Zwischen Anfang und Ende nur Langeweile?

Nach beinahe 20 Jahren dichterischer Pause ist Friederike Roths Lyrikband „Abendlandnovelle“ erschienen

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lebenszeit ist relativ: „Dabei war alles so schnell geworden / die Zukunft wurde so schnell Gegenwart / dass kaum bemerkbar wurde / wie Zukunft längst schon Vergangenheit war.“ So hat es auch einige Jahre gedauert, bis Friederike Roth nach „Tollkirschenhochzeit“, „Schieres Glück“ und „Wiese und Macht“ einen neuen Gedichtband veröffentlicht hat. Statt einer Sammlung vieler kleiner lyrischer Texte ist dieser vielmehr ein einziges, langes Gedicht. Wo man Reim, Strophenbau und andere klassisch lyrische Gestaltungsmittel erwarten könnte, zeigen sich Anklänge von Prosa und ein fast essayistischer Ton. In dem 2010 im Suhrkamp Verlag erschienenen Band erklingt eine andere, eine neue Stimme. Roth lässt die Dichtung ihrer früheren Publikationen hinter sich und geht weiter. Sie fängt neu an.

Die Dichterin, Dramatikerin und Hörspieldramaturgin hat einen Lyrikband verfasst, der thematisch zwischen den Polen des Anfangs und des Endes oszilliert. Dementsprechend teilt er sich in drei Teile: Der erste trägt den kindlich anmutenden, aufgeregten Titel „Anfangen endlich“ und der dritte Teil den melancholischen „Am Ende. Kein Anfang“. Aber was ist denn dazwischen? Was geschieht in einem Leben zwischen Anfang und Ende? Roths Antwort ist ernüchternd: „Unerhörte Begebenheiten? Wiederholungen nur.“ Ganz im Gegensatz zu Johann Wolfgang Goethes Gattungsbestimmung der Novelle gibt die Autorin vor, dass der Mittelteil ihres Bandes keine Überraschungen für den Leser bereit halte – die liegen scheinbar nur im Anfang und im Ende.

Roths Band ist ein Blick zurück in die Vergangenheit und ein Blick nach vorn in die Zukunft. Als sie im ersten Teil des Bandes „endlich anfängt“, erzählt die Sprecherin, einem Erinnerungsmonolog gleich, von ihrer ersten Liebe: „Rosenrot unterm Weißdornschleier / von der so samtweich so zarten / ersten so leichten Liebe verführt.“ So klassisch hier die Verbindung der Naturmotive mit Roths verklärend anmutender Liebesdichtung erscheint, so schnell kann der Ton der Sprecherin in beinahe sozialkritische Worte umschlagen: „Alles Heil dieser Welt / verklammert mit allem Unheil / durch das doppelgesichtige, an Liebe wie festgeklettete Treuegebot. / Treue zu was, zu wem und warum? / Einer geliebten Schimäre? Mutter und Vater? / Eltern und Kind? Mann und Frau? / Führer Volk Vaterland?“ In ähnlich vorwurfsvollem Ton reflektiert sie über das von Menschen geschaffene Ende der Welt, das in seiner Entwicklung erst am Anfang stehe. Der Leser wird mit den ernüchternden Fakten der Realität konfrontiert: Über die mit der Umweltzerstörung einhergehenden „klimatologischen Episoden“, „hydrologischen Vorgänge“ und „meterologischen Vorkommnisse“ wie Dürre, Überschwemmungen und Stürmen klagt die Sprecherin, dass ihnen die Wissenschaft nur mit analytischen Interesse begegnet und das einzige konkrete Mittel um der Naturzerstörung entgegenzutreten sei, ihren Anfang zu „verzögern“.

„Es geschieht wirklich nichts. / Etwas fängt an. / Dann wiederholt es sich. / Dann hört es auf.“ Der „großen Langeweile“ der Wiederholungen zwischen Anfang und Ende widmet sich Roth im Mittelteil ihres Gedichtbandes. Für die desillusionierte Sprecherin gibt es in dieser Zwischenzeit keine Wünsche und Ziele. Zwischen Anfang und Ende gibt es nichts Erstrebenswertes, sondern nur die langweilige Wiederholung dessen, was einmal neu und einzigartig war, als es zum ersten Mal versucht worden war. Erneut klingt eine Erkenntnis- und Wissenskritik an, als die Sprecherin fragt: „Wissensinteresse? Erweiterung / der Erfahrungshorizonte? Wir tun / als ob wir Wunder was Neues / erfahren könnten von der Windschnittigkeit / der Dinge, die durch die Luft fliegen etwa.“ Wahre Erkenntnis ist in diesem Zustand der Trägheit unmöglich. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion verschwimmen. Die Welt des Theaters wird beneidenswert, denn hier ist mehr Authentizität zu erwarten als im trivialen Alltag. Im Theater nämlich gäbe es für die Näherinnen, Kinder- und Saubermachfrauen tatsächlich „Prinzen, Kanapees / und die animiert durchgelächelten Untergänge nicht nur der Sonne.“ Nicht ohne Ironie moniert die Sprecherin, dass es im wahren Leben bloß Kunstpelz für die Männer gebe, wo sie im Theater „wirkungsberechnet“ mit echtem Nerz ausgestattet würden. Die Bühne kann in der Langeweile und Ziellosigkeit noch Bedeutung und Sinn schaffen. Sie zeigt etwas, das ernst zu nehmen ist. Das Leben selbst hat nichts Sehenswertes zu bieten. Die Kunst, sowohl Theater als auch Oper, die die Sprecherin ausgiebig lobt, ist intentional und damit sinnvoll – ganz anders als das Lebens selbst: „In der Oper zieht das Schicksal die Fäden. / Lästig chaotische Alltagszufälligkeiten / die Vergesslichkeiten, die Unzulänglichkeiten des Lebens / schimmern auf in der Oper / als kunstvoll verwobenes / immer schon vorher bestimmtes Beziehungsgeflecht.“

