell zugeschriebene Autorität als Selbsterhaltungsstrategie eingesetzt. Den Erinnerungszwang an den nationalsozialistischen Terror, der ihn schließlich in den Selbstmord trieb, hat er, zwar vergeblich, aber zerstörerisch, durch die „männliche“ Rolle des Geistesmenschen und Haustyrannen kompensiert. Gegenüber dem eigenen, tödlichen Entsetzen über das Fortbestehen nationalsozialistischer Mentalität in Österreich haben die Leiden seiner Frau nicht schwer gewogen. Doch auch für sie ist die Erinnerung an die Judenverfolgung, die durch die in ihren Ohren noch widerhallenden Jubelschreie der Österreicher 1938 auf dem Heldenplatz immer von neuem geweckt wird, unerträglich und schließlich tödlich. Seien sie Künstler, Philosophen, Wissenschaftler – im Prinzip Vertreter aufklärerischen Denkens –, Nationalsozialisten oder Juden, kein bernhardscher Protagonist entgeht dem gewaltsamen „Gesetz des Vaters“, das Frauen zu ohnmächtigen Objekten von Männern macht.

Die brutale Funktionalisierung von Frauen zu Verkörperungen des „Anderen“ des männlichen Logos führt vor allem in den Erzählungen und Romanen oft zum Tod der jeweils missbrauchten Frau. Im „Kalkwerk“ erschießt Konrad seine dahinsiechende Frau, deren körperlicher Verfall ihm auf unerträgliche Weise die Herrschaft der „weiblichen“ Natur über den „männlichen“ Geist vor Augen führt, nachdem er sie jahrelang als Objekt für seine wissenschaftlichen Experimente ausgenutzt hat. In „Korrektur“ versucht Roithamer das „Weibliche“ in Gestalt seiner Schwester zu überwinden, indem er sie, die ihm im Gegensatz zur Mutter liebevolle Anteilnahme schenkt, einerseits zum rettenden Engel verklärt, andererseits in dem gegen ihren Willen durchgeführten Kegelbauwerk gefangen und zu seiner Verfügung halten möchte. Die Verklärung des Weiblichen ins Engelhafte läuft auf die Negation der fleischlichen Realität der Frau als Symbol der Abhängigkeit von Natur und Körper und damit der Frau selbst hinaus. Roithamers Versuch, in der Person seiner Schwester die Natur „auszulöschen“ und sie in einem Monument vollkommener geistiger Schöpfungskraft einzumauern, endet konsequent mit dem Tod der geopferten Frau. In der Erzählung „Ja“ zerstört der depressive Ich-Erzähler ein zweites Mal die bereits von ihrem Mann zugrunde gerichtete Perserin, indem er sie als Gesprächspartnerin zu seiner eigenen Stabilisierung missbraucht und sie, als sie ihren Zweck erfüllt hat, in tiefster seelischer und körperlicher Verwahrlosung verlässt. Kurz danach begeht sie Selbstmord. Durch das Schreiben über seinen Umgang mit ihr bemächtigt sich der Erzähler ein neues Mal der nun Toten, indem er sie zum Objekt eines Werks macht, in dem er sich selbst als Subjekt und Autor setzt – und zwar als ihren Autor, der sie in seiner Schrift autoritativ festschreibt und sie damit endgültig besitzt.

Auf vergleichbare Weise wurde in „Holzfällen“ die „Bewegungskünstlerin“ Joana der Karriere ihres Mannes geopfert, dann schonungslos verlassen und dem Verderben preisgegeben. Auch sie verübte Selbstmord, wonach der Erzähler den Entschluss fasste, über die Wiener „künstlerischen Menschen“ zu schreiben, die Joana zugrunde gerichtet haben. Auch hier muss eine Frau sterben, damit die männliche Hauptfigur ihre Subjektivität behaupten und ihre Autorschaft befestigen kann.

