Wittgenstein zu Gast bei der RAF

Sarah Colvin liest Ulrike Meinhofs Texte und sucht die Wurzeln terroristischer Gewalt in der Sprache

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erstmals widmet sich eine englischsprachige Monografie der deutschen Journalistin und Terroristin Ulrike Meinhof. Dabei ist das Buch Sarah Colvins, Lehrstuhlinhaberin an der Universität Edinburgh, nicht biografisch angelegt, sondern zielt auf eine Untersuchung der Sprache als demjenigen Kommunikationsmedium, das die Rote Armee Fraktion mit ihrem Gegner, dem westdeutschen Staat, teilte. Es ist also der Terror als kommunikative, als sprachliche Strategie, den Colvin untersucht.

Es bietet sich an, von Meinhofs für die Zeitschrift „Konkret“ in den 1960er-Jahren verfassten journalistischen Texten auszugehen und diese mit den Manifesten, den Bekennerschreiben, aber auch den RAF-internen Zirkularen in Beziehung zu setzen, denen Meinhof bis zu ihrem Selbstmord 1976 ihren Stempel aufgedrückt hat.

Colvin distanziert sich wohltuend von den alten Legenden um Ulrike Meinhof, sie konnte allerdings die jüngere Forschung und Biografik, etwa Jutta Ditfurths Biografie, für ihre eigene Arbeit gewinnbringend heranziehen. Ungewöhnlich ist, dass die Verfasserin auch Archivstudien betrieb und folglich mittels der auszugsweisen Publikation von Texten aus Meinhofs Nachlass auch substanziell Neues zu der nach wie vor aktuellen Diskussion um die RAF beitragen kann.

Ulrike Meinhof, so eine zentrale These des Buches, hat sich selbst und ihren Genossen eine kollektive Identität erschrieben, indem sie die Gepflogenheiten journalistischer Sprache zum Demagogischen hin überschritt. So nutzt sie für ihre Schlussfolgerungen immer wieder Prämissen, die für sie wie selbstverständlich zutreffen, die aber einer Überprüfung nicht standhalten. Immer wieder vergleicht sie kurzerhand die Gegenwart mit der NS-Zeit, sind für sie Auschwitz und Vietnam eins. Noch ehe sie in den Untergrund ging, rechtfertigte sie in ihren Texten Gewalt gegen Menschen, nicht nur – wie viele Vertreter der Studentenbewegung – Gewalt gegen Sachen. Es war also zuallererst eine Rhetorik des Kampfes, die das spätere, von der erhofften Revolution bekanntlich weit entfernte Handeln der RAF präfigurierte. In ihren eigenen Worten wechselte Meinhof schon 1968 „vom Protest zum Widerstand“. Sie war und blieb die ‚Stimme‘ der RAF, sie ist für deren Sprache des Hasses und der Gewalt verantwortlich.

Colvin ist nicht die Erste, die die Selbstbezüglichkeit der RAF moniert. Spätestens von Mitte 1972 an, als alle wichtigen Mitglieder der ersten Generation in Haft sind, kreisen die Aktivitäten der in Freiheit lebenden Epigonen wie auch das Schreiben der Inhaftierten um deren Befreiung. Colvin zeigt, wie Meinhofs Texte auch hier Zitierautoritäten nur ins Spiel bringen, um zu „beweisen“, dass man selbst immer schon recht hat. O-Ton Meinhof: „lenin ist gut, weil er dasselbe sagt wie die raf – und deswegen ist er auch ne autorität für uns“. Dies mag ein allzu isoliertes Zitat sein (und in Andreas Baaders Zelle fanden sich ja nach seinem Tod immerhin 975 Bücher) – doch nach profunder, intellektuell angemessener Auseinandersetzung mit den politischen Klassikern klingt dies nachgerade nicht. Auch die äußerste Linke – dies arbeitet das Buch anhand zahlreicher Belege heraus – konnte sich nicht mit der RAF identifizieren, allzu offenkundig erwiesen sich deren Aktivisten als ‚nützliche Idioten‘ des Staates.

