„Ein Schuss in den Kopf ist eine Möglichkeit“

Über einige Neuerscheinungen zu Thomas Bernhard

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Achtzig Jahre alt wäre Thomas Bernhard am 9. Februar geworden – und dieses Ereignis warf bereits früh seine Schatten voraus. Den Anfang machte im Frühjahr 2010 ein Nachdruck des erstmals 1969 im Residenz Verlag erschienenen Bandes „An der Baumgrenze“, der einst für eine erste Verstimmung in dem nicht immer einfachen Verhältnis Bernhards zu seinem Verleger Siegfried Unseld führte: „Bei dieser Gelegenheit muss ich sagen,“ so der Autor lapidar in seinem Brief an Unseld, „dass ich einem alten Freund, ,Phantastischer Realist‘ aus Wien, drei kurze Prosastücke […] für einen bibliophilen Band seiner Zeichnungen im Residenzverlag, gegeben habe, der, so hoffe ich, die geringste Beachtung finden wird, die er verdient“.

Dieses „Fremdgehen“ – das sich trotz gegenteiliger Beteuerungen noch einige Male wiederholte, etwa bei den fünf Bänden der Autobiografie 1975-1982 – diente sicherlich auch dazu, seinen bisweilen haltlosen Forderungen an Unseld Nachdruck zu verleihen, der, wie man dem Briefwechsel entnehmen kann, zu den absurdesten Aktionen bereit war, um einen seiner wichtigsten Autoren zu halten. So erscheint es beinahe als eine postume Versöhnungsgeste, dass der Band „An der Baumgrenze“ nun endlich in der von Bernhard überaus geschätzten Bibliothek Suhrkamp erhältlich ist.

Bernhards Behauptung, die drei Texte des Bandes hätten nur die „geringste Beachtung […] verdient“, erscheint dabei mehr als absurd, denn neben der hoch verdichteten, genau beobachtenden und die Stärken Bernhards demonstrierenden Titelgeschichte finden sich darin die beiden später als Filmerzählungen umgearbeiteten Texte „Der Kulterer“ und vor allem „Der Italiener“, eine Art Frühfassung von Teilen seines Romans „Auslöschung“. Also keineswegs eine Nebensächlichkeit. Die in dem Brief an Unseld als Anlass für die Publikation genannten Zeichnungen von Anton Lehmden – der auf dem Umschlag gar nicht genannt wurde – wirken da schon eher marginal, doch diese bilden einen eigentümlichen Kontrast, denn weder beziehen sich die Texte auf die Bilder, noch die Bilder auf die Texte. Dies tut der Parallelmontage der beiden Kunstwerke aber keinen Abbruch, sondern trägt gerade durch diese Brüche zum bibliophilen Reiz des Buches bei. Die Neuausgabe des Bands enthält über den ursprünglichen Inhalt hinaus auch noch ein knapp 15 Seiten umfassendes Nachwort zur Publikationsgeschichte und Entstehung der Erzählungen.

In der Filmedition des Suhrkamp Verlages ist nun neben den legendären Interviews mit Krista Fleischmann („Monologe auf Mallorca“) auch ein weitaus experimentelleres Projekt auf DVD erhältlich: Der 1971 erstmals im Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlte Film „Der Italiener“ und das im Jahr zuvor gesendete „Porträt“ „Drei Tage“. „Drei Tage“ ist ein wirklicher Monolog – der Autor sitzt auf einer weißen Bank im Garten eines Hauses in Hamburg und spricht, 52 Minuten lang.

Das Ganze wird äußerst karg inszeniert, man sieht Bernhard, die Bank und daneben einen Baum, nichts lenkt vom Hören der Ausführungen ab, die so eine umso größere Wirkung entfalten. Und so wie auf den Seiten eines Buches zuerst ein Wort, dann ein Satz aufleuchtet – wie Bernhard postuliert – so klingen auch die Sätze im Ohr, kontrastiert von den statischen Bildern. Der Regisseur Ferry Radax filmt aber nicht nur Bernhards Selbstinszenierung ab, sondern er gliedert mit Abblenden, spärlichen Zoomeinstellungen und ungewöhnlichen Bildausschnitten sein Material sehr behutsam, ohne sich in den Vordergrund zu spielen.