In „Alte Meister“ macht der Musikphilosoph Reger seine Frau zum Objekt eines „aufklärerischen Erziehungsprogramms“ (Manfred Mittermayer) mit dem Ziel, sie seinen eigenen geistigen Bedürfnissen perfekt anzugleichen. Nur um den Preis ihrer unbedingten Verfügbarkeit konnte er seine Frau lieben – dies erkennt er jedoch erst, nachdem sie an der von ihm verlangten Selbstaufopferung gestorben ist. Indem der bernhardsche Protagonist direkt oder indirekt eine Frau in den Tod treibt, eliminiert er imaginär seine Abhängigkeit von Natur und Leib, Verletzlichkeit und Sterblichkeit. Erst dann kann er sich selbst als „Geistesmenschen“ und autonomes Ich setzen: Der Tod einer Frau ist die Voraussetzung für seine Selbstschöpfung als herrschaftliches männliches Subjekt.

Die Funktionalisierung des Weiblichen zum negativen Spiegelbild des Geistesmenschen, die Bernhards Werk mit gleichsam karikierender Deutlichkeit nachzeichnet, weist an sich bereits darauf hin, dass es sich bei den entworfenen Frauenfiguren um Verkörperungen von Männerphantasien handelt, mit denen die Männergestalten sich über ihre Ich-Schwäche hinwegzutäuschen bemühen. Nicht „reale“ Frauen werden vom Autor beschrieben, sondern Projektionen von Weiblichkeitsimagines, in denen sich soziokulturell bestimmte Kodierungen des Weiblichen artikulieren. Nach Judith Butler gibt es keine Geschlechtsidentität vor oder jenseits ihrer kulturellen Prägung. Der von ihr geprägte Begriff der Performativität weist zum einen darauf hin, dass „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ sich durch die Reproduktion gesellschaftlicher und kultureller Muster konstituieren. In diesem Sinne wiederholen auch Bernhards Männerfiguren in ihrem Denken, ihrer Sprache und ihrem Verhalten phallogozentrische Zuschreibungen an die Frauen und setzen sich selbst imaginär als männliche Subjekte in Opposition zum ausgegrenzten Weiblichen.

Zum anderen eröffnet der Begriff der Performativität jedoch gerade die Möglichkeit, durch Parodie, Maskerade, übertriebene und karikierende Reinszenierungen, aber auch durch gegengeschlechtliche Markierungen der Geschlechterrollen die Geschlechterdifferenz zu dekonstruieren und Gegenbilder zu den tradierten Weiblichkeits- und Männlichkeitsimagines zu entwerfen. Symptomatisch für die Verstörung der soziokulturellen Geschlechtsidentität bei Bernhard ist, dass spätestens seit „Ja“ die Geschlechtergrenzen in seinem Werk oft verwischt werden. Die Geschlechterrollen erweisen sich als austauschbar. Die „Gute“ in „Ein Fest für Boris“, die Mutter in dem Stück „Am Ziel“ praktizieren ihre Herrschaftsrituale sowohl an einem Mann als auch, wie sonst die männlichen Figuren, an einer ihr ausgelieferten Frau. Mag man hier die traditionelle Imago der allmächtigen „bösen“ Frau wieder erkennen, so wird doch einerseits die traditionelle Verteilung der Macht zwischen den Geschlechtern durchbrochen und zeigt sich andererseits ex negativo die Ohnmacht der Männergestalten, die sie sonst verdrängen und auf Frauen projizieren. Frauen können ebenso gut wie Männer „Täterinnen“ sein, der „männliche“ Geist vermag nicht oder nur zum Schein das „Weibliche“ zu besiegen.