Mit Texten wie „Die Rote Armee Fraktion aufbauen“, die sich unter anderem in ihrer Hinwendung zu einem möglichst breiten Leserkreis an den Schreibstrategien der Avantgarden orientieren, ist endgültig Meinhofs Wechsel in einen revolutionären Ton und damit in untere Sprachregister erreicht – auch grammatikalische Konventionen werden nun einfach zurückgewiesen. Die Rechtfertigung von Gewalt mag nun vor allem mit der Erfolglosigkeit von Meinhofs Appellen an die Bevölkerung erklärt werden – die Bereitschaft zum gewaltsamen „Widerstand“ war um 1968 längst gegeben, insbesondere war sie in Meinhofs Texten angelegt, wie Colvin präzise zeigen kann.

Die späteren Texte der RAF sind nicht mehr Manifeste und Grundsatzerklärungen, sondern kaskadenhafte Beschuldigungen, Bekenntnisse, Bekennerschreiben. Der Einsatz rhetorischer Mittel im Stil der Demagogie wird verschärft. Hinzu kommen verkürzende Verfälschungen, die die Sympathisanten endgültig auf die Seite der RAF ziehen sollen – namentlich der unselige Vietnam-Auschwitz-Vergleich oder vielmehr die platte Identifikation des einen mit dem anderen: „Das ist Genozid, Völkermord, das wäre die ‚Endlösung‘, das ist Auschwitz.“ Natürlich kann jetzt nicht nur geschossen werden, sondern es werden auch Polizisten als „Schweine“, amerikanische Soldaten als „Monster“ beschimpft. Man muss nur die in „Konkret“ veröffentlichten Artikel über die Terrorgruppe der einstigen Chefredakteurin lesen, um zu verstehen, dass die Faschismus-Keule nun auch die RAF selbst treffen muss, die, so der linke SPD-Politiker Jochen Steffen, „die Kräfte eines modernen Faschismus“ fördere. Kaum erstaunlich: die Faschisten sind immer die anderen, der jeweilige Gegner, zugleich derjenige, der „Terror“ ausübt. Auch hier ist der „Konkret“-Autorin Meinhof mit anzulasten, dass im 68er-Diskurs ganz einfach behauptet werden konnte, der neue Faschismus gehe von der BRD, von USA und von Israel aus – die ‚neuen‘ Juden seien die Palästinenser, das ‚neue‘ Auschwitz liege in Vietnam.

Doch zeigt das Buch auch, dass der Staat auf die rhetorische Kriegführung der RAF mit gleichen Mitteln reagierte – also nicht sachlich-besonnen, sondern polemisch und polarisierend. Der lange Zeit gepflegte offiziöse Sprachgebrauch „Baader-Meinhof-Bande“ zeugt davon, aber auch offene und verdeckte Zitate in Politikerreden.

Auch in Stammheim hat Meinhof weiter geschrieben; viele der nachträglich aufgefundenen Kassiber und Zirkulare sind längst publiziert. In der Isolationshaft diagnostizierte sie bei sich selbst Sprachverlust – keine Spur von politischem Kampf mehr in Sätzen wie den berühmt gewordenen: „das gefühl, es explodiert einem der kopf (das gefühl, die schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen) – … satzbau, grammatik, syntax – nicht mehr zu kontrollieren“. Sprach- und Identitätsverlust durch das in Isolationshaft verordnete Schweigen war im Kampf des Staates gegen die ihn bedrohende Terroristen die vielleicht schärfste Waffe – ein Sprach-Krieg. Aggressivität und zugleich doch der Gestus des Antiautoritären zeichnet die syntaktisch reduzierten, stilistisch mehr als schlichten und semantisch vielfach absolut skandalösen Minibriefe aus. O-Ton Meinhof im Herbst 1974: „Unsere Isolation jetzt und das Konzentrationslager demnächst…Vernichtungslager…die ‚Endlösung‘. So siehts aus“. Kaum zu glauben, dass Meinhof mit diesen und ähnlichen Sätzen nach einer neuen Sprache sucht, die sich ihrer Meinung nach nicht als Ware im kapitalistischen System feilbietet. Dabei ist die Suche nach einer revolutionären und damit auch: die Revolution auslösenden Sprache nichts Neues – die Avantgarden, als deren Enkel sich die Aktivisten der RAF sehen, träumten bereit davon.