Wesentlich visueller hingegen wirkt da der ebenfalls von Radax inszenierte „Italiener“, zu dem Bernhard das Drehbuch geschrieben hatte und der jahrelang nur äußerst selten in den dritten Programmen zu sehen war. Bernhard und Radax verlassen sich hier zum größten Teil auf die Bilder, gesprochen wird in den knapp 75 Minuten nur sehr wenig. Die Aufnahmen verstören, die Farben sind blass, manchmal beinahe schwarzweiß, die Blickwinkel ungewohnt und die Einstellungen zuweilen äußerst lang. Doch die Bilder verstören nicht nur in ihrer technischen Ausgestaltung, sondern auch aufgrund der Handlungen, die sie darstellen. Der Betrachter sieht Nebensächliches, Details: Das Einschenken von Wasser, das Waschen des Toten, die umständliche Aufbahrung des Leichnams. Diese Details verdichten sich, müssen vom Rezipienten eingeordnet werden, um die Handlung zu verstehen, die sich der Eindeutigkeit verschließt. Doch der Film möchte auch auf eine ganz andere Art und Weise verstören, indem er die angebliche Opferrolle Österreichs im Nationalsozialismus kritisiert. Das blutige, im Detail gezeigte Schlachten einer Kuh, von Ministranten beobachtet, steht in Verbindung zum Gespräch des Italieners mit dem Sohn des Hauses, der diesen bei seinen Ausführungen zu Hegel unterbricht, um ihm zu erzählen, dass sich unter der Lichtung, auf der sie sich gerade befinden, ein Massengrab befände. Darin lägen polnische Soldaten, die im gläsernen Lusthaus von Schloss Wolfsegg an die Wand gestellt worden seien – das Lusthaus wurde zum blutigen Schlachthaus.

Ebenso wie das Schlachten der Tiere alltäglich ist, so war auch das Ermorden der Menschen vor 1945 an diesem paradigmatischen Schauplatz alltäglich, was man aber seither verschweigt. Die Täter wurden schnell wieder zum „normalen“ Bürger, zum Fleischhauer, zum Bauern, ohne dass sie jemand um die Vergangenheit kümmerte. Dieses Erkennen erkläre auch den Selbstmord des Schlossherren, „ein Schuss in den Kopf ist eine Möglichkeit“, so der letzte Satz der Erzählung und des Films. Insofern stellt der Film auch ein Experiment dar, Bernhards – sicher selbst nicht immer unproblematischen – Umgang mit der Rolle Österreichs während und nach dem Nationalsozialismus in einem anderen Medium zu thematisieren.

Die Archive des Suhrkamp Verlages scheinen darüber hinaus auch mit einigem, bislang noch nicht oder nur verstreut publizierten Material gut bestückt zu sein. Darunter ein Band, den Bernhard noch selbst geplant hatte, wie aus den Notizen eines Treffens mit Unseld im Januar 1985 hervorgeht. „Dann läge ihm doch sehr an einem Band ,Goethe schtirbt‘“, schreibt Unseld in seinem Reisebericht. Doch zu einer Realisierung sollte es nicht mehr kommen, zu sehr war Bernhard mit der „Auslöschung“ und den Problemen bei der Aufführung seines Stückes „Heldenplatz“ beschäftigt.