Passend zu diesem Verdruss über die Alltagswirklichkeit werden sprachliche Hässlichkeiten vorgeführt. Die Autorin zeigt ein sprachliches Variationsvermögen, das sich nicht vor Vulgärsprache, Anglizismen, Techniksprache und den sprachlichen Eigenheiten sozialer Milieus verschließt. „Soll ich dir einen Witz schnell erzählen? / Fragt also die Tochter der Nutte: / Mama, sag: / Ist Liebe machen auch Arbeit?“

So erscheint ins Besondere der Mittelteil des Bandes zuweilen als ein Konglomerat verschiedener Diskurse und Sprechweisen, und manche muten fremd und sogar abstoßend an. Zugleich stehen sie der schönen, verklärten und weltabgewandten Sprache anderer Episoden der „Abendlandnovelle“ gegenüber. Dadurch entsteht ein verstörendes Nebeneinander verschiedener Stilebenen, das nur durch die das immer wiederkehrende Topos von Anfang und Ende zusammengehalten wird. Sinnentleerte Worte aus Werbung, Medien und Technik, die – ganz im Sinne der Kritischen Theorie – für das Subjekt keine Erfahrungswirklichkeit mehr abbilden können, dienen bloß noch der Repräsentation des eigenen Habitus.

So erdenkt sich die Autorin einen „Herren“ (vielleicht ist es Gott?), der in seinem Sommerhaus am griechischen Meer über den Untergang des Abendlandes nachdenkt und sich die Welt ausmalt, wie sie anschließend neu gestaltet werden müsste: „Handyklingeltöne und Presslufttürengezische / High-Heels-Geklapper und Erkennungsmelodien / Staubsauger- und Rasenmähergeräusche / sind eindeutig verboten. […] Raumsprays und Duftkerzen / Lachskanapees und Meerrettichhäubchen / müssen mit dem Abendlanduntergang / endgültig dran glauben.“ Das von Medien, Lifestyle und Konsum geprägte Alltagsleben erscheint hier als wertloses Zwischengeplänkel und ist dem Untergang geweiht.

Am Ende, im dritten Teil des Gedichtbandes, lässt die Sprecherin die Platitüden des Abendlandes hinter sich und äußert einen Wunsch, der womöglich auch dem Leser im Laufe der Lektüre gekommen ist. Nach der eindringlichen Sprachkritik im Mittelteil sucht sie nach der Originalität der Sprache: nach einem Satz, der „noch niemals so gesagt“ und gedacht worden wäre und einer Wortfolge, die immer für jeden „erinnerbar“ bleiben würde. Sie benennt schließlich die Sehnsucht nach einem authentischen Sprechen, das eigene Gedanken wiedergibt und nicht bloß platte Wortfolge ist.

Letztendlich findet die Autorin in der Auseinandersetzung mit dem Tod tatsächlich schöne, eigene Worte für das, was in dessen Angesicht bleibt: „Am Ende des Korridors / nach jahrelangen Grabungen: Ein Grabschatz. / Ein ungeplündertes Königsgrab. / Die unberaubte Köngisgruft. / Eine Lebensaufgabe: / Intakte Grabkammern finden. / Gold, Keramik, Alabaster. / Und Sarkophage aus schwarzem Basalt.“ Die Suche nach Authentizität, nach etwas Eigenem, Wertvollem und Unverbrauchtem erklärt die Sprecherin zum eigentlichen Lebenssinn.

Man könnte an dem Gedichtband aussetzen, dass er hin und wieder zu wirklichkeitsnah wird, dass er zu viel Gegenständliches und Banales anspricht. Gehört der Alltag und die Alltagssprache in die Kunst? Wäre es nicht schöner, mit Hilfe der Literatur ein sprachliches Gegenstück zu den Hässlichkeiten moderner Kommunikation zu schaffen? Womöglich sollte die Trivialität des Alltags mit seiner Langeweile und Bedeutungslosigkeit in Roths Kunstwerk nicht so viel Platz einnehmen. Allerdings kann der Bedeutungslosigkeit vielleicht am besten begegnet werden, wenn man ihr Bedeutung beimisst und sie nicht ausspart.

Titelbild

Friederike Roth: Abendlandnovelle.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
102 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421765

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