Colvin sucht die Kontinuität in Ulrike Meinhofs Schreiben (und Leben) zu ergründen und sieht den Reiz für die Terroristin am Kampf bis in den Tod hinein in der Geborgenheit und Wärme, die das Kollektiv der Außenseiterin gab. Auf dem Weg von einem kleinen Grüppchen politischer Hardliner zu den Propheten einer revolutionären Gesellschaft, also ebenfalls von Außenseitern zu einem sozialen Zentrum, sah sich die RAF auch insgesamt. Das gelebte „Konzept Stadtguerilla“ (so der Titel eines frühen RAF-Manifests) bot also eher Stoff für Identitätsfindung als für erfolgreiche politische Aktion.

Nichts bleibt in Colvins Buch von der Legende des bis zum Schluss währenden und Meinhofs Suizid (mit)auslösenden ‚Zickenkrieges‘ mit Gudrun Ensslin. Datierbare Dokumente zeigen vielmehr, dass am Ende die Streitigkeiten beigelegt waren, Meinhofs schriftliche Selbstanklagen hingegen nicht abrissen.

Dass in der RAF sprachphilosophische Reflexion angesagt war, belegt Colvin mit einem Zitat aus dem Polizeibericht, der anlässlich von Ulrike Meinhofs Tod entstand. Trotz der Unordnung auf Meinhofs Schreibtisch ließ sich doch ein aufgeschlagenes Buch finden, wohl das letzte, in dem sie las: Ludwig Wittgensteins „Philosophische Grammatik“.

Zwar sind die Befunde von Colvins Buch nicht ganz neu, richtet es sich als Gesamtdarstellung der RAF aus textwissenschaftlicher Sicht an ein englischsprachiges Fachpublikum, das mit der westdeutschen Variante des Nach-68er-Terrorismus nicht oder kaum vertraut ist. Dennoch hat man auch in deutscher Sprache noch nicht in diesem Maß Ulrike Meinhof als Autorin kennengelernt, hat man noch nie im Detail die sprachlichen Kniffe und die inhaltlichen Zumutungen ihrer Texte so genau nachprüfen können, hat man den ‚Krieg‘ zwischen der RAF und dem Staat noch nicht in diesem Ausmaß als rhetorischen Krieg, mit psychischen und mit physischen Folgen, zu verstehen gelernt. Viele Texte aus der Zeit der Haft werden aus dem Nachlass erstmals dokumentiert.

Allerdings kann sich das Buch nicht recht entscheiden, ob es den Werdegang Meinhofs, die Politik der RAF oder etwa gar die politische Sprache nach 1968 untersuchen möchte. Von allem ist etwas da, für eine systematische Studie ist das vorliegende Buch zu selektiv, um dann doch die Perspektive bei weitem nicht nur auf Meinhof zu beschränken.

Überzeugend sind die Nüchternheit und Distanziertheit eines Buches, das auf eine Relektüre altbekannter und bislang unveröffentlichter Texte setzt, das auf seine Weise dazu beiträgt, die RAF Geschichte werden zu lassen. Eine weniger stark von Emotionen gezeichnete Auseinandersetzung täte nämlich not.

Titelbild

Sarah Colvin: Ulrike Meinhof and West German Terrorism. Language, Violence, and Identity.
Camden House, Suffolk 2009.
265 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9781571134158

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