Gewissermaßen als postume Wunscherfüllung – Volker Weidermann erinnerte in der „FAZ“ nicht ohne Grund an das anderslautende, gleichwohl in den letzten Jahren konsequent aufgeweichte Testament Bernhards – versammelt der Band vier Erzählungen. Die Titelgeschichte, eine absurde Fantasie mit einigen äußerst gelungenen komischen Elementen, in der der sterbende Goethe sich ein Zusammentreffen mit Ludwig Wittgenstein wünscht, um mit diesem über dessen Werk „Das Zweifelnde und das Nichtzweifelnde“ zu sprechen, ist der Höhepunkt des Bandes. Die Erzählungen „Montaigne“ und „Wiedersehen“ variieren bekannte Motive wie das Verhältnis zu Österreich, zur Philosophie und die Beziehung zu den Eltern. Sie sind eher Fingerübungen als wirklich große Würfe. Und wer schon immer mal den ganzen Bernhard in einem Text angedeutet finden wollte, der sollte sich die gerade mal zehn Seiten lange Miniatur „In Flammen aufgegangen. Reisebericht an einen einstigen Freund“ vornehmen, die den Band beschließt. „Goethe schtirbt“ ist eine Gelegenheit, an „neue“, bislang nur schwer greifbare Texte Bernhards zu kommen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Weitaus mehr bietet ein weiteres Bändchen mit Texten aus dem Nachlass und dem schönen Titel „Der Wahrheit auf der Spur“. Das Buch versammelt über 70 Texte Bernhards, Beiträge aus Sammelbänden, Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Interviews und Leserbriefe des Autors. Eine Art Spurensuche ist es tatsächlich, denn man kann anhand dieser Fragmente mit Vergnügen auf die Suche nach dem vermeintlich „wahren“ Bernhard gehen, den verschlungenen Pfaden seiner Selbstinszenierung ein Stück folgen oder die Brüche darin bestaunen.

Denn konsistent ist diese nur bedingt. Da ist der sich als öffentlichkeitsscheu, seiner Umwelt gegenüber beinahe „feindlich“ eingestellte Einsiedler, der aber dennoch auf eine beachtliche Anzahl an Interviews verweisen kann, in denen er nicht selten mit diebischer Freude seine Interviewpartner an der Nase herumführt und auf die absurdesten Fragen auch gerne mal die absurdesten Antworten gibt. Da ist der große Österreichbeschimpfer, der sich über die Musil-Begeisterung des „Abonnementsbundeskanzlers“ und „Salzkammergut- und Walzertito“ Bruno Kreisky lustig macht, aber auch hymnische und beinahe pathetische Lobreden auf österreichische Literaten verfasst. Und er, dem es angeblich egal sei, was jemand über ihn schreibt, kann sich in unnachahmlicher Weise über Kritiken aufregen, die zu seinen Werken erscheinen: „Mein nächstes Buch“, so schreibt er empört in einem Brief an den „Spiegel“ vom 29. Mai 1967, „lassen Sie bitte gleich von einem natürlich auch in Oberösterreich geborenen oder ansässigen Schimpansen oder Maulaffen besprechen“.

„Der Wahrheit auf der Spur“ ist so ein wunderbares, kurzweiliges Buch geworden, das gerade aus seiner Uneinheitlichkeit, aus seiner Vielzahl unterschiedlicher Texte in den verschiedensten Genres, seinen Reiz zieht. Wäre man bösartig, so könnte man behaupten, der Verlag bediene sich mit dem Buch einer besonders perfiden Marketingstrategie, denn es ist auch ein veritables Appetithäppchen: Auf den im Herbst dieses Jahres erscheinenden 22. Band der Werkausgabe, der sich dem „öffentlichen Bernhard“ widmen wird und den man sich nach der Lektüre von „Der Wahrheit auf der Spur“ definitiv auch noch zulegen wird.

Titelbild

Thomas Bernhard / Siegfried Unseld: Der Briefwechsel.
Herausgegeben von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
869 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419700

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thomas Bernhard: An der Baumgrenze. Erzählungen.
Mit Zeichnungen von Anton Lehmden und einem Nachwort von Raimund Fellinger.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
105 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783518224533

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ferry Radax: Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard.
DVD.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518135181

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thomas Bernhard: Der Wahrheit auf der Spur.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
346 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422144

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Titelbild

Thomas Bernhard: Goethe schtirbt. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
98 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421703

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