Nicht selten erweist sich das „schwache“ Geschlecht als das vernünftigere und überlebensfähigere. Rudolfs Schwester aus dem Roman „Beton“, zwar eine Geschäftsfrau von horrender Geistfeindlichkeit, fungiert für den Bruder dennoch als „Lebensmensch“. Ihr Scharfblick, ihre Lebenstüchtigkeit, ihre wenn auch burschikose Bereitschaft, Rudolf aus seiner depressiven Stimmung herauszuhelfen, sind Beweise einer weiblichen Überlegenheit, die der Bruder nur ungern anerkennt. Andererseits erweist sich Geistesstärke bei Bernhard nicht als Privilegium des Mannes. Die Perserin aus „Ja“ ist ein sensibler philosophierender und musikalischer „Geh-, Denk- und Gesprächspartner“ von hohem Bildungsgrad und extremer Intelligenz, wie der Erzähler „ihn am allerwenigsten in einer Frau vermutet hätte“. Ein solcher Mensch war bereits auch Roithamers Schwester in „Korrektur“, allerdings zeigen beide Frauen die angeblich „naturgemäße“ körperliche und seelische Schwäche des weiblichen Geschlechts, die sie zu leichten Opfern der Männerfiguren macht. Anders in „Auslöschung“: In der Gestalt der Maria hat Bernhard Ingeborg Bachmann zu einem androgynen Wesen stilisiert, in dem „männliche“ Geistesschärfe und Willensstärke mit „weiblicher“ Hilfsbereitschaft vereinigt sind und dessen Überlegenheit er sich bedingungslos unterwirft. Der bewunderten „großen Dichterin“ hat der Autor dabei genug Souveränität und Autonomie gewährt, um sich ihrer Vereinnahmung durch die männliche Hauptfigur zu widersetzen: Murau stirbt, sie aber überlebt. Dem üblichen Bild des weiblichen Opfers männlicher Geistesstärke setzt Bernhard in der Gestalt Marias die von einer Frau verkörperte Möglichkeit souveräner Androgynie entgegen.

So lässt sich Bernhards Werk als verstörende Subversion und Reartikulation jener herrschenden Weiblichkeits- und Männlichkeitsimagines lesen, die die soziokulturell determinierte Wahrnehmung des eigenen und des anderen Geschlechts und die entsprechende Geschlechtsidentität bestimmen. Dadurch wird das monomanische Denken des Geistesmenschen wiederum als phallogozentrische Maskerade entlarvt, die zerstörerischen Auswirkungen des phallogozentrischen Denksystems aufgedeckt und dieses überhaupt in Frage gestellt.

Der Phallogozentrismus wird schließlich in Bernhards Sprache durch jenes Phänomen unterwandert, das Julia Kristeva den „Einbruch des Semiotischen in die symbolische Ordnung“ genannt hat. Gemeint sind bekanntlich alle vorrationalen, sinnlichen und affektiven Aspekte der Sprache, in welchen sich die präödipale Erfahrung der Einheit mit dem Körper der Mutter wieder aktualisiert und welche die symbolische Sprache des Vaters von innen heraus aufbrechen. Die von der Forschung und vom Autor selber immer wieder beschworene Musikalität von Bernhards Texten lässt sich auf die Artikulation solcher Triebenergien zurückführen, die eine „alternative Stimmigkeit zur diskursiven Kohärenz“ (Christian Klug) schafft: „Die Musik, hören Sie… die Sprache kommt auf die Musik zu, die Sprache hat keine Kraft mehr, die Musik zu hintergehen, sie muss gerade auf die Musik zugehen, die Sprache ist eine einzige Schwäche […].“ („Frost“)

An diesem Zitat zeigt sich ansatzweise die in der Bernhard-Forschung immer wieder heraufbeschworene, musikalische Schreibweise des Autors: Die refrainartige, spiralige Wiederkehr und Variation von oft kursiv gesetzten „Reizwörtern“, Klangspiele, Kombination, Kondensation und Verschiebung einzelner Ausdrücke, Brüche und Widersprüche endloser Sätze bilden in Bernhards Texten ein dezentriertes, rhythmisches Geflecht, in dem die Bewegung der Triebe die Allmacht der symbolischen Ordnung untergräbt und den differentiellen Signifikationsprozess in Gang hält. Lustvolle ‚weibliche‘ Anarchie dringt in die „schütteren Stellen“ („Gehen“) des Phallogozentrismus ein.

Anmerkung der Redaktion: Die Quellen des vorliegenden Beitrags sind folgende Aufsätze der Verfasserin

1. Wandern und Unterwandern phallogozentrischer Festschreibungen bei Thomas Bernhard. In: Hans Richard Brittnacher / Markus Klaue (Hg.). Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums. Köln Weimar Wien: Böhlau, 2008, S.213-227.

2. Der „Geistesmensch“ und die Frauen. Zur Parodie der Geschlechterrollen in Thomas Bernhards Theater. In: Manfred Mittermayer/Martin Huber (Hg.), Thomas Bernhard und das Theater. Christian Brandstätter Verlag 2009, S.71-75.

3. Weiblichkeitsimagines bei Thomas Bernhard. In: ide. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule. Insbruck/Wien/Bozen, 4/2005, S.51